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"Wieviel Töne braucht der Mensch" Vom Wesen und Ziel der Melodie Eine Sendung von Jan Reichow Deutschlandradio Kultur 14. Juni 2007 Musiktraditionen 22:00 - 22:30 Uhr Technik: Alexander Hardt, Rheinklang Tonstudios Köln (www.rheinklang.de) Redaktion: Hanni Bode (Unmittelbar an die Live-Ansage des Sendungstitels anschließend:) Tja, wieviel Töne braucht der Mensch? Vor allem der Untertitel dieser Sendung sagt sich gar nicht so leicht: 1) Johann Sebastian Bach: Matthäuspassion, Teil II 2) Romica Puceanu & Orchestra Florea Cioaca 3) Dadra / Punjabi Melody (trad./ohne) Dauer 0:39 Der Anfang von Johann Sebastian Bachs Arie "Erbarme dich, mein Gott", das Akkordeon-Thema eines rumänischen Gesangs mit Romica Puceanu und eine Melodie aus der indischen Landschaft Punjab mit dem Santurmeister Shivkumar Sharma.
4) Franz Schubert: Streichquintett C-dur D 956 2. Satz Adagio Das, was unsere Aufmerksamkeit hier am meisten beansprucht, diese leisen Rufe der ersten Violine, ist eigentlich ein Rezitativ, keine Melodie, - die genau genommen in den mittleren Streichern liegt, aber so langsam verläuft, dass wir sie als Ganzes nicht erfassen können. Kunstmusik, deren Wirkung nicht selten in ein unfassbares Medium gehüllt ist, aus dem sie uns als ein Rätsel anschaut.
5) Predigerin aus Philadelphia / Dauer: 0:35 6) Irische Tänze (Trad./ohne) Butterfly / Morning Dew / Flower of Magherally / Dauer: 1:10 Als Kontrastprogramm zur schwarzen Predigerin aus Philadelphia spiele ich hier Tanzmelodien aus Irland, vielleicht etwas übertrieben akzentuiert, vor allem diese letzte, die - ehrlich gesagt - gar keine ist; das Tempo stimmt nicht, ich werde sie mal eben etwas entschleunigen, um ihrem wahren melodischen Wesen näherzukommen. (Violinmelodie wird immer langsamer) Hören Sie, was geschieht? Die einzelnen Töne gewinnen an Bedeutung, man nimmt die Abstände, die Intervalle wahr, Wellenlinien, Registerwechsel. Man stampft nicht mehr, man atmet. Die menschliche Stimme darf in Erscheinung treten. Ein Instrument der Imagination, es lässt die gegenwärtigen Töne klingen ... als seien sie aus ferner Vergangenheit erinnert. Und so entsteht: die Dehnung der Gegenwart. 7) Flower of Magherally (Trad./arr. Deirdre Starr & Jon Mark) Dauer: 1:05 Gewiss: die reale Dauer gehört zur Melodie.
Trotzdem kann man nicht leugnen, dass es oft nur ein Bestandteil der Melodie, ein Motiv ist, das einem nicht aus dem Sinn geht und nach dessen Wiederkehr man sich sehnt. Aber man braucht dafür die gesamte Umgebung. Den gesamten Film. Oder: das eine Motiv taucht auf, - und der ganze Film ist da. 8) "Man with a Harmonica" Soundtrack "Once upon a time in the west" Dauer: 1:15 (nach 30 sec unter folgenden Text) Sie hören zwei Töne, die echohaft ineinanderfließen. Es erinnert an einen fernen Schrei (tatsächlich: es ist dunkle Erinnerung, ein Trauma!), dann ein dritter Ton, der etwas Orientalisches hineinbringt ("Es war einmal" - "Once upon a time"); der Fortgang etwas leiernd, mechanisch wie ein Uhrwerk, und - ein Zielpunkt zeichnet sich ab: es war ein "Intro", es sagt: die wahre Melodie steht erst noch bevor. Und trotzdem ist es dieses Intro, das Vergangenheit wie Zukunft birgt.(bis zum metallischen Grundton, dann schnell ausblenden) Und wiederum zwei Töne, Klagerufe, in diesem Fall als Kern oder Ziel eines melodischen Ausbruchs: "O-weh!" 9) Gustav Mahler: "Ich hab ein glühend Messer" Dauer: 0:19 Aus den "Liedern eines fahrenden Gesellen" von Gustav Mahler.
10) Herati Lullaby / Sänger: Abdul Wahab Madadi (1968) Dauer: 0:41 11) Field Cry aus: Negro Folk Music of Alabama Dauer: 0:49 Drei Töne, unterschiedlich gegliedert, von unterschiedlichem Ausdrucksgehalt.
12) Zwei syrisch-libanesische Volkslieder im Maqam Sikah (trad./ohne) Dauer 0:50 Wir haben die drei Töne also noch längst nicht ausgeschöpft, - aber nehmen wir zunächst das äußerste an melodischer Vereinfachung, was wir aus unserer näheren Umgebung kennen: einen Choral, der nur 5 Töne verwendet, ein Kräftefeld sondergleichen, wenn man ihn genauer betrachtet. Ich folge dem Musikästhetiker Victor Zuckerkandl. Wir haben zunächst nur 3 Töne, eine erste Bewegung, aufwärts und zurück, zweimal, sie etabliert den ersten Ton als Grundton. 13) Geige Choral: "Seid froh dieweil" 1. Zeile zweimal / Dauer: 0:10 Was kommt dann? Der Gegenpol, die Quinte, deren Tendenz sofort als abwärts gerichtet erkennbar ist, sie will zurück zur etablierten Ebene, und die Melodie erfüllt diesen Willen, - jedoch nicht vollständig: gerade dort, wo die Spannung am größten ist, einen Ton über dem Grundton, hält sie inne. 14) Geige Choral: "Seid froh dieweil" 2. Zeile / Dauer: 0:08 Was wird nun geschehen?
15) Geige Choral: "Seid froh dieweil" 3. + 4. Zeile / Dauer 0:16 Die Fortsetzung des Chorals, der zweite Teil, ist insgesamt eine Wiederholung des ersten, ohne so zu beginnen wie der erste, - also nicht mit der Etablierung des Grundtons (die ist ja vollzogen), sondern mit der diesem entgegenwirkenden Kraft, der Phrase: 16) Geige Choral: "Seid froh dieweil" 5. Zeile / Dauer: 0:10 Und sie wird sogar wiederholt, (nochmal spielen), sie insistiert also: d.h. wir haben nun zwei Versuche in Richtung Grundton, die fehlschlagen. Das bedeutet, dass die nun - wie im ersten Teil - aufsteigende Phrase gegen eine größere Kraft anzukämpfen hat (schon spielen). Dadurch erhält die dann schließlich doch vollzogene Rückkehr zum Grundton eine viel größere Emphase als beim ersten Mal. 17) Geige Choral: "Seid froh dieweil" 6. Zeile + Abschluss / Dauer: 0:18 Zwei Folgerungen fügt Zuckerkandl an:
18) Imrat Khan demonstriert die Improvisation mit wenigen Tönen / Dauer: 0:56 Natürlich spüren wir, dass im Hintergrund ein ganzes System von Tönen und Skalen steht, über das die indische Kunstmusik verfügt.
19) Geige 5 Töne //:cis, h, a, gis :// gis / a a h h / cis cis h a / gis- fis Johann Sebastian Bach hat es nicht als seine Aufgabe empfunden, die rein melodischen Kräfte dieses Chorals zu entbinden: er unterwirft ihn einer gewaltigen harmonischen Prozedur, deren höheres Ziel ist, eine Dynamik zu schaffen, die auf das nächste Ziel zuläuft: auf die Wiederholung des großen Chors "Herrscher des Himmels", und damit den dritten Teil des Weihnachtsoratoriums zu krönen. So kurz dieser Choralsatz ist: die rein melodische Balance der Melodie geht aus den Fugen, aber was nun dasteht, ist ein harmonisch-kontrapunktisches Wunderwerk. 20) Johann Sebastian Bach: Weihnachtsoratorium Teil III Sie wissen, - Bethlehem, - die Hirten auf dem Felde. Beduinen!
21) Syrisches Volkslied Abou-z-zouluf (trad./ohne) Dauer: 0:40 Das ist Volksmusik, genügsam und bescheiden, aber doch höchst lebendig! Und doch kann eine große professionelle Sängerin mit Hilfe derselben Melodie einen Triumphgesang sondergleichen inszenieren; ihre Stimme gehört mit dem längstmöglichen Forte-Triller ins Buch der Rekorde. 22) "Abou-el-zolof" mit der libanesischen Sängerin Sabah (trad./ohne) Dauer: 1:10 Die libanesische Sängerin Sabah. Ein Sprung im Glas der Stundenuhr, es klingt, als ob es um einen Sieg über die Zeit geht.
23) El Cant de la Sibilla / Weihnachtsgesang aus Mallorca (trad./ohne) Dauer: 2:10 El Cant de la Sibilla mit der katalanischen Sängerin Maria del Mar Bonet.
24) Geige: "Au clair de la lune" Volksliedmelodie aus Frankreich (trad./ohne) Dauer: 0:25 Oder diese: 25) Geige: Punjabi-Struktur (trad./ohne) Dauer: 0:40 (unter folgendem Text beginnt Shivkumar Sharma mit derselben Melodie) So wenig Töne also braucht der Mensch, ungefähr 6, wie in dieser Melodie aus dem Punjab, 26) Dadra / Punjabi Melody (trad./ohne) Dauer: 1:45 [ s.a. Vortrag "Melodien... Vom Choral zum Raga", Burg Fürsteneck 26. Mai 2007 ] |
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