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Jan Reichow (Köln)


Netzwerk einer anderen Ästhetik
50 Punkte für Alfons Michael Dauer

  1. Es ist gängiger Kabarettbrauch, mühsam am Schreibtisch errungene Gedanken (oder sogar von einem "Kreativteam" zusammengestellte Gags) dem Publikum als spontane Einfälle zu verkaufen.
    Es ist auch bekannt, daß geniale musikalische Improvisatoren durchaus von vorgefertigten Modellen zehren, von erprobten Assoziationen, bewährten Steigerungen, rhythmischen Stützen, Fertigteilen, Stilvorlagen, Übungen, Erfahrungen.
    Man arbeitet und betont immer wieder mit Bedacht, daß Arbeit nicht schändet.
    Warum erscheint es uns dennoch attraktiver, das klingende Ergebnis als spontan gelingend darzustellen statt als mühsam erarbeitet?
    Aus einem ähnlichen Grund, wie man jede artistische Leistung höher einschätzt, wenn sie spielerisch wirkt: der Akrobat zeigt nicht nur, was er kann, sondern auch, daß er weit mehr könnte, wenn er wollte, - denn offensichtlich verfügt er noch über Reserven.
    Man sieht ihn weder schwitzen noch das Gesicht verzerren (was ein Athlet darf, der ja kein Artist ist und letztlich nur ein Ergebnis vorweisen muß), er wirkt entspannt und lächelt bei den unglaublichsten Kunststücken.
    "Lächeln!": Ansumana Bangura, Musiker aus Sierra Leone (WDR-Workshop 12.11.94), ruft es immer wieder seinen Trommelschülern zu, denn er weiß, daß die Power, die ein Trommler ausstrahlt, nicht in furchterregender Mimik, einzelnen Kraftakten und hitzigen Anwandlungen liegt, sondern in "Coolness" und Unermüdlichkeit.

  2. "An seinem Clavecin soll man eine gefällige Miene zur Schau tragen. Man hefte den Blick nicht starr auf einen bestimmten Gegenstand, schicke ihn aber auch nicht allzusehr ins Leere: endlich - man blicke eine Gesellschaft, so eine vorhanden ist, an, als ob man gar nicht anderweitig beschäftigt wäre.
    Dieser Rat ist natürlich nur für die bestimmt, die ohne Hilfe ihrer Noten spielen."
    (Fr. Couperin 1717, S.11)

  3. Ein Prinzip der Ästhetik, das man höfisch-höflich nennen könnte, wurde von Nietzsche mit dem Segen der Natur versehen, als er die Leichtigkeit Bizets gegen die Wagnerische Schwere ausspielte:
    "Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie  s c h w i t z t  nicht. 'Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen': erster Satz meiner Ästhetik." [...] "Diese Musik ist heiter; aber nicht von einer französischen oder deutschen Heiterkeit. Ihre Heiterkeit ist afrikanisch; sie hat das Verhängnis über sich, ihr Glück ist kurz, plötzlich, ohne Pardon. Ich beneide Bizet darum, daß er den Mut zu dieser Sensibilität gehabt hat, die in der gebildeten Musik Europas bisher noch keine Sprache hatte, - zu dieser südlicheren, bräuneren, verbrannteren Sensibilität....Wie die gelben Nachmittage ihres Glücks uns wohltun! Wir blicken dabei hinaus: sahen wir je das Meer  g l ä t t e r ?"
    (Nietzsche 1888, aus §1 und 2)

  4. Schrift und Herrschaft
    Peter Schleuning führt aus, wie die Notenschrift und mit ihr die europäische Kunstmusik als Herrschaftsmittel erfunden worden sei:
    "Die Kunstmusik begann als lehrbare Anweisung einer einheitlichen Kirchenmusik. Die mehrstimmige Kunstmusik, Seitenstück zur Choral- und Schriftreform im karolingischen Reich, entstand als Mittel der 'Befriedung', d.h. Unterwerfung germanischer und anderer Völker unter dem Zeichen des Christentums. Wie auch in anderen Fällen wurden (hier in der Musik) Schrift und Theorie erfunden und angewendet, um von einem Machtzentrum aus in ein Reich, das viel zu groß war für mündliche Mitteilungen und viel zu hierarchisch geordnet für die Entwicklung selbständiger Zentren, klare, einheitliche Befehle zu entsenden, die zentral gesteuert und deren Ausführung auch zentral kontrolliert werden konnte. Die Kunstmusik entstand als Waffe des kulturellen Reichs-Imperialismus."
    (Schleuning 1984 S.23)
    Die Etablierung der Notenschrift hatte eine scheinbar von ihrem verwaltungs-technischen Sinn unabhängige Konsequenz: die musikalische Initiative und Executive war ab sofort einzelnen speziell vorgebildeten Menschen überantwortet: "Die Bevölkerung war von dieser Art des Musikmachens ausgeschlossen. Sie hörte zu."
    (Schleuning a.a.O.)
    "Unter den Kirchen-, d.h. den Kunstmusikspezialisten begann eine rapide Beschleunigung des musikalischen Erneuerungs- und Lernprozesses, da diese Entwicklung der volkmusikalischen Basis entzogen war. Während die Volksmusik ihre behäbige, allen zugängliche Neuerungsgeschwindigkeit beibehielt, heulte der Motor der Kunstmusikneuerungen, völlig isoliert, immer höher auf. Und je mehr die Reichseinheit zerfiel, desto geringer wurde auch der Anspruch auf kirchliche Allgemeinverbindlichkeit der Neuerungen. Nur noch einige Zentren korrespondierten miteinander, trieben die Entwicklung voran; Schulen bildeten sich, spezialisierten sich, unkontrollierbar von der Bevölkerung, geschützt von der kirchlichen Allmacht, korrigiert nur von Zeit zu Zeit von einer päpstlichen 'Bulle', wenn die Kluft zwischen Bevölkerung und Kunst so weit getrieben war, daß auch die Kirchenobrigkeit in Zweifel kam, ob sie eher auf der Seite der Kunst oder der des Volkes stehen sollte."
    (Schleuning a.a.O.)
    Alfons M. Dauer hat ausführlich dargelegt, wie die herrschende Schicht der Gesellschaft die ihr zugehörige Musik nicht nur als einzig repräsentativ behandelt, sondern zugleich alles, was anders ist, stigmatisiert: "...die Musik der anderen Schichten oder Segmente wird abgewertet, auf die Seite geschoben - verdrängt.
    Schließlich entstehen auf gleichem Boden zwei Welten von Musik:
    eine vordergründig präsente, bevorzugte, idealisierte Musik der herrschenden Schichten, und eine weniger wertgeschätzte, im Hintergrund gehaltene, verdrängte Musik der beherrschten Schichten. In unserem Sprachgebrauch kaschiert die euphemistische Bezeichnung 'Volksmusik' diesen Tatbestand in ebenso notdürftiger wie hilfloser Weise." (Dauer 1993, S.44)

  5. Die herrschende Gesellschaft hat zwar die Macht, die musikalischen Aktivitäten der beherrschten Schichten als minderwertig zu stigmatisieren; sie kann aber nicht verhindern, daß von dort unbeirrt vitale Impulse ausgehen, die zumindest von Künstlern bisweilen wahrgenommen werden.
    Die professionellen Musiker, die sich ohnehin gern das Privileg geringerer Anpassung herausnehmen und sozusagen von Berufs wegen eine letztlich unreglementierbare musikalische Empfindlichkeit ausbilden, neigen dazu, gerade jene Grenzlinien zu ignorieren, die von der herrschenden Schicht zwischen den beiden Welten gezogen werden.
    Das gilt z.B. für den jungen Capellmeister Georg Philipp Telemann: um 17o5 hatte er bereits einen wachen Sinn für den Bedarf des europäischen Marktes entwickelt und sich soeben die höfische französische Schreibart angeeignet, da lernte er in Krakau die "polnische und hanakische Musik in ihrer wahren barbarischen Schönheit kennen.[...] Man sollte kaum glauben, was dergleichen Bockpfeiffer oder Geiger für wunderbare Einfälle haben, wenn sie, so offt die Tantzenden ruhen, fantaisieren. Ein Aufmerckender könnte von ihnen, in 8.Tagen, Gedancken für ein gantzes Leben erschnappen. Gnug, in dieser Musik steckt überaus viel gutes; wenn gehörig damit umgegangen wird." (Telemann, 1985 S.202)
    Aber gerade in diesem Umgang mit "wunderbaren Einfällen" steckt 100 Jahre nach Telemann, der an kleine Formen dachte, das Hauptproblem: aus "Gedancken" allein wird das Kunstwerk nicht gebaut, das im bürgerlichen Konzert Bewunderung finden soll, und die Methode der Volksmusik, musikalische Zeit - wie Tages- und Jahreszeiten - durch Wiederholung, Abwandlung und Vertiefung geduldig oder begeistert auszufüllen, bleibt im städtischen Konzertsaal ohne beflügelnde Wirkung.
    Das Problem der großen Form blieb hier niemandem erspart und zeigte sich um so deutlicher, wenn die Komponisten auf einer gewissermaßen geographisch faßbaren Grenzlinie zwischen zwei Welten lebten und beide Seiten in ihrer Essenz zu schätzen wußten, wie Mussorgskij, Janacek und Szymanowski.
    Antonin Dvorák, der sich - aus heutiger Sicht - scheinbar problemlos auf der Grenzlinie zwischen seiner volksmusikalischen Heimat und dem bürgerlichen Konzertleben einrichtete, hatte sich in Wahrheit erst mühsam an Brahms (später auch an Wagner), an den Wünschen seines Verlegers (also am Markt) und an einer Art imaginärer Folklore orientieren müssen.
    Es ist allerdings auch nicht zu übersehen, daß das Musikleben der aufsteigenden bürgerlichen Schichten sich durchaus naturwüchsig verhielt; der edle Geist jener Musik, durch den die Menschen sich gewissermaßen offiziell repräsentiert sehen wollten, ließ sich nicht leicht auf die Schaubühne zwingen.
    Mitten im frühen Konzertritual akzeptierte man schmunzelnd die sonderbarsten Relikte dessen, was man an der Volksmusik verachtete. Im Konzert am 23. Dezember 1806, als der Geiger Franz Klement das später heiliggesprochene Violinkonzert von Beethoven praktisch vom Blatt spielte, wollte er darüberhinaus tatsächlich - laut Programmzettel - "auf der Violine phantasiren und auch eine Sonate auf einer einzigen Saite mit umgekehrter Violin spielen". (Kolneder 1978, S.399)
    Hat Beethoven applaudiert?

  6. In der westlichen Welt gilt es als selbstverständlich, daß Musik mit hohem Prestige auch "schwer" ist und die Anstrengung ihrer Hervorbringung auch demonstriert wissen will. Diese Haltung kommt aus einer zutiefst protestantischen Ethik (Max Weber). Man zeigt seinen Ernst, indem man nichts leicht nimmt; dem Publikum, Gott und der Welt muß bewiesen werden, daß man bereit ist, sich nicht zu schonen; Gewinn nicht für sich selbst sucht, sondern für das Unternehmen, den Auftraggeber, die Sache selbst.
    Wenn ich meinem Großvater bei der Erntearbeit half, hätte ich nicht pfeifen dürfen; denn damit wäre deutlich geworden, daß ich mich nicht mit stetem Blick auf die Sache einzusetzen gedenke. Im selbstvergessenen Pfeifen ebenso wie im Lächeln zeigt sich eine Form der Zufriedenheit, der Übereinstimmung mit sich selbst, die für unzulässig erklärt wird, weil sie möglicherweise nicht produktiv ist.
    "Euch wird das Lachen schon noch vergehen!" sagen Leute, die im Gedanken an das Jüngste Gericht den Ernst des Lebens glauben begriffen zu haben und als Drohung weiterzugeben trachten.
    Gewiß gibt es auch Kräfte, die ohne besondere Anspannung eingesetzt werden können. Allerdings verfügt man mit Leichtigkeit lediglich über das, was man ohnehin besitzt. Erst wirkliche Arbeit bringt Mehrwert und Zugewinn, und nur durch wahrnehmbare Arbeit vermag man zu suggerieren, daß Neues hinzuerworben wird.
    Eine Kultur, die prinzipiell auf das Neue setzt, kann sich das Dauerlächeln nicht leisten, wie natürlich es auch immer wirkt.
    Sie kann allenfalls als Zusatzleistung verlangen, daß die Spuren der Anstrengung getilgt werden.
    Einerseits signalisiert das solchermaßen geglättete Werk dem Publikum eine verlockend arbeitsfreie Zone, andererseits wird an Ort und Stelle ein noch höher geschraubter Anspruch wahrnehmbar:
    wer zu den Kennern gezählt werden will, gibt sich mit der Außenfläche nicht zufrieden, er weiß die Entfernung der Spuren als besondere Raffinesse zu schätzen und macht sich flugs daran, die vorangegangene Arbeit und deren inzwischen unsichtbare Spuren analytisch zu rekonstruieren.

  7. Beethoven bemerkte durchaus, daß sein Stern sank, als der Kongress tanzte und der Zeitgeist auf Rossini stand. In seiner heroischen Zeit hätte er dem Tagebuch einen solchen Satz nicht anvertraut, für den er im Jahre 1814 Anlaß sah: "Daß man gewiß schöner schreibt, sobald man für das Publikum schreibt, ist gewiß, ebenso, wenn man geschwind schreibt." (Solomon 1977, S.257)
    "Geschwind schreiben" heißt, bereits Erprobtes verwenden, "für das Publikum schreiben" mit dessen Gewohnheiten umgehen, und "schöner schreiben" bedeutet gemäß einer zweiten Natur, der gesellschaftlich akzeptierten, schreiben.
    Und in diese Natur ist bereits ein wichtiges Relikt musikalischer Arbeit eingegangen: es wird repräsentiert durch das Wort "schreiben".
    Nach der Schaffenskrise dieser Jahre stößt Beethoven 1822 zu seinem Spätstil vor, - auf dem mühsamen Weg der langsamen und beharrlichen Arbeit:
    "...sehen Sie, seit einiger Zeit bring' ich mich nicht mehr leicht zum Schreiben. Ich sitze und sinne und sinne; ich hab's lange: aber es will nicht aufs Papier. Es grauet mir vor'm Anfang so großer Werke. Bin ich drin: Da geht's wohl [...]" (an Rochlitz, zit. nach Rexroth 1982, S.167)

  8. August Halm, der zu Unrecht vergessene Musikdenker in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts, durchblättert das Werkverzeichnis Joseph Haydns, in dem die Anfänge der Sätze wiedergegeben sind und kommt zu folgendem Schluß:
    "Da stehen nun eine Menge von Themen Haydns; alle musikalisch, klar, ungesucht; auch alle so, daß man sich wohl vorstellen kann, wie etwas aus ihnen werden mag. Aber wie viele unter ihnen wirken beiläufig, gelegentlich, nicht notwendig, unkonzentriert; wie manche so, als ob der Meister, nur damit einmal ein Anfang gemacht sei, sich diese Töne heranhole, freilich nicht ohne sie sozusagen mit Meisterhand zu formen, aber doch mehr im Vertrauen darauf, daß seine Meisterschaft nach dem halb beliebigen Anfang tiefer in die Musik hineinführen, daß er notwendig wachsende Musik erstehen lassen wird - worin er sich ja häufig auch nicht getäuscht haben mag.
    Lesen wir dagegen die Anfangsthemen Beethovenscher Sonaten und Quartette, so werden wir kein einziges finden, das nicht den Stempel der Notwendigkeit, der Prägnanz, der Konzentration trüge."
    (Halm 1927/1976, S.40)
    Die Konzentriertheit durchglühe nicht nur die Anfangsthemen, sondern die ganze Musik Beethovens; er habe, "nach der extensiven, manchmal weniger oder mehr ins Intensive gesteigerten extensiven Musik die intensive erfunden", mehr noch: er habe "das Ideal intensiver Musik als fernerhin unabweisbares Gebot aufgestellt." (Halm a.a.O.)
    Halms Hervorhebung dieser Leistung und dieses Gebots geht von Haydns Themen aus und richtet sich nicht direkt gegen die Freiheit der Improvisation oder improvisatorische Beliebigkeit, indirekt aber vielleicht doch, da sie sogleich auf die notwendige Voraussetzung der schriftlichen Konzentration verweist:
    "Ihr gilt ... die schwere und mühsam schriftliche Arbeit, von der die Skizzenbücher ein so beredtes Zeugnis ablegen, und nicht selten sogar so, daß uns das viele Zweifeln, das Hin und Her der Versuche seltsam erscheinen und dem Bild von größter Sicherheit widersprechen will, das uns die fertigen Kompositionen geben." (Halm a.a.O.)
    Halm kommt anschließend expressis verbis auf Beethovens Improvisationskunst zu sprechen, insbesondere auf die bekannte Geschichte, als ein Freund, der einer großen Beethovenschen Improvisation gelauscht hatte, darüber klagte, daß solche Phantasien für immer verloren seien, Beethoven aber entgegnete, ob er denn etwa glaube, dergleichen sei nur so hingespielt; und flugs habe der Meister das soeben improvisierte Stück notengetreu wiederholt.
    Man kann zwar in Zweifel ziehen, daß der Freund wirklich verläßlich beurteilen konnte, ob er nun wirklich die notengetreue Wiederholung der Improvisation gehört hatte.
    Auf jeden Fall wird er aber Beethovens mündliche Äußerung korrekt wiedergegeben haben, die unzweifelhaft besagt, daß in der Improvisation der gleiche ordnende Geist am Werk sei wie in der Komposition.
    Zudem, sagt Halm, "bleibt ungewiß, ob das betreffende Stück eine frische, in diesem Augenblick entstandene Improvisation, oder die erste Gestaltwerdung eines Stoffs war, der Beethoven schon länger beschäftigt hatte (und dies vielleicht auch, wenn er für sich Klavier spielte); oder schließlich, ob es eine schon einigermaßen fertige Komposition war, die Beethoven im Kopf ausgearbeitet hatte." (Halm a.a.O. S.42)
    Ein gewisses Mißtrauen gegenüber der Improvisation ist unüberhörbar. Niemand schüttelt an einem Tag aus dem Ärmel, was an anderen Tagen angestrengtester Arbeit bedarf. Nach Tagen angestrengtester Arbeit und fortwährender Sichtung aller Möglichkeiten wird ein guter Klavierspieler allerdings erstaunliche Dinge aus "dem Ärmel schütteln".
    Sollte ausgerechnet Beethoven, der sonst so skrupulös und ökonomisch arbeitete, es sich bisweilen gestattet haben, sein Bestes auf Nimmerwiedersehen zu verschleudern?
    Auch Bruckner galt als gewaltiger Improvisator an der Orgel ("Er hätte uns prüfen sollen"!).
    Im Briefwechsel zwischen Heinrich Schenker und dem Bruckner-Verehrer Halm kommt auch darauf die Rede, wobei Schenker schwerwiegende Vorbehalte geltend macht:
    "Bruckner hab' ich improvisieren gehört. Er konnte es aber nicht. Er war zu sehr Vordergrund-Gestalter. Richtiger: er kannte nur eine Dimension, einen Raum von höchstens 20 Takten, auch diesen nur flächig gesehen. Dieser Raum kam ihm nicht aus einer Tiefe, wo Raum an Raum sich schließen, zueinander gehörend, wie die Knochen, Muskeln, Gelenke meines Körpers, er stand ihm für sich."
    Und später berichtet er, wie Bruckner seine Harmonielehre- und Kontrapunkt-schüler bei Prüfungen ins beste Licht zu setzen suchte:
    "Da er wußte, daß Direktor Hellmesberger oder die Professörchen für Pianoforte oder Violine usw. - die gesamte 'Kommission' - sich nicht gerne in Theorie einläßt, hat er jedem von uns das Fugenthema zum Voraus gegeben, es mit jedem von uns durchgearbeitet, und nun kam die Komödie der Prüfung: 'Wollen Herr Direktor das Thema...', fragte Bruckner, der Direktor beeilte sich: 'Bitte, Herr Professor, geben sie selbst eines auf'. Und nun kam Alles, wie es abgekartet war.
    Eine Bagatelle, aber demjenigen gegenüber, der mir erzählt, er habe Bruckner wunderbar improvisieren gehört, bringe ich Mißtrauen entgegen, denn Bruckner könnte die Improvisation sehr wohl vorbereitet haben."
    (Federhofer 1988 / S.37f / Kürzel aufgelöst v. J.R.)

  9. Beethoven - ohne Noten?
    "War man nicht daran gewöhnt, so mußte es auffallen, wie dem Meister schon seine letzte Schöpfung in ihren Einzelheiten aus dem Gedächtnis entschwunden war, dies nicht etwa bei großen Werken in Partitur, sondern auch für Pianoforte allein.
    Saß er mit einer neuen Komposition beschäftigt, so lebte sein ganzes Ich augenfällig nur darin, und eben erst Vollendetes lag ihm schon so weit zurück, als gehörte es einer früheren Periode an. Derlei Beweise ergaben sich nur zu oft mit Kopisten oder bei Gelegenheit von Anfragen. Er ward unwillig, wenn man nicht mit der Schrift in der Hand um irgendwelche Belehrung ersuchte. Mit fremden Werken war es dasselbe; alles mußte ihm vor Augen gelegt werden, sollte es in seiner Erinnerung wieder aufleben. Nur mit Haydns und Mozarts Werken gewahrte man Ausnahmen von der Regel." (Schindler 1858/60 S.424)

  10. "Lutwig v: Beethoven erhielt weider auch Täglich Lehrstunde auf der Fiolin. Lutwig spielte mal ohne Nohten, zufällig kam sein Vater herrein, sagt, was kratz du da nun wider Dummes Zeüg durcheinander, du weis das ich das gar nicht leiden kann, kratz nach den Nohten, sonsts wird dein kratzen wenig nutzen. (...)
    Sein Vater wurte zuletz, wenn er ihn Fiolin spielen hört, aufmerksamm, er spielte wider nach seinem Sinn ohne Nohten, da kam sein Vater herrein, höhrs du dann gar nicht auf nach alle meine Sagen, er spielte wider, sagt zu seinem Vater, ist denn das nicht schön, sagt sein vater, das ist nur was anders, allein aus deinem Kopf, dafür bist du noch nicht da, befleißige dich auf dem Clavir und Fiolin, mach schwinnt richtige angriff auf die Nohten, da ist mehr an gelegen.
    Wenn du es mal so weit gebracht hast, dann kanz du und muß du mit Kopf noch gnug arbeiten, aber dafür geb dich getz nicht damit ab, du bist noch nicht dafür da."
    (Joseph Schmidt-Görg "Des Bonner Bäckermeisters Gottfried Fischer Aufzeichnungen über Beethovens Jugend" 1971, S.332 f)

  11. Auswendig - inwendig
    Daß Clara Schumann in der Öffentlichkeit auswendig spielte, wurde von vielen Zeitgenossen durchaus nicht positiv vermerkt, sondern für anmaßend gehalten. Sie schien zu demonstrieren, daß sie die Leistung des Komponisten beherrschte und nunmehr aus dem Ärmel schüttelte. Hatte sie womöglich keinerlei Schwierigkeiten damit gehabt? Zu wenig Arbeit aufwenden müssen? Deutete sie nicht an, daß sie, mit eigenen Noten bewaffnet, noch größerer Dinge mächtig wäre?
    Heute gilt das Auswendigspielen für beinah jeden großen Interpreten als selbstverständlich; es verdeutlicht, daß er ein Inwendiges nach Außen projiziert. Ist nicht das fremde Werk sein Eigentum geworden?
    Jorge Bolet hat es sinngemäß einmal so formuliert:
    "Wenn Beethoven eine Sonate fertiggestellt hatte, legte er sie beiseite und wendete sich neuen Aufgaben zu. Wir aber verbringen unser ganzes Leben damit, über diese Sonate und ihre Interpretation nachzudenken. Ist es da so vermessen zu glauben, daß wir sie am Ende fast besser kennen als der Komponist selbst?"
    (Fernsehsendung, Gedächtniszitat)
    Es gehört zur Illusion des öffentlichen Konzertes, der Interpret sei, wenn schon nicht Schöpfer des Werkes, so doch ein gleichberechtigter Stellvertreter auf Erden, ein Medium.
    Die auf den Flügel gestellten Noten könnten noch allzu deutlich auf die vom Interpreten losgelöste Existenz des Werkes und auf den Anderen verweisen; die auf die Noten gerichteten Augen würden zeigen, daß jemand nach fremder Weisung handelt.
    Aber da er alle Weisungen verinnerlicht haben soll, gibt es nichts Fremdes mehr. Er imitiert keine fremde Stimme, sondern spielt aus eigenem Herzen: "by heart" - auswendig.

  12. Improvisierend komponieren?
    Beethovens großer Zeitgenosse in Südindien, Tyagaraja, schuf seine Werke, die bis heute das Stammrepertoire der südindischen Konzerte bilden, ohne sich irgendeiner Notenschrift zu bedienen.
    Es wird berichtet, er habe unter dem Eindruck der Inspiration singend komponiert und die Gesänge sogleich von seinen Schülern auswendig lernen lassen.
    Dabei wußte er die weniger begabten Schüler besonders zu schätzen, da sie nicht dazu neigten, das Erlernte durch eigene Einfälle zu ergänzen. Denn Tyagaraja duldete keinerlei Änderungen an seinen Stücken; zur Sicherheit lehrte er jeden seiner Schüler auch nur eine begrenzte Anzahl von Gesängen und schloß aus seiner Umgebung erfahrene Berufsmusiker bewußt aus.
    Die Schüler bildeten verschiedene Schulen, in denen die Gesänge über Generationen mündlich weitergegeben wurden.
    Bei der heutigen Beurteilung der je nach Schule unterschiedlichen Überlieferung eines Tyagaraja-Werkes ist allerdings zu berücksichtigen, daß der Vortrag solcher Werke auch zu Lebzeiten des Komponisten nicht den Verzicht auf improvisierte Abschnitte verlangte, sie wurden als selbstverständlich vorausgesetzt. (nach Kuckertz 1970 S.136 f)

  13. Der Sarodmeister Amjad Ali Khan im Gespräch:
    "Ja, es gibt Kompositionen im Raga und so viele Themen aus der vokalen Musik, - so viele Themen gibt es also...und dann denke ich manchmal eine Zeit lang über einen Raga nach, ich denke nach und sehe Möglichkeiten, wie ich noch expressiver mit dem Raga umgehen kann. Das ist eine Art Übung, eine Übung des Geistes und des Intellekts."
    Und diese Kompositionen, - wie können Sie sicher sein, daß Ihnen nichts verloren geht? Verlassen Sie sich ganz aufs Gedächtnis?
    "Es ist Gedächtnis und - bei Gottes Gnade - jetzt auch durch CDs und durch Cassetten, die wir aufnehmen."
    (Gespräch mit J.R. am 17.2.94 in New Delhi)

  14. Tönende Architektur?
    Die Sonne näherte sich dem Horizonte, da legte der Herr Siziliens die Laute auf das Pergament und blickte seinem Ratgeber Aristides fest ins Auge:
    "Was war es noch, das Platon über den Gedächtnisverlust durch die Schrift gesagt hat?"
    "Platon schreibt..."
    "Schreibt?"
    "Ja, gewiß, aber er schreibt, als werde es im Augenblick gesprochen ...; ich weiß den Wortlaut nicht mehr, es muß aber folgenden Sinnes gewesen sein:
    dem ägyptischen König Thamus wurde in alter Zeit die Erfindung der Schrift unterbreitet und er fand ihre Vorzüge bedeutend. Dennoch untersagte er streng die Verbreitung der Schreibkunst, weil sie binnen kurzer Zeit das Gedächtnis verkümmern lassen werde.
    Selbst die Rhapsoden würden sich bald auf Geschriebenes verlassen und anfangen, Geschichten und Gedanken vorzutragen, von denen sie keine eigene Anschauung gewonnen hätten. Auch würden sie verlernen, auf welche Weise die Kraft des Erinnerns mit der des Gestaltens zusammenwirkt."
    "Gilt das nicht in viel höherem Maße für die Musik?" fragte der Fürst, "indem wir sie sichtbar, in ihrem Auf und Ab auf Pergament gezeichnet, vor uns legen, verzichten wir auf die Empfindung notwendigen zeitlichen Zusammenhangs zugunsten einer räumlichen Vorstellung.
    Wir bauen, statt zu spinnen.
    Aristides, sieh diesen marmornen Tempel dort an und leiste ihm musikalischen Widerstand; phantasiere eine Viertelstunde und länger auf der Laute, ohne mich zu langweilen. Dies ist ein Befehl im Namen des Lebens.
    Ich werde die Idee eines Bauwerkes in der Musik nicht dulden.
    Schlimm genug, daß man beginnt, den gewichtigen Stein zu schmal aufsteigenden Bögen zu türmen, als sei es seine Sache, die Leichtigkeit von Grashalmen vorzuspiegeln.
    Die Musik soll sich dem Wesen der Zeit anvertrauen, dessen Geheimnis wir von Morgens bis Abends spüren, und dies soll sie uns lieben lehren, sie soll uns keineswegs mit Bildern des Raumes übertölpeln; schlag jetzt die Laute, Aristides, und höre nicht auf, ehe die Nacht nicht hereingebrochen ist!" (J.R.)

  15. Das tonale Gebäude der indischen Musik
    "Das modale Wahrnehmungsvermögen ist in der Tat streng vertikal, wir können auch sagen: harmonisch. Der Melodiezug, die musikalische Phrase dient ausschließlich dazu, in unserem Bewußtsein ganz allmählich eine Architektur aus übereinandergeschichteten und nebeneinander existierenden Tönen zu errichten, die den Modus und die von ihm ausgelöste Gefühlsstimmung darstellen.
    Daß die einzelnen Bausteine des musikalischen Bauwerks uns nacheinander übergeben werden, dient nur dazu, um sie klarer, bestimmter, präziser zu machen.
    Das modal konzipierte Werk ist eine starre Struktur, die in unserer Vorstellung Stein für Stein, Ton für Ton errichtet wird und von der Reihenfolge, in der die verschiedenen Elemente zusammengefügt werden, nur bedingt abhängig ist.
    Nicht die melodische Folge der Töne ist wichtig, sondern die Gesamtheit aller Töne. Dies erklärt, weshalb die modale Musik bei ihrer Aufführung improvisiert werden kann. Das Bewußtsein des Musikers ist auf das Gebäude als Ganzes gerichtet, auf eine vertikale Struktur. Er vermag also nicht einer Melodielinie zu folgen, die als horizontale Reihung von Tönen angelegt ist: er würde das innere Gefühl für die Gesamtheit der modalen Struktur verlieren." (Daniélou 1975 S.16f)

  16. Die große und die kleine Form
    a) "Ein voll notiertes Kunstwerk kann mehr als schriftlos fortgepflanzte Musik 'gebaut' werden. Erst die abendländische Kultur hat lange Zeitspannen mit rein musikalischen Mitteln architektonisch gestaltet. Gattungen kunstvoller Formen, wie Fuge und Sonate, gehören zum Eigentümlichsten, was sie im Verhältnis zu allen übrigen Kulturen hervorgebracht hat." (Wiora 1961 S.114)
    b) "Es gibt keine große Musik ohne große Form; große Musik ist notwendig auch räumlich und zeitlich groß gewachsen. [...] Es gibt Tiefe, Schönheit, Würde und Erhabenheit auch in der Musik kleiner Formen; Größe gibt es nicht." (Halm 1927 S.322)
    c) "Meiner Überzeugung nach sind unsere ... echten Volksmelodien samt und sonders wahre Musterbilder höchster künstlerischer Vollkommenheit. Ich betrachte sie im kleinen als ebensolche Meisterwerke wie im Reich der großen Formen eine Fuge von Bach oder eine Sonate von Mozart." (Bartók 1927/1972 S.161)
    zu a) Wioras Richtschnur liegt in den "rein musikalischen Mitteln" und in dem Wort "architektonisch". Um ihm zuzustimmen, müßte man diese Begriffe ebenso emphatisch sehen wie er und eine weitere unausgesprochene Voraussetzung mit ihm teilen: nämlich, daß ein vom sozialen Kontext unabhängiges Kunstwerk bedeutender ist als eines, das in diesen Kontext eingepaßt ist, aus ihm, für ihn geschaffen ist. (Aber in Wahrheit sind auch die vom sozialen Kontext unabhängigen Kunstwerke nicht von ihm unabhängig...)
    zu b) Halms Maßgabe ist "Größe". Wenn uns aber "Tiefe, Schönheit, Würde und Erhabenheit" fürs erste ausreichen, - was dann? Und wenn wir statt "Größe" einfach "Länge", "Ausdehnung" und "Wiederholung" auf den Schild erheben? Ein afrikanischer Trommler "benutzt ... die Wiederholung, um die Tiefe der musikalischen Struktur sichtbar zu machen. Für Nichtafrikaner ist es meist schwierig, diese Auffassung von Wiederholung zu begreifen. Dabei ist die Beziehung zwischen Repetition und musikalischer Tiefgründigkeit eines der wichtigsten der aus dem Studium afrikanischer Musik ablesbaren Themen." (Chernoff 1994 S.137)
    zu c) Bartók proklamiert die Gleichstellung der Meisterwerke "im kleinen", mit denen der "großen Form", womit Fuge und Sonate gemeint sind. Schon die Fuge konnte freilich nicht so "groß" wie die Sonate werden, - konnte sie ihr an innerem Gewicht gleichkommen? (Furtwängler hat - bezogen auf Beethoven und Bach -die rhetorische Frage gestellt: kann man einen Löwen gegen eine Eiche ausspielen?) Was nach Bartóks Ansicht übertragbar und damit vergleichbar ist, geht aus folgendem Satz hervor, der sich auf die Bauernmusik bezieht:
    " ...das Wesentliche ist, ihren mit Worten nicht ausdrückbaren inneren Charakter auf unsere Kunstmusik zu übertragen und letztere ganz mit dieser Atmosphäre auszufüllen." (Bartók 1931 S.169)

  17. Innenwelt und Außenwelt
    a) Indische Musik schafft sich ihre Voraussetzungen in jedem Konzert neu, nachvollziehbar allerdings nur für denjenigen, der mit ihren Voraussetzungen - dem Raga-System - vertraut ist: im Alap, dessen erste Klänge oft unmittelbar aus dem Vorgang des Stimmens hervortreten, etabliert der Interpret zunächst die tonale Basis, den Grundton und seine nächste Umgebung, um dann fortzuschreiten von Ton zu Ton, bis das gesamte melodische Material des Ragas ausgebreitet ist. Dieses Material ist prinzipiell längst bekannt; es gehört der Tradition an und muß nur aus dem virtuellen Zustand erlöst, in realen Tönen "materialisiert" werden.
    In welchem Maße die traditionellen Ragas von der Person des einzelnen Künstlers losgelöst existieren, zeigt sich darin, daß sie mit Göttern, Göttinnen und göttlichen Kräften identifiziert werden, zu denen der Künstler lediglich in Verbindung tritt. "Wegen der Beschaffenheit der Noten - die sowohl als musikalische Töne wie auch als Darstellung von Ideen betrachtet werden - könnte man niemals sagen, daß ein Musiker eine (sic!) raga erfindet. Eine raga wird eher entdeckt, wie ein Biologe eine neue Tiergattung entdecken mag oder ein Geograph eine neue Insel." (Ravi Shankar 1969 S.33)
    b) Wenn musikalische Menschen des Kaluli-Volkes in Papua-Neuguinea nach neuen Liedern suchen, setzen sie sich gern in die Nähe des Wassers; das Strömen des Wassers fülle ihr Gemüt mit Ideen, sagen sie. Ein Lied komponieren, das heiße soviel wie "einen Wasserfall im Kopf haben". Die Männer spielen die Maultrommel uluna zu ihrer Entspannung, und sie lieben es, dabei mit den Lauten des Urwaldes in Dialog zu treten.
    Als Steven Feld, der dies berichtet, einen uluna-Spieler aufnehmen wollte, schlug der ihm vor, an eine von Bäumen überdachte Stelle in der Nähe des Flusses zu gehen, damit auch die Nachmittagszikaden und die melodischen Vögel beteiligt seien.
    "Um zu verstehen, wie Kaluli diese Welt hören, muß man einen Begriff haben von dem, was sie dulugu ganalan nennen oder lift-up-over-sounding. ... Dies bedeutet, daß die Kaluli ihre Regenwaldwelt als eine überlappende, dichte, geschichtete Welt hören. Und sie wenden dasselbe Prinzip auf ihre eigene Musik an. Die Stimmen der Leute schichten sich wie die Bäume des Wald-Baldachins." (Steven Feld)
    c) Die Dresdener Festkonzerte von Johann David Heinichen (1683 - 1729) "sprechen eine eindeutige Sprache: Der zeitgenössische Hörer - der von der Jagd zurückgekehrte Höfling - verstand noch das Hornmotiv 'die Sau ist tot', er verstand den nach verstimmten Mandolinen klingenden Barcarolensatz als klanggewordene Wirklichkeit, hatte man doch gerade noch von Booten aus im Moritzburger Teich nach Enten geschossen.
    So wie der Besucher des Schlosses heute noch von zwei hörnerblasenden Plastiken empfangen wird, so waren die Signalmotive der Hörner, die kraftvoll zulangenden Streicherakkorde, die tändelnden Traversen, die bukolischen Blockflöten in ihrer Bildhaftigkeit auf überaus mannigfache Weise mit den Realitäten verknüpft: Drinnen und Draußen, Götter und Geliebte, Natur und Nachahmung verwoben sich in barocker Theorie und Wirklichkeit zu einem vieldimensionalen Theaterstück.
    Die über das Auge wirkende Bildlichkeit eines Porzellan-Stücks ist uns noch sinnfällig-geläufig - die über das Ohr wirkende Bildhaftigkeit des musikalischen Kunst-Stücks müssen wir wieder erlernen, um die Klangstücke vergangener Zeiten in ihrer brisanten Realität zu verstehen." (Reinhard Goebel, 1993)
    d) "Aber ich habe es Dir doch geschrieben, daß ich an einem großen Werke arbeite. Begreifst Du nicht, wie das den ganzen Menschen erfordert, und wie man da oft so tief drin steckt, daß man für die Außenwelt wie abgestorben ist. Nun denke Dir ein so großes Werk, in welchem sich in der Tat die ganze Welt spiegelt - man ist sozusagen selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt. [...]
    Es sind furchtbare Geburtswehen, die der Schöpfer eines solchen Werkes erleidet, und bevor sich das alles in seinem Kopfe ordnet, aufbaut und aufbraust, muß viel Zerstreutheit, In-sich-versunken-Sein, für die Außenwelt Abgestorben-Sein vorhergehen...
    Meine Symphonie wird etwas sein, was die Welt noch nicht gehört hat! Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme und erzählt so tief Geheimes, das uns vielleicht im Traum ahnt!
    Ich sage Dir, mir ist manchmal selbst unheimlich zumute bei manchen Stellen, und es kommt mir vor, als ob ich das gar nicht gemacht hätte."
    (Gustav Mahler an Anna von Mildenburg zur Dritten Symphonie 1895/96 s. Schreiber 1971 S.67)

  18. Volksmusik und Kunstmusik
    Volksmusik ist oft so untrennbar an eine bestimmte Situation gebunden, so eng in einen sozialen Kontext eingebettet, daß man mit Fug und Recht sagen kann: was akustisch wahrnehmbar ist, macht nur einen Bruchteil des Phänomens aus.
    Der Reichtum der Volksmusik liegt in dem Netz der unmittelbaren Lebenswelt, mit dem sie durch tausend Fäden verbunden ist und an dem sie vielfältig partizipiert. Für das Verständnis ist demnach wichtig, ob man die Eigenart dieser Lebenswelt erfaßt, weniger, wie musikalisch man ist.
    Der Reichtum der Kunstmusik aber liegt darin, daß sie das beziehungsreiche Netz der weit ausgebreiteten Lebenswelt mit eigenen musikalischen Mitteln vollständig abbildet und - mit Sinn anreichert. Um sie zu verstehen, muß man allerdings ihre Zeichensystem erlernt haben oder in ihre Ausdrucksweise hineingewachsen sein. Man muß in ihrem Sinne 'musikalisch' sein.
    "Die Musik der Besessenheitstänze der Venda (in Südafrika) ist nur im rechten sozialen Kontext wirksam, während die Bedeutung der Marschthemen Mahlers oder der Arpeggien Vivaldis nur im Kontext der Musik wahrhaft zu begreifen ist," schreibt John Blacking in einem Aufsatz, dem ich auch die vorhergehende Definition nachempfunden habe. (Blacking 1969 / S.52/ Übers.: J.R.)
    Nach Blacking ist die Musik, die bei den Venda in Südafrika den höchsten Rang einnimmt, die ihres Nationaltanzes Tshikona, weil sie die größte Zahl von Menschen zusammenbringt und weil sie am effektivsten "ein reicheres und volleres Leben" und den "letztendlichen Bezug" jedes individuellen Venda ausdrückt.
    Blacking billigt dem Venda-Tanz zu, daß er in seinem gesellschaftlichen Kontext die gleiche Wirkung habe wie eine Mahler-Symphonie in dem ihren, - und doch, so fügt er leicht widerstrebend hinzu, gebe es einen Wertunterschied:
    der Venda-Nationaltanz umfasse nur die Menschen, die mit der Venda-Gesellschaft verbunden sind, während die Mahler-Symphonie potentiell jeden betreffe, der in das weit größere Netzwerk der modernen Industriegesellschaft eingebunden sei. (Blacking, a.a.O. S.69)

  19. Musik und Macht
    Martin Walser wird in einem Interview der Süddeutschen Zeitung (Franz Kotteder) auf einen Satz in Finks Krieg (Roman 1996) angesprochen: "Die Mächtigen sind wie ein Beethoven ohne Musik", und er antwortet:
    "Das sagt der Fink, ja. Stellen Sie sich mal das Gesicht Beethovens vor und stellen Sie sich vor, der hätte nicht Symphonien geschrieben, sondern einen Konzern geleitet, mit diesem Gesicht...Da hätte man Angst vor ihm, oder?
    Dieses Gesicht ist wunderbar, weil er diese Musik gemacht hat. Aber ohne Musik? Ein Mächtiger ohne Musik? Ein Mächtiger ist immer ein Beethoven ohne Musik." (SZ 18.4.96)

  20. Wie compatibel sind Musikkulturen?
    Louis Sarno schreibt über die Musik der verschiedenen Pygmäenvölker: "In Yadoumbé spielte ich den Einwohnern (vorwiegend BaBenzélé) Bänder vor. Simha Arom's Sechziger-Jahre-Aufnahmen der BaBenzélé in der Savanne gegen Norden, wo jetzt Monasao ist, fanden den unmittelbarsten Anklang. Ich hatte niemals vorher die hindewhu (Papaya-Flöte) in Yadoumbé gehört, aber als ich Aroms Aufnahme dieses Instruments vorgespielt hatte, erkannten die Bayaka es unmittelbar und stellten sich binnen weniger Tage eigene Instrumente her und spielten sie.
    Andere Musikarten, zu denen sie Affinität empfanden, waren die der Baba Bambouké in Nordgabun, der BaNgombé in Kamerun und der Aka von Mongoumbé längs dem Ubangi-Fluß. Lieder von all diesen Gruppen haben Eingang im weiten Repertoire von Yandoumbé gefunden.
    Zur Musik der Mbuti vom Ituri-Wald (Efé, Sua, Kango usw.) war es in Yandoumbé am schwierigsten, eine Beziehung herzustellen. Manches daran brachte sie zum Lachen, manches schockierte sie ernsthaft durch 'falsche' Harmonien.
    Die Kinder jedoch waren fasziniert und Tage später imitierten sie diese Harmonien, allerdings mit übertriebenen Dissonanzen." (Sarno 1995, S.17. Übersetzung: J.R.)

  21. Unsere Musik
    Der Musikethnologe Simha Arom antwortete auf die Frage, ob er den Pygmäen auch europäische Musik vorgespielt habe:
    "Ja, ich habe ihnen verschiedene klassische Musikstücke vorgespielt, aber es interessierte sie nicht, und sie haben auch recht. Es ist für sie eine andere Sprache. [...] Das ist, wie wenn Sie jemandem, der keine musikalische Ausbildung hat oder kein Spezialinteresse hat, afrikanische Musik vorspielen: es interessiert ihn nicht. Was er da hört, ist Rhythmus, wenn es mit Rhythmus ist, aber wenn nicht, dann hört er nichts mehr und versteht nichts davon. Es redet zu ihm nicht; es ist wie eine Sprache, die er nicht versteht. Und das ist in beiden Richtungen gleich: wenn die Pygmäen Mozart hören, können sie diesen Code nicht verstehen, sie können das System nicht verstehen. Ich bin immer in der Idee von System...
    Und sie haben mir etwas sehr Schönes gesagt, wenn ich ihnen Mozart oder Beethoven vorgespielt habe:
    'Gut, das ist deine Musik, das ist gut, und wir haben unsere Musik.' Und das war die schönste Antwort."
    (Interview Andreas Koepp, WDR-Sendung 6.7.96)

  22. Von anderen lernen?
    Der Meistertrommler Aja Addy aus Ghana, der inzwischen die meiste Zeit in Deutschland lebt, auf die Frage, ob ihm auch europäische Musik gefalle: "Ja, sicher. Ich höre sie oft zum Einschlafen."
    Ob er auch Lust habe, von Europäern musikalisch etwas zu lernen: "Nein, ich habe mit meiner Trommel genug und möchte da nichts vermischen."
    Und wie steht es mit der Konkurrenz anderer Musiker in Afrika? "Es gibt zwar viele Rhythmen, die ich nicht kenne und nicht spielen kann, aber jedes Land in Afrika hat eben seine eigene Musik. Ich habe viel Zeit und kann noch dazulernen, wenn ich möchte. Es ist nicht schwer für mich, neue Rhythmen zu lernen. Wenn ich etwas höre, kann ich es sofort nachspielen. Einige nennen mich deshalb the criminal drummer."
    (Interview Christine Adrian für Abschlußarbeit Musikhochschule Düsseldorf 30.11.95)

  23. Verheißt tatsächlich alle Musik, was anders wäre, - das Zerreißen des Schleiers?
    Adorno über Mahlers Erste:
    "Auf der Höhe des Satzes dann [....] bricht die Fanfare in den Trompeten, den Hörnern, den hohen Holzbläsern durch, außer aller Proportion zum Orchesterklang zuvor, auch zu der Steigerung, die zu ihr geleitet. Diese erreicht nicht sowohl die Klimax, als daß die Musik mit körperlichem Ruck sich dehnte. Der Riß erfolgt von drüben, jenseits der eigenen Bewegung der Musik. In sie wird eingegriffen. Für ein paar Sekunden wähnt die Symphonie, es sei wirklich geworden, was ängstlich und verlangend ein Leben lang der Blick von der Erde am Himmel erhoffte. Dem hat Mahlers Musik die Treue gehalten; die Verwandlung jener Erfahrung ist ihre Geschichte. Verheißt alle Musik mit ihrem ersten Ton, was anders wäre, das Zerreißen des Schleiers, so möchten seine Symphonien endlich es nicht mehr versagen, es buchstäblich vor Augen stellen; möchten die Theaterfanfare aus der Kerkerszene des Fidelio musikalisch einholen, jenem a nachfolgen, das vier Takte vorm Trio die Zäsur ins Scherzo von Beethovens Siebenter legt."
    (Adorno 1960 / S.11f)

  24. "Die Schöpfer von 'Kunst'-Musik sind nicht von Natur aus sensitiver oder klüger als 'Volks'-Musiker: Die Strukturen ihrer Musik bringen einfach - durch Prozesse, die denen in Venda Musik ähnlich sind - das quantitativ größere System von Wechselwirkungen zwischen Menschen in ihren Gesellschaften, die Konsequenzen einer weiter reichenden Arbeitsteilung und eine akkumulierte technologische Tradition zum Ausdruck."
    (Blacking 1973 S.XI / Übers.:J.R.)

  25. "Ein Gebilde, das auf Kunstcharakter Anspruch erhebt, ist nicht seiner Wirkung, sondern seiner eigenen inneren Vollkommenheit wegen da. Als Kunstwerk im emphatischen Sinne ist es eine in sich ruhende Individualität.
    Und ihm wird, am rückhaltlosesten in Schellings Philosophie der Kunst, metaphysische Würde zugesprochen. Entscheidend sei weder die Tätigkeit, durch die es hervorgebracht wird, noch die Wirkung, die von ihm ausgeht, sondern sein Dasein in sich selbst.
    Es erscheint als 'opus perfectum et absolutum' in einem Sinne, den der provinzielle Kantor aus dem 16. Jahrhundert, von dem die Formel stammt, nicht zu ahnen vermochte. Vom Hörer fordert es Kontemplation, selbstvergessene Betrachtung."
    (Dahlhaus 1967 S.24)

  26. In der "Erlebnisgesellschaft" (Gerhard Schulze 1992) am Ende des 20. Jahrhunderts ist es fraglich geworden, ob das Kunstwerk, dessen Gesamtumriss verschwindet, während es in allen Details permanent verfügbar erscheint, noch irgendetwas zu fordern hat.
    Wenn Beethoven sagt "Es grauet mir vor'm Anfang so großer Werke", so entgegnet ihm der moderne Arbiter elegantiarum: Ja, wer verlangt das denn auch von dir? Niemand zweifelt, daß du's am Ende vermagst. Sooft du dich auf eine Aufgabe konzentriert hast, wuchs sie weit über unser Vermögen hinaus. Aber doch nicht nur über unseres, sondern auch über dein eigenes! Ein solches Werk ist nicht Ausdruck einer wirklichen Präsenz, sondern eines Anspruchs auf Präsenz, den niemand erfüllen kann. Könntest du nicht zum Beispiel dein ganzes Genie dareinsetzen, uns Improvisationsmodelle zu hinterlassen, deren wir mächtig sind? Solche, in denen du uns allen eine Basis zur Selbstdarstellung gibst, statt immer wieder an eigenen Werken zu feilen, in denen wir dein Genie bewundern dürfen?
    Bewunderung wäre noch zu wenig: denn "der Zuhörer wird durch Beethovens Musik nicht nur angesprochen, nicht nur zu hören eingeladen und aufgefordert, sondern  e r   w i r d   g e f o r d e r t. "
    (Halm 1927 S.43)
    Zwar mag man sich auch selbst darin entdecken, aber vor allem in seiner Kleinheit, nicht in seinem Vermögen. Und es ist wahr, daß nicht einmal Beethoven selbst Herr dessen blieb, was er gerade geschaffen hatte, - er vergaß es; er hätte es rekonstruieren müssen, fast wie das Werk eines Fremden, und auch dies hätte er möglicherweise nicht vermocht:
    "Ich bin in Todesangst wegen dem Quartett, nämlich das dritte, vierte, fünfte und sechste Stück, hat Holz mitgenommen [...] Auf nichts als kleinen Fetzen ist das Konzept geschrieben und nie mehr werde ich imstande sein das Ganze so zu schreiben."
    (11.Aug. 1825 an seinen Neffen, Rexroth 1982, S.331 f)
    August Halms Blick auf das unangefochten fordernde Genie blieb für die erste Hälfte dieses Jahrhunderts charakteristisch, von Romain Rollands Beethoven-Hagiographie bis zu Artur Schnabel, der gerade die Überforderung durch Beethovens Werke schätzte, - Sonaten, die besser sind als man sie spielen kann.
    Mit dem Begriff "Zuflucht zum zeitlosen Wert" charakterisiert der Soziologe Albrecht Gröschel noch die Gedankenwelt der Generation der 1930er Jahrgänge; die Generation der 1940er Jahrgänge subsumiert er unter den Stichworten "Analytische Distanz und Aufklärung", die der 1950er Jahrgänge unter dem der "ganzheitlichen Lebenswelt", während er die Generation der 1960er Jahrgänge durch "Konsumentensouveränität als spielerische Ästhetisierung" gekennzeichnet sieht.
    "Angesichts eines Marktes, auf denen jeder Anbieter mit großen Verheißungen auftritt, detaillierte Kenntnisse im Sinne vollständiger Übersicht aber nicht mehr hergestellt werden können [...], werden einerseits Mechanismen der Angebotsreduktion erforderlich, andererseits verliert jeder Anbieter seine - behauptete - Besonderheit. Diese Relativierung erfaßt auch Kunst und Kultur, die damit zur Dienstleistung werden."
    (Gröschel 1995 S.119)
    Wenn Beethoven nicht mehr als fordernd, sondern als anbietend erfahren wird, handelt es sich dann eigentlich noch um Beethoven? Gehört dies zu seiner Wirkungsgeschichte oder ist sie damit beendet?

  27. "In vielen Kulturen enthüllt (körperliche) Bewegung die Struktur und die Darbietung von Klanglichem; dadurch, daß man sich den Tanz der Menschen körperlich anverwandelt, kann man Verständnis für ihre Musik gewinnen.
    Zur Veranschaulichung: Tiv-Musik in Nigeria enthält in ihrem perkussiven Ganzen multiple Metren. Als eine Forscherin direkt zum Tanz aufgefordert wurde, stieß sie auf die essentielle Wahrheit der Sache: 'Dann bringt es mir bei, entgegnete ich. Da begannen sie und die anderen älteren Frauen regulär mit meiner Unterweisung: meine Hände und Füße hatten die Zeit zu halten mit den Gongs, meine Hüften mit der ersten Trommel, mein Rücken und die Schultern mit der zweiten Trommel...' (Bowen, 1954, p.123)"
    (Lynne Hanna 1992 S.324f Übers.: J.R.)

  28. "Der europäische Tänzer betrachtet den Körper als geschlossene Einheit und benutzt ihn wie eine gespannte Feder, deren Mittelpunkt das Rückgrat bildet.
    Das Bewegungszentrum liegt ziemlich genau im Schwerpunkt des Körpers, der von ihm aus als straffe, lineare Einheit agiert, indem er durch die Extremitäten im Raum bewegt wird.
    Dem afrikanischen Tänzer ist an einer solchen linearen Einheit nicht das geringste gelegen. Er sucht nicht die Bewegung des Körpers im Raum, sondern das Erlebnis der Bewegung des Körpers in sich selbst, also das Bewegungserlebnis schlechthin. Zu diesem Zweck zerlegt er den Körper in verschiedene Bewegungspartien oder Bewegungszentren und bringt diese in gegenseitige Bewegungsbeziehungen.
    Im Gegensatz zum monozentrischen Tanzkörper des Europäers ist der afrikanische Tanzkörper polyzentrisch. Die Technik des afrikanischen Tänzers beruht auf den Gesetzen dieser Polyzentrik, womit der afrikanische Tanz den Gesetzen von Polymetrik und Polyrhythmik in der afrikanischen Musik entspricht."
    (Alfons M.Dauer in: Günther 1983 S.218)

  29. "Die Polyphonie der frühen europäischen Musik ist im Prinzip dasselbe wie die Polyrhythmik vieler afrikanischer Musik; in beiden Fällen kommt es bei der Wiedergabe darauf an, daß eine Anzahl von Menschen separate Parts innerhalb eines Rahmens von metrischer Einheit aufrechterhält; das Prinzip wird jedoch auf Melodien in der Polyphonie 'vertikal' angewendet und auf rhythmische Figuren in Polyrhythmik 'horizontal'.
    Die Quelle beider musikalischen Techniken ist die soziale Aktivität des Tanzens."
    (Blacking 1969 S.53, Übers.: J.R.)

  30. Ein Augenzeuge über Johann Sebastian Bach in polyzentrischer Bewegung:
    "...wenn Du ihn sähest, sag ich, wie er [...] nicht etwa nur eine Melodie singt [...] und seinen eigenen Part hält, sondern auf alle zugleich achtet und von 30 oder gar 40 Musizierenden diesen durch ein Kopfnicken, den nächsten durch Aufstampfen mit dem Fuß, den dritten mit drohendem Finger zu Rhythmus und Takt anhält, dem einen in hoher, dem anderen in tiefer, dem dritten in mittlerer Lage seinen Ton angibt; wie er sich ganz allein mitten im lautesten Spiel der Musiker, obwohl er selbst den schwierigsten Part hat, doch sofort merkt, wenn irgendetwas nicht stimmt; wie er alle zusammenhält und überall abhilft und wenn es irgendwo schwankt, die Sicherheit wiederherstellt; wie er den Takt in allen Gliedern fühlt, die Harmonien alle mit scharfem Ohre prüft, allein alle Stimmen mit der eigenen begrenzten Kehle hervorbringt. [...]"
    (J.M.Gesner, 1738, Fußnote zu M.F.Quintilian 'De Institutione Oratoria', Orig. lateinisch, zit. nach Johann Sebastian Bach, 1975, S.72 f)

  31. Ein Augenzeuge über Beethoven als Dirigenten:
    "Bei der ganzen Akademie ist in der Mitten ein untersetzter Herr g'standen, der hat so mit allen Gliedern g'wagelt, und mit'n Händen umerg'arbeitet, daß ich g'glaubt hab, ich bin an ein'n Sabath in einer Synagog; bald ist er lang, bald kurz worden, bald hat man'n gar nicht g'sehen (denn da ist er unter sein'n Pultel g'steckt), bald ist er wieder aufg'stiegen - und da ist mir völlig der seelige Pater Abraham eing'fallen, wie er einmal über das Evangeli 'über ein kleines so werdet ihr mich nicht sehen, und über eine kleines so werdet ihr mich wieder sehen', g'predigt hat, und er allzeit dabei unter d'Kanzel g'schloffen, und wieder zum Vorschein g'kommen ist."
    (Haas 1931 S.253)

  32. Es ist die Frage, ob denn die schriftliche Objektivierung, der die Stilisierung auf dem Fuße folgt, wirklich eine qualitativ überlegene Wahrheit zum Vorschein bringt.
    In mündlicher Kommunikation sind fortwährend kurzfristige, scheinbar irreversible Entscheidungen zu treffen; auch wenn man Aussagen zurückzieht, hat man sie zunächst doch deutlich formulieren müssen. Aber falls niemand protokolliert, werden sie unterderhand korrigiert und angereichert, sie können sogar, unter Berufung auf Mißverständnisse, bis hin zur Abfälschung modifiziert werden. Immerhin: sie leben. In den Prozeß der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden sind mehrere leibhaftig anwesende Personen einbezogen, deren verständige oder unverständige Reaktion unmittelbaren Einfluß auf die Form, das Niveau und die Deutlichkeit der Rede haben.
    Ein Gespräch hat also nicht nur mit der bloßen Anwesenheit bestimmter Menschen zu tun, sondern mehr noch mit deren geistiger Präsenz und dem lebendigen Fluidum, das sie verbreiten.
    Auf dem Papier steht dagegen eine Fassung, in die Überlegungen eines Einzelnen zu allen möglichen Lesern eingeflossen sind; es könnte auch berücksichtigt sein, daß das schriftliche Produkt dem Mehrfachlesen standhält oder dabei fortwährend neue Bedeutungen enthüllt.
    Die Proportion der Themen könnte wohlkalkuliert sein. Man muß damit rechnen, daß eine schriftliche Äußerung hermetisch abgesichert ist, selbst wenn sie in einem leichten Gesprächston gehalten ist, der auf dem Papier ebenfalls zu einem Stilmittel wird.
    Da allerdings der Adressat während des Schreibens nicht reagiert, sondern gewissermaßen nur schemenhaft, als unbewegter Schatten, gegenwärtig ist, kann der Schreibende auch in Versuchung geraten, seine Vorstellungen überdeutlich zu artikulieren, gleichsam als rede er mit Schwerhörigen; auch läuft er Gefahr, daß sich ein bestimmter Affekt oder ein Pathos angesichts der Konzentration vor dem Papier verselbständigt und über Gebühr ausbreitet. Es bleibt so stehen, weil in schriftlicher Form durchaus überzeugt, was in der Realität mit Recht deplaziert gewirkt hätte.
    Das Schreiben kann ein Konzentrat aus vielen Stunden Vorbereitung und Kompilation sein. Es kann sich Exkurse leisten, Fußnoten, Abstufungen nach dem Grad der Wichtigkeit, kann den Leser zum Flanieren verleiten, zum Abschweifen, Träumen. D
    ie mündliche Rede, wie auch immer sie nachwirkt, bleibt mit ihrer konkreten Dauer kongruent und will weniger im Wortlaut denn als authentisches Ereignis in die Erinnerung eingehen.

  33. "Warum war Frau S. eigentlich so enttäuscht, als sie beim Tode des Meisters entdeckte, daß all die Konfessionen, die er ihr in den Jahren ihrer Liebe abgelegt hatte, mehr oder weniger variierte Bestandteile seiner großen Tagebuch-Konfession waren, die an jeden und niemand gerichtet war und nun der Veröffentlichung harrte?" (J.R.)

  34. Aus dem Vorwort einer Ausgabe von Briefen Carl Maria von Webers:
    "Selbstverständlich wußte auch Weber nur zu genau, daß der 'Gänsekiel' nur ein 'traurig Surrogat', daß 'ein ordentliches Gespräch' doch 'ein ander Ding' sei als die 'Gänsekiel-Dolmetschung'.
    Dennoch blieb ihm die Korrespondenz mit seinen Freunden [...etc.] zeitlebens eine wahre Passion. Auch der Brief war ihm - nach einem Wort Herders - ein 'Abdruck der Seele', der Adressat ein 'zweites Gewissen'."
    (Weber / Worbs 1982 S.7)

  35. Sokrates gehört zweifellos zu den prominentesten Nichtschreibern.
    Da aber nicht jeder seinen Platon findet, gerät leicht in Vergessenheit, daß es noch andere hartnäckige Rhetoriker gab.
    Am 25.Oktober 1925 hielt ein Mann namens Anton Kuh im Wiener Konzerthaussaal eine brillante Stegreifrede gegen Karl Kraus, Titel: "Der Affe Zarathustras". Sie ist überliefert, weil sie mitstenographiert worden ist.
    Die ersten acht Seiten geben die rednerische Rückwirkung auf die tumultartigen Reaktionen im Saal wieder, also eine Improvisation innerhalb der Improvisation.
    Die gedruckte Ausgabe aller vorhandenen schriftlichen Arbeiten von Anton Kuh umfaßt, diese mitgeschriebene Stegreifrede inbegriffen, immerhin an 500 Seiten.
    Jedoch, wie Friedrich Torberg schreibt, "von wenigen Ausnahmen abgesehen, zeigte er sich außerstande, den Witz und den Geist, den er am Kaffeehaustisch mit müheloser Grandezza versprühte, in eine für den Druck und vollends für den Buchdruck geeignete Form zu fassen. Versuchte er's dennoch, so hielt die Druckfassung der kleinen Glossen und Feuilletons, die er sich um sehr hoher Honorare willen abzuringen bereit war, keinen Vergleich mit der Erzählfassung aus oder erreichte deren Qualität erst wieder auf dem Vortragspodium [...].
    Kuh konnte großartig improvisieren, seine Stegreifvorträge, die immer enormen Zulauf fanden, hatten nicht ihresgleichen, und selbst seine ad hoc geprägten Sentenzen waren so sehr auf seine persönliche Ausstrahlung, auf sein Temperament und seine Pointierungskunst angewiesen, daß sie sich vielfach sogar der mündlichen Nacherzählung widersetzen, von einer gedruckten ganz zu schweigen."
    (Torberg 1975 / S. 249 f)

  36. Die Idee des bis ins letzte Detail durchorganisierten und schriftlich fixierten Kunstwerkes kulminierte in den 50er Jahren und beherrschte die intelligentesten Köpfe.
    Doch daraus ergaben sich schwerwiegende Konsequenzen für das Selbstverständnis der praktischen Künstler; Adorno brachte sie auf den Punkt:
    "Die integrale Organisation des musikalischen Textes hat von diesem her zunehmend die Variationsbreite des Interpretierens verengt und möchte, ihrer Idee nach, der Interpretation selbst ans Leben. Gegenüber Notentexten, in denen jede Note, jede Gestaltqualität tendenziell eindeutig bezeichnet ist, wird der Wunsch nach Interpretation obsolet. Angesichts solcher Musik zeichnet das stumme Lesen in genauer Imagination als wahres interpretatives Ideal sich ab. Das integral komponierte Werk als zugleich integral bezeichnetes ist schon seine eigene Realisierung."
    (Adorno 1958 S.343)
    Diese Bereitschaft, von der Notwendigkeit des realen Erklingens und von der Realisierung als letzter Instanz zu abstrahieren, ist erstaunlich und findet eine noch erstaunlichere Ergänzung, wenn Adorno auf Anekdoten zu sprechen kommt, "welche die modernen Komponisten als Betrüger anschwärzen wollen, weil sie irgendwelche groben Fehler, beabsichtigte oder unbeabsichtigte, in der Wiedergabe ihrer eigenen Sachen nicht bemerkt haben sollen." Diese Geschichten seien meist apokryph, meint Adorno.
    "Überdies ist ein gutes Gehör zwar ein unschätzbarer Vorteil beim Komponieren, aber keineswegs eins mit der kompositorischen Fähigkeit."
    ( Adorno a.a.O. S.358)
    Es liegt auf der Hand, an dieser Stelle einzuhaken und die genaue Imagination zunächst bei den Urhebern der Musik selbst anzumahnen statt bei idealen stummen Lesern. Adorno kannte sich in den Widersprüchen dieser Dialektik aus; sie haben mit der Idee des "opus perfectum et absolutum" in der abendländischen Musik zu tun, letztlich aber mit der problematischen Wechselwirkung zwischen Schrift und Praxis, die eine gezielte Überforderung des Gehörs nicht nur erlaubt, sondern geradezu herausfordert.
    "Musikalischer Sinn ist 'intentional', er existiert nur, sofern ihn ein Hörer erfaßt," schreibt Carl Dahlhaus, und dann folgen Sätze, die den heutigen Zeitgeist sofort zum Widerspruch herausfordern:
    "Ob die Bedeutung eher von der Schrift oder vom Klang ablesbar ist, steht nicht a priori fest; Musik erschöpft sich nicht in der Praxis. So sehr Kompositionen, in denen der Klangfarbe eine bedeutende oder sogar konstitutive Rolle zu fällt, auf akustische Realisierung angewiesen sind, so unleugbar ist es andererseits, daß sich verwickelte Beziehungen oft müheloser der musikalischen Lektüre, ergänzt durch klangliche Phantasie, erschließen. Und die Meinung, daß einzig das Hörbare musikalisches Existenzrecht habe, ist ein fragwürdiges Vorurteil."
    (Dahlhaus 1967 S.23 f)

  37. Der Geschmack der 80er Jahre bevorzugte an Stelle der dialektischen Anstrengung der 60er Jahre eine Philosophie des "Anything goes"; mit der Formel "Die Welt ist Klang" konnte man sich sogar neben der Dialektik auch noch der letzten Reste logischen Anstands entledigen:
    "Klang existiert für das wissenschaftliche Denken durchaus auch als Abstraktum. So empfinden ihn auch die Musiker: Bevor sie ihn spielen, lesen sie ihn in der Partitur. Schon dort ist er Klang. Oder sie hören ihn klingen in ihrem Inneren. Erst dann 'speisen' sie ihn ein in ihr Instrument. In genau diesem Sinn 'speist' das Universum ständig Klänge in jedes einzelne seiner 'Instrumente' - vom Atom und vom Gen bis zum Planeten und zum Pulsar."
    (Berendt 1985 /S.116)
    Mit tausendfachem Sound sollen nun die Gräser klingen (nicht nur, wie einst, die Gläser) und ebenso die Gerstensprößlinge, die jedoch auch haltlos schreien können, wenn man boshaft ihre Wurzeln in kochendes Wasser taucht...
    (vgl. Berendt a.a.O.S.102)

  38. Es wird berichtet, daß der greise Joseph Haydn, als er der ersten Aufführung seiner "Schöpfung" lauschte, beim strahlenden C-dur-Klang der Stelle "Es werde Licht" in Ohnmacht fiel.
    Als er den Klang einst niederschrieb, hat niemand den Komponisten ohnmächtig gesehen, und auch beim stummen Lesen der Partitur ist ihm nichts widerfahren.

  39. Bach-Kritik
    "Dieser grosse Mann würde die Bewunderung gantzer Nationen seyn, wenn er mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzugrosse Kunst verdunkelte."
    (Scheibe 1737 / 1975 / S.150)
    Spätgeborenen ist es leicht, sich auf die Seite des grossen Mannes zu schlagen, dessen Bedeutung immerhin fast 50 Jahre lang von einer Ästhetik des Natürlichen und Einfachen verdrängt werden konnte. So lange, bis auch dieses Natürliche soviel Raffinesse und gestaltende Arbeit in sich aufgenommen hatte, daß wieder eine Kritik im Namen der schlichten Schönheit fällig werden konnte.

  40. Beethoven-Kritik
    Einem Rezensenten Beethovenscher Musik im Jahre 1799 war zumute "wie einem Menschen, der mit einem genialischen Freunde durch einen anlockenden Wald zu lustwandeln gedachte und durch feindliche Verhaue alle Augenblicke aufgehalten, endlich ermüdet und erschöpft ohne Freude herauskam. Es ist unleugbar, Herr van Beethoven geht einen eigenen Gang; aber was ist das für ein bisarrer mühseliger Gang! Gelehrt, gelehrt und immerfort gelehrt und keine Natur, kein Gesang!".
    (zitiert nach Rexroth 1982 S.421)
    "Seine Fülle von Ideen[...] veranlasst ihn aber noch zu oft, Gedanken wild aufeinander zu häufen und sie mitunter vermittelst einer etwas bizarren Manier dergestalt zu gruppiren, dass dadurch nicht selten eine dunkle Künstlichkeit oder eine künstliche Dunkelheit hervorgebracht wird, die dem Effekt des Ganzen eher Nachtheil als Vortheil bringt."
    (a.a.O. S.422)

  41. Von hörbarer Arbeit
    Man muß nicht jeder Bach- oder Beethoven-Kritik abgründige Borniertheit unterstellen; es könnte durchaus sein, daß wir gegenüber manchen komponierten Grobheiten ("Kühnheiten") oder Überforderungen des Ohres unempfindlich geworden sind, einfach weil sie von der späteren Musikgeschichte noch überboten worden sind. Wir kennen ja die erbitterten Kämpfe um die gültige Linie der Musikgeschichte, Kämpfe, in denen es um solche Empfindlichkeiten ging. Heute mag es uns unbegreiflich erscheinen, daß man die Musik von Brahms gegen die von Wagner ausspielte, statt beide gleichermaßen zu genießen; das liegt aber weniger an unserer Überlegenheit als daran, daß beide uns im doppelten Sinne gleich-gültiger geworden sind.
    Es ist aber wohl möglich, daß unser musikalisches Denken solche Dichotomien immer wieder zur besseren Orientierung herstellt (vgl. Schönberg/Strawinsky in Adornos "Philosophie der neuen Musik"); obwohl sie sich in Werturteilen artikulieren, haben sie mit objektiv nachprüfbaren Qualitäten nicht das geringste zu tun. Eine solche Dichotomie äußert sich sogar in den zwei Welten, die Alfons M. Dauer anspricht, wenn er das Phänomen der Stigmatisierung analysiert. Da die zweite Welt aber in einem Maße stigmatisiert ist, daß sie innerhalb der ersten im allgemeinen gar nicht offiziell in Betracht gezogen werden kann, melden sich ihre Bedürfnisse dort in maskierter Form.
    August Halm z.B. untersucht Beethovens motivisch-thematische Arbeit und spielt probeweise den Advocatus Diaboli (bzw. die Vox Populi):
    "Die Durchführung im ersten Satz des Klaviertrios in B-dur op.97 geht mit dem herrlichen Hauptthema in einer Weise um, als ob es da gar nichts von schöner Körperlichkeit, von notwendigem Organismus und überhaupt von Leben zu achten gäbe." Er beschreibt im Detail, wie dieses oder jenes Motiv sich verselbständigt, eine neue Fortsetzung findet, usw. "Aber welcher natürliche und natürlich gute Zuhörer würde denn ein so unmittelbar durch Schönheit der Erscheinung und der Bewegung überzeugendes und anmutendes Thema so hören, als ob es aus Motiven zusammengesetzt wäre, sodaß man es auch wieder nach Belieben in Motive zerlegen und ebenso wieder zusammensetzen könnte? Auch wird niemand sich vorstellen, Beethoven selbst habe es so zusammengesetzt, aus Motiven als aus Bausteinen erbaut. Ist aber dieses Thema (wie es jedem erscheint, der es hört) natürlich geworden und gewachsen, ist es lebendige Bildung, eine 'Seiendes' nach Goethes Sinn: gleicht dann nicht Beethovens Verfahren [...] nicht tatsächlich dem Hantieren mit Papierschere und Klebstoff, oder dem kindlichen Spielen mit Steinchen, aus denen sich Formen und Bilder verschiedener Art zusammenfügen lassen?
    Jeder weiß, daß dem nicht so ist, ja daß sich solche Vergleiche nur dann bei uns einstellen, wenn wir auf dem Papier sein Verfahren untersuchen. Wer Beethoven hier zuhört, der kommt gar nicht erst dazu, das Fragwürdige dieser seiner Technik zu empfinden und gar in Begriffe zu fassen: so überzeugend klingt das alles."
    (Halm 1927 S.117 f)
    Halms Zeitgenosse Maurice Ravel war jedoch ganz anderer Ansicht: er fand gerade dieses Trio einfach "ärgerlich", und die Gründe werden deutlich, wenn man ihn über die D-dur-Sinfonie von Brahms reden hört: die Themen erscheinen ihm "von vertrauter, süßer Musikalität; obgleich in ihren melodischen Konturen und ihrem Rhythmus ganz eigen, sind sie unmittelbar mit denen Schuberts und Schumanns verwandt. Kaum aber sind sie vorgetragen, wird ihr Gang schwer und mühsam. Es scheint, als sei der Komponist unaufhörlich davon besessen gewesen, es Beethoven gleichzutun."
    Ravel sieht durchaus den "einfachen, klaren Einfall, gelegentlich spielerisch, gelegentlich melancholisch; dagegen die weiterführenden Entwicklungen gelehrt, großsprecherisch, kompliziert und schwer. ... Die Struktur des deutschen Meisters zeugt von Geschicklichkeit, aber man merkt ihr zuviel Kunstfertigkeit an."
    (zitiert nach Orenstein 1978, S.133)

  42. Im Jahre 1737 konnte der bloße Hinweis auf das "Natürliche" zeigen, daß ein lauerer Wind durch die Schlösser und Kirchen zu wehen begann und neueste Illusionen in Mode kamen: Landluft macht frei. Zurück zur Natur.
    Ravel hätte sich gehütet, auf das Natürliche zu verweisen, auch wenn er einer gewissen Kunstfertigkeit ganz überdrüssig war - er fühlte bereits eine Brise von jenseits des Ozeans (Schönberg gar "Luft von anderen Planeten") und pflegte engen Kontakt mit der europäischen Peripherie; die reale oder imaginäre Nähe Spaniens, Griechenlands, Amerikas, Afrikas, Indonesiens erlaubte es ihm, sich von dem offiziellen Kurs der mitteleuropäischen Musikgeschichte zu distanzieren.
    "Von zwei Kulturen der Musik" schrieb derweil der tüchtige August Halm und meinte Bach und Beethoven. "Eine dritte Kultur, die Synthese der beiden, (...), ist zu erwarten, die erst die volle Kultur der Musik, nicht mehr nur eine Kultur sein wird, und ich glaube, sie ist schon begründet, vielleicht schon erreicht. Ich sehe sie in Anton Bruckners Symphonien keimen und leben." (Halm 1913 S.253)
    Daß die volle Kultur der Musik auch eine sein muß, eine, die die andere und die anderen einbegreift, wird keinesfalls in Frage gestellt. Dabei ist schon eine Synthese zwischen Schubert und Beethoven nicht vorstellbar, und Schuberts früher Tod ist - wie Peter Gülke mit Recht sagt - eine musikalische Katastrophe, ebenso wie die Tatsache, daß Schuberts wichtigste Werke von der musikalischen Entwicklung in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts übersehen werden konnten, obwohl dies wahrscheinlich weniger mit Zufällen und Nachlässigkeiten zu tun hat als mit Beethovens Riesenschatten.
    Schuberts Auffassung vom Ablauf der musikalischen Zeit, von der Wiederholung, vom Sonatenprinzip hätte die Logik des abendländischen Fortschritts nachhaltig konterkarieren können.
    "Er kann und will nicht, wie Beethoven, schon die erste, kleinste thematische Prägung zur präsumptiven Ganzheit einer Werkvorstellung hin vermitteln und beides stufenweise aneinander entwickeln, er mag und kann nicht in der Einzelheit von vornherein mitdenken, was ihr widerfahren und was sie bewirken wird. Ohne derlei absichernde Rückkoppelung muß er im ersten Impetus entscheidend viel erreichen und hat Grund, kühl abwägende Kontrollen zu fürchten [...]. Der Zwang, alles auf eine Karte zu setzen, rückt dieses Komponieren in die Nähe von Improvisation bzw. entfernt es zumindest in der Methode von jener 'Besonnenheit', die seit Jean Pauls Vorschule der Ästhetik (§12) in der Kunstdiskussion eine besondere Rolle spielte [...]. Natürlich prägt der Modus des Hervorbringens das Hervorgebrachte. Nicht nur in der Spontaneität, mit der eine spezifische Unmittelbarkeit der Mitteilung zusammenhängt, nähert sich Schuberts Komponieren der Improvisation, sondern, aufs direkt Faßbare angewiesen, auch in der Abhängigkeit von Vorgaben."
    (Gülke 1991, S.48 und S.104 f)

  43. Expression und Emotion
    Der Musikästhetiker F.E.Sparshott bedauert, daß dem Westen das indische Konzept Rasa gefehlt habe, das sich auf ein rein ästhetisch verstandenes 'Gefühl' (relish) gründe und dabei auf eine begrenzte Anzahl von Domänen menschlicher Sensibilität bezogen bleibe; damit habe es sich besser als unser eigenes Konzept von "Ausdruck" als Gegengewicht zur Technik geeignet.
    "Westliche Theoretiker erwecken oft den Eindruck, als könne als einzige Alternative zu analytischer Pedanterie nur eine sentimentale Subjektivität gelten, - und sie haben dafür keinen besseren Grund, als daß der Begriff 'Ausdruck' (expression) ihnen diese Suggestion eingibt; während 'Geschmack' (taste) die Konnotation von Ästhetizismus und Dilettantismus hat, die es sowohl zu technischem Können (knowledge) wie auch zu wahrem Gefühl (feeling) in Widerspruch bringt."
    (Sparshott 1980, S.132, Übers.: J.R.)
    In seinem Buch "The Sense of Music" behandelt Victor Zuckerkandl intensiv die "technische" Seite von Begriffen wie Melodie, Textur, Struktur, Polyphonie und Harmonie; erst im Epilog kommt er auf den Begriff Emotion zu sprechen, wohl wissend, daß Musik weithin als die "Sprache der Gefühle" (language of emotions) schlechthin angesehen wird. Nicht, daß er der Ansicht wäre, man könne Musik von Emotion abtrennen: "es gibt keine musikalische Erfahrung ohne Emotion, es gibt keinen anderen Weg, einen musikalischen Kontext zu begreifen - die Bewegung von Tönen zu erfassen -, als daran teilzunehmen, sich innerlich mit ihnen zu bewegen: und solch eine innere Bewegung erfahren wir als Emotion.
    Aber die innere Bewegung des Menschen ist die eine Sache, die Bewegung der Töne eine ganz andere, und die letztere ist die Ursache der ersteren, nicht umgekehrt. Zu behaupten, daß die essentielle Natur der Musik im Emotionalen liege, entspricht der Antwort an einen Menschen, der fragt, was es mit dem Feuer auf sich habe: es sei das, was ihn wärmt. Während genau diese Tatsache, daß es wärmt, ihn ja zu der Frage bewegt hatte, was es mit dem Feuer auf sich habe. Dies läßt sich auf die Situation des Komponisten ebenso anwenden wie auf die des Zuhörers: auch die Emotionen des Komponisten sind die Folge, nicht die Ursache der tonalen Bewegungen, in diesem Fall jener tonalen Bewegungen, die in seinem eigenen Geist entstehen.[...]
    Die strenge Trennung des musikalischen Phänomens von seinen psychologischen Konsequenzen läßt aber nun die wesentliche Frage in den Brennpunkt treten. Was ist das für eine Sache, die wir beschrieben haben, - Bewegung von Tönen auf dynamischen Feldern -, daß es den Menschen in solch einer Weise bewegen kann? Was ist der Mensch, daß dieses Fast-Nichts, dieses 'Nichts als Töne' zu einer seiner bedeutsamsten Erfahrungen werden kann?"
    (Zuckerkandl 1959/71 S.245f, Übers.: J.R.)

  44. Dvoráks imaginäre Folklore
    Schon in seinen "Klängen aus Mähren" op.20 transponierte er nur die Idee von Volksmusik in die Kunstmusik, nicht konkrete musikalische Gedanken, die ihm in Gestalt notierter Volksliedmelodien vorlagen. Stattdessen schuf er aus ihrem Geist und aus dem Rhythmus der Texte etwas Neues, das allenthalben als zutiefst mährisch empfunden wurde. Nicht anders steht es mit dem slawischen Ton, den er im Klaviertrio op.21 vom ersten Takt an so eindringlich präsentiert, als betrete er eine neue Welt; gerade jener Ton, den er wahrhaftig 20 Jahre später mit dem Ton der Neuen Welt verbinden sollte, als sei es ein und derselbe.
    Denn ob er nun Originalmotive aus Indianerliedern und "Negermusik" verwendete oder ob er sie transformierte, - seine "amerikanischen" Werke der 90er Jahre klingen nicht weniger slawisch als etwa das unmittelbar vorher entstandene "Dumky"-Trio, das sich auf eine imaginäre ukrainische Balladenform bezieht. Man vermutet sogar, "daß der Komponist selbst über das eigentliche Wesen der Dumka im Unklaren verblieb"
    (Roger Fiske 1973).
    Merkwürdigerweise erschienen Dvorák die unterschiedlichsten Musikstile als strukturell ähnlich; vielleicht weil er auf Skalen fixiert war. "Zunächst wandte sich Dvorak bei seinen Studien besonders den in den Indianerliedern verwendeten Tonskalen zu. Er verglich sie mit denjenigen der Negerlieder und fand heraus, 'that the music of the two races bore remarkable similarity to the national music of Scotland.' [...]" Zwar sind die dann "von Dvorák genannten Skalen - die pentatonische Durtonleiter, die durch Auslassung der vierten und siebten Stufe zustandekommt, und die natürliche Molltonleiter ohne die sechste Stufe - in der indianischen Musik vorhanden. Doch sind neben diesen beiden Leitern, von denen besonders die letztere überhaupt nicht typisch indianisch ist, auch noch andere Leitern in der indianischen Musik verbreitet. Vielmehr handelt es sich um Skalen, die, wie Dvorák mit seinem Hinweis auf Schottland ja schon selbst andeutet, in der Volksmusik mehrerer Völker vorhanden sind und die auch bereits in der europäischen Kunstmusik zur musikalischen Färbung benutzt worden waren."
    (Wild 1996 S.57)
    Indem er das Slawische mit dem Amerikanischen vermengte, schuf er ein Idiom, das auf dem Musikmarkt als Folklore-Esperanto verstanden wurde, zumal er es immer überzeugender mit einer Art Kunstmusik-Esperanto (Brahms plus Wagner) verbunden hatte.
    Innerhalb des melodisch-harmonisch höchst differenzierten Entwicklungsstandes auf der Klassikebene war es - zumindest für Außenseiter oder Seiteneinsteiger - immer schwerer geworden einen unverwechselbaren persönlichen Ton finden, - was für eine Entdeckung, daß solche ethnische Diatonik oder auch eindeutig nationale Färbung in einer Weise willkommen geheißen wurden, als zeige sich darin eine neue Form der Subjektivität!
    Brahms legt seinem Verleger die "Klänge aus Mähren" seines jungen tschechischen Kollegen mit besonderem Hinweis aufs "Pikante" ans Herz.
    (12.12.1877, s. Šourek 1954 S.35)
    Die offizielle Musikgeschichtsschreibung gibt sich mit dem Pikanten (Originalen, Nationalen) noch nicht ohne den relativierenden Hinweis auf gewisse Unregelmäßigkeiten zufrieden.
    Franz Brendels "Geschichte der Musik", die 1851 erschien und bis 1902 beständig ergänzt wurde, kommentiert die musikalische Entwicklung dieser Jahrhunderthälfte folgendermaßen:
    "Je bestimmter der musikalische Ausdruck wurde, je vielseitiger und detaillierter sich die Ausdrucksmittel durch Vervollkommnung der Kompositionstechnik herausbildeten, umsomehr konnte der Tonkunst durch die verschiedenen Völker ... ein charakteristisch nationales Gepräge aufgedrückt werden, und so sehen wir denn in jüngster Zeit das Nationale in der Musik in einer Weise hervortreten, wie sie für die weitere Entwicklung der Kunst von nachhaltigem Einfluß zu sein vermag."
    (Brendel 1903 S.623)
    In konkreten Einzelfällen wird diese optimistische Beurteilung deutlich abgeschwächt und auf gängige Begriffe wie 'Originalität' oder 'Individualismus' ausgerichtet. Zu Grieg etwa heißt es:
    "Enthalten auch viele seiner Kompositionen ... in ihrer charakteristischen Darstellung norwegischer Eigenart für unser Empfinden unzugängliche Härten, so kommt doch in ihnen eine ausgereifte künstlerische Individualität von imponierender Größe zur Erscheinung."
    Zu Dvorák: "Fast auf allen Gebieten des Tonreichs thätig, und mit allen Stilarten vertraut, weiß er sich trotz seiner nach deutschen Begriffen nicht einwandsfreien Satzweise eine achtunggebietende Originalität zu wahren."
    (Brendel a.a.O. S.624)

  45. Vom Turm zu Babel
    "Vor allem sollten wir nach den Menschen fragen, die darüber entscheiden, welche Informationen digitalisiert werden und welche nicht; und ob uns in der Flut der Informationen noch Zeit zur Erinnerung und Gedächtnis genug bleibt, uns anders zu erinnern als an die perfekte Beherrschung des Netzes. Denn wie immer wir uns die neue Welt vorzustellen suchen, es wird eine zerebrale Welt sein, eine vom Gehirn dominierte Welt, die versuchen wird, die Unterschiede auf der Erde zu tilgen, die Einheit vollkommen zu machen. Wir könnten darüber einen Kulturverlust erleiden, weil Kultur Verschiedenheit bedeutet und Arnold Brost zu Recht den Beginn der Kultur mit der großen Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel einsetzen ließ.
    Der neue Turm - und das ist fast eine romantische Geschichte - führt in die Zeit vor der Sprachverwirrung zurück, zur Einheitssprache, zur nivellierten Weltkultur mit den Flughäfen als den großen Treffpunkten einer ständig vor sich selbst und ihren Möglichkeiten fliehenden Menschheit. Die Frage nach den Inhalten aber, nach der Bedeutung von Sprache, nach der Relevanz von Information, könnte die Perspektive auf die Informationsgesellschaft so verschieben, daß sie zu einer Wissensgesellschaft würde: Dort wüßte der Mensch noch genügend von sich selbst, um zu erkennen, daß der Wind auf der Haut, der Duft frischer Erde für das Leben ebensowichtig - oder gar wichtiger - sind wie der Internetanschluß und die Möglichkeit, jetzt beim Telefreund in Australien und im nächsten Augenblick wieder ganz bei sich selbst zu sein."
    (Frühwald 1996 S.12)

  46. Am Ende dieses Jahrhunderts nehmen die tagespolitischen Texte zur Globalisierung überhand, und viele lassen sich unvermerkt musikethnologisch lesen; ein Beispiel aus dem Magazin Der Spiegel:
    "Intellektuelle sind die Erfinder und Hüter der großen Erzählungen - über unser Woher und Wohin, über unsere Mythen von Sinn und Richtung der Geschichte. Derzeit scheint es nur eine große Erzählung zu geben, sie handelt vom Konflikt zwischen Globalismus und Partikularismus - zwischen den Kräften von Technologie, Kapital und Wissenschaft, die uns in die globale Gleichheit treiben, einerseits und der Tradition von Sprache, Kultur, Religion und Identität, die unsere Unterschiede bewahrt, andererseits.
    Die meisten Intellektuellen schlagen sich auf die partikularistische Seite und leihen ihre Stimme einer Rhetorik der Niederlage und Demoralisierung in einer von MacDonald's und Microsoft beherrschten Welt. Doch kann man das Besondere nicht verteidigen, ohne die historische Funktion der Intellektuellen zu opfern, nach der Allgemeingültiges, Urbanes gegen Stammesverhalten, Nationalismus und ethnisches Denken verteidigt wurde."
    (Ignatieff 1997)

  47. Was bleibt?
    "Daß ein Werk es einzig sich selbst, seiner Struktur und seinem Ausdrucksgehalt, verdanke, wenn es Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte überlebt, ist ein moderner Aberglaube. [...] D
    as eine Extrem ist die Unverwüstlichkeit mancher anonymen oder in die Anonymität abgesunkenen Stücke, die wie La Paloma unversehens ein Jahrhundert alt werden, ohne daß jemals eine Restauration, sei sie durch die Lust am Entdecken oder durch die am Kommerz motiviert, notwendig gewesen wäre.
    Das andere bildet ein literarischer Ruhm, der sich eher an den Namen eines Komponisten als an seine Werke heftet und totes Wissen von vergangener historischer Bedeutung bleibt. [...] Andererseits wird manches Entlegene und Ferngerückte bewahrt und tradiert, sofern es, wie der gregorianische Choral, institutionellen Charakter hat, der es davor schützt, ästhetischen Urteilen ausgesetzt zu sein. [...] Der institutionellen Fundierung des Überdauerns ist die funktionale nicht unähnlich, mögen auch praktische Motive vorherrschen und die Affekte schwächer sein.
    Das Violinkonzert von Tschaikowsky und das Cellokonzert von Dvorak werden solange als unsterblich gelten, und sei es noch durch Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte, bis sie in der Funktion, die sie erfüllen, durch andere Werke ersetzt oder verdrängt sind.
    Eine bloß ästhetisch-kompositionstechnische Kritik, so begründet sie ist, bleibt wirkungslos gegenüber den Forderungen des Betriebs, in denen Trägheit und Sachzwang sich trübe mischen. Erst wenn Bartók und Berg zu Klassikern avancieren - und man kann im Zweifel sein, ob man es ihnen wünschen soll -, wird Tschaikowsky aufhören, einer zu sein."
    (Dahlhaus 1967 S.146)

  48. Abschluß eines Lexikon-Essays über "Aesthetics of Music":
    "...for it may be that music as we have known it is proper to a phase of civilization that is passing away."
    (Sparshott, 1980, S.133)

  49. Ein anderer Schritt in die Neue Welt
    Im Jahre 1893 ließ sich die amerikanische Forscherin Alice Fletcher in die Gesänge der Omaha-Indianer einweisen.Sie beschrieb, wie die Praxis ihr half, durch das Geräusch der oberflächlichen Eindrücke hindurchzuhören, "listen below the noise", und sie bemerkte, daß ihre Niederschriften der Omaha-Musik in einer einzelnen Melodielinie nicht den Reichtum des Obertonklangs der Choraufführung wiedergab, ebensowenig wie die Klavierwiedergabe solcher Transkriptionen Resultate ergab, die von den Indianern musikalisch wiedererkannt oder akzeptiert wurden.
    Sie fand heraus, daß die Indianer eher bereit waren, eine mit Akkorden versehene Klavierwiedergabe zu akzeptieren, und sie hätte womöglich ein interessantes frühes Beispiel angewandter Musikethnologie und Akkulturation gegeben, hätte sie den Fall schlicht als Experiment behandelt und nicht an einen Experten europäischer Musik (Fillmore) zur weiteren Behandlung weitergereicht.
    (nach Ter Ellingson 1992 S.121 f)

  50. Die musikalische Entdeckung der Neuen Welt schien vor 100 Jahren unter musikethnologischem Aspekt nicht eben zukunftsträchtig. Heute zeichnet sich ab, daß gerade die weitere Erforschung einer zweiten Welt in der Neuen Welt noch ungeahnte Perspektiven zu öffnen vermag.
    Und sie sind von Dauer.




Literatur

  • Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik /Frankfurt am Main 1958
  • Adorno, Theodor W.: Musik und Technik, 1958, in "Klangfiguren" / Frankfurt am Main 1959
  • Adorno, Theodor W.: Mahler / Frankfurt am Main 1960
  • Bach, Johann Sebastian: Leben und Werk in Dokumenten, Bärenreiter, 1975
  • Bartók, Béla: Ungarische Volksmusik und neue ungarische Musik, Vortrag 1927,
    in: Béla Bartók / Leben und Werk / Schriften und Briefe / Herausg. Bence Szabolcsi / Kassel 1972
  • Bartók, Béla: Vom Einfluß der Bauernmusik auf die Musik unserer Zeit / Vortrag 1931/ in:
    Béla Bartók / Leben und Werk / Schriften und Briefe / Herausg. Bence Szabolcsi / Kassel 1972
  • Berendt, Joachim-Ernst: Nada Brahma - Die Welt ist Klang / Hamburg 1985
  • Blacking, John: The Value of Music in Human Experiences / Yearbook of the International Folk Music Council Vol.1 Illinois 1969
  • Blacking, John: How musical is man? / Seattle and London 1973
  • Brendel, Franz: Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich / Leipzig 1903
  • Chernoff, John Miller: Rhythmen der Gemeinschaft / München 1994
  • Couperin, Francois: L'art de toucher le clavecin 1717 / Wiesbaden 1933
  • Dahlhaus, Carl: Musikästhetik / Köln 1967
  • Daniélou, Alain: Einführung in die indische Musik Wilhelmshaven 1975
  • Dauer, Alfons M.: "Don't call my music Jazz!" in: Aspekte zur Geschichte populärer Musik / Baden-Baden 1993
  • Ellingson, Ter: Transcription / in: Ethnomusicology, an Introduction, edited by Helen Myers / New York und London 1992
  • Federhofer, Hellmut: Anton Bruckner im Briefwechsel von August Halm und Heinrich Schenker/ in: Anton Bruckner / Studien zu Werk und Wirkung / Tutzing 1988
  • Feld, Steven: CD Booklet "Voices of the rainforest" ryko RCD 10173
  • Feld, Steven: Sound and Sentiment / Birds, Weeping, Poetics, and Song in Kaluli Expression / Philadelphia 1982
  • Fiske, Roger: Vorwort zu Antonin Dvorák "Dumky"-Klaviertrio, Op.90 Eulenburg Taschenpartitur 1973
  • Frühwald, Wolfgang: Vor uns die Cyber-Sintflut DIE ZEIT: ZEIT Punkte 5/96
  • Gesner, J.M.: Fußnote zu M.F.Quintilian 'De Institutione Oratoria', 1738, Orig. lateinisch, zit. nach: Johann Sebastian Bach Leben und Werk in Dokumenten, Bärenreiter, Kassel 1975
  • Goebel, Reinhard: CD-Booklet "Johann David Heinichen: Zwölf Concerti Grossi" 1993 Archiv Prod.437 550-2
  • Gröschel, Albrecht: Die Ungleichzeitigkeit in der Kultur; Wandel des Kulturbegriffs in vier Generationen / Essen 1995
  • Gülke, Peter: Franz Schubert und seine Zeit, 1991
  • Günther, Helmut: in Musik in Afrika, herausgeg.von Artur Simon, Berlin 1983
  • Haas, Robert: Aufführungspraxis / Potsdam 1931
  • Halm, August: Beethoven / 1927/ Darmstadt 1976
  • Halm, August: Von zwei Kulturen der Musik / 1913 / Stuttgart 1947
  • Kolneder, Walter: Das Buch der Violine / Zürich u. Freiburg i.Br. 2/1978
  • Kuckertz, Josef: Form und Melodiebildung in der karnatischen Musik Südindiens, Wiesbaden 1970
  • Lynne Hanna, Judith: "Dance" in: Ethnomusicology An Introduction edited by Helen Myers / New York - London 1992
  • Ignatieff, Michael: Rhetorik der Niederlage in Der Spiegel 21/1997 S.193 f
  • Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner / 1888
  • Orenstein, Arbie: Maurice Ravel / Stuttgart 1978
  • Reichow, Jan: "Lieben Sie Dvorak?" CD-Booklet zu Antonin Dvorak Klaviertrios I Intercord 1993
  • Rexroth, Dieter: Beethoven / Mainz 1982
  • Sarno, Louis: Bayaka - The extraordinary Music of the Babenzélé Pygmies / New York 1995
  • Schindler, Anton: Biographie von Ludwig van Beethoven / III 1858/60 / Leipzig 1970
  • Schleuning, Peter: Das 18. Jahrhundert: Der Bürger erhebt sich /Hamburg 1984
  • Schmidt-Görg, Joseph (Herausg.): "Des Bonner Bäckermeisters Gottfried Fischer Aufzeichnungen über Beethovens Jugend" Bonn 1971
  • Scheibe, J.A.: Der Critische Musicus - Hamburg, 1737 in: J.S.Bach - Leben und Werk in Dokumenten / 1975
  • Schreiber, Wolfgang: Gustav Mahler / Hamburg 1971
  • Shankar, Ravi: Meine Musik, mein Leben / München 1969
  • Solomon, Maynard: Beethoven / München 1979
  • Šourek, Otakar(Hg.): Antonin Dvorák in Briefen und Erinnerungen /Prag 1954
  • Šourek, Otakar: Antonin Dvorák / Werkanalysen II / Kammermusik / Prag 1955
  • Šourek, Otakar: Revisionsbericht der Taschenpartitur von op.21 / Prag 1958
  • Sparshott, F.E.: Aesthetics of Music / in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians I / London 1980
  • Telemann, Georg Philipp: "Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen" Eine Dokumentensammlung / Leipzig 1985
  • Torberg, Friedrich: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten / 1975
  • WDR-Sendereihe (seit 1995) Ethnotonic - die Entdeckung der fremden Musik mit Barbara Wrenger und Andreas Koepp (Gesprächspartner 6.7.96: Simha Arom)
  • Weber, Carl Maria von: Briefe/ herausgegeben von Hans Christoph Worbs / Frankfurt am Main 1982
  • Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus 1904/05
  • Wild, Regine: Lieder der nordamerikanischen Indianer als kompositorische Vorlagen / Köln 1996
  • Wiora, Walter: Die vier Weltalter der Musik / Stuttgart 1961
  • Zuckerkandl, Victor: The Sense of Music / Princeton, New Jersey 1959, 1971



Gedruckt in:

...und der Jazz ist nicht von Dauer
Aspekte afro-amerikanischer Musik
Festschrift für
Alfons Michael Dauer

Herausgegeben von Bernd Hoffmann und Helmut Rösing
in Zusammenarbeit mit der
Internationalen Gesellschaft für Jazzforschung Graz

CODA 1998
ISBN 3-00-003272-X

Jan Reichow © 2005





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