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Melodien... Vom Choral zum Raga
Vertrautes und Unvertrautes Hören
Ein Vortrag von Jan Reichow
mit 65 Hörbeispielen (CD und Violine live)

Burg Fürsteneck
26.05.07 Pfingstsamstag 9:15 bis 12:30 Uhr
Initiator: Karsten Evers

Jan Reichow beim Vortrag in Burg Fürsteneck, 26.05.07 (Ausschnitt) - Photo © Bühler / Burg Fürsteneck 2007

(Foto: © Georg Bühler / Burg Fürsteneck)

Ich will Ihnen heute morgen nicht unbedingt allzu viele schöne Melodien vorspielen, sondern das Rüstzeug nahebringen, sehr unterschiedliche Melodien zu beurteilen, - und auch schätzen zu lernen, wenn sie nicht nach einem bereits vertrauten Schema verlaufen.
Was meinen wir eigentlich, wenn wir im nachdrücklichen Sinn von Melodie sprechen? Was ist das? Wohlgemerkt: im strengeren Sinne, wenn wir also nicht Erweiterungen, Dehnungen des Begriffs verwenden, wie z.B. rheinische Sprachmelodie, Schönbergs Klangfarbenmelodie, und auch nicht unbedingt den gesamten klassischen Kontext voraussetzen wollen.
Jeder hat zumindest zeitweise solch eine Melodie, oder mehrere, die ihn begleiten oder verfolgen, oft kaum trennbar von der Stimme, die die Melodie vermittelte oder auch von der Situation, in der sie uns begegnete.
Wir unterscheiden dies zunächst einmal vom bloßen klangvollen Rezitieren (mit Tonwiederholung) oder Psalmodieren, also Vortragsformen, die lediglich die Tonhöhe, die beim Sprechen fluktuiert, fixieren. Auch das kann erregend sein und sich ins Gedächtnis eingraben, aber wir würden hier niemals von Melodie sprechen.
Was geschieht denn bei der Fixierung der Tonhöhe? Man stilisiert, man verleiht der Aussage etwas Unalltägliches, vielleicht sogar Sakrales.
Man kann dabei sogar eine Gemeinschaft als solche besser hörbar machen, wenn man sie auf einen Ton einschwört ("A-men"), - zustimmendes Gemurmel wäre zu wenig.
Aber auch das Individuum gewinnt eine suggestive oder sogar erregende Bedeutung: wenn es uns diesen einen Ton, oder zwei Töne, entgegenhält oder entgegenschleudert, man kann ihm schwerlich ausweichen.

01) CD Tr. 1) Predigerin aus Philadelphia (erregtes Quart-Intervall)
Dauer: 0:35
Les Voix du Monde / Une Anthologie des Expressions Vocales
CD I/25 États-Unis, Philadelphie: Sermon d'un pasteur femme
Harmonia Mundi CMX 3741010.12 (LC 07045)

Warum fixiert man eigentlich beim Ruf die Tonhöhe? Weil nichts sich so sehr vom zufälligen Geräusch unterscheidet wie der gehaltene oder genau getroffene Ton. Er erzwingt Aufmerksamkeit. Es gibt nichts, was so eindeutig auf ein Lebewesen hindeutet wie der fixierte Ton (die Fixierung unterliegt einer Willensanstrengung).
Und wenn ein Ton ausgehalten wird, will jemand hörbar eine Distanz überbrücken, nicht nur brüllen oder ein Inneres expressiv nach außen schicken, hervorstoßen, etwa aufgrund eines Leidensdruckes, (auch das Stöhnen kann einen Ton erzeugen, aber nur vorübergehend, sonst ist es ein Spiel; Weinen ist mit einem gleitenden Wechsel der Tonhöhe verbunden).
Durch Tonhalten will jemand dauerhaft seinen Platz markieren und dem Anderen seinen Standort andeuten, vielleicht auch ihm einen Grenzpfahl entgegensetzen. Jedenfalls eine Ruf-Distanz vom Ich zum Anderen überbrücken.
All diese Funktionen kennen wir auch aus dem Tierreich.
Eine Frage, der wir heute nicht nachgehen: wo beginnt eigentlich die Musik, die Melodie, die sinnvoll gegliederte Ton-Äußerung. Das Singen - und Zuhören? (Beides gehört zusammen.) Erst beim Menschen?

02) CD Tr. 2 Australischer Singvogel (mit Dreiklang & Formgefühl)
Dawn Solo from Pied Butcherbirds of Spirey Creek Dauer: 0:42
recorded by David Lumsdane
Mutawinji Tall Poppies TP 091

Der Musikästhetiker Victor Zuckerkandl schreibt:
"Der Ton ist unter den vielfältigen eigentümlichen Erfahrungen unserer Sinne die einzige, die an Leben gebunden ist. Licht und Farbe, Geräusch, Geruch, Geschmack, das Feste, Flüssige, Luftige, das Rauhe und das Glatte, Heißes und Kaltes, das alles gibt es auch in der unbelebten Natur. Eine Lebensregung allein aber vermag Töne hervorzubringen. Den Ton fügen Lebewesen zu der sinnlichen Welt, die sie vorfinden, von sich aus hinzu; es ist sozusagen das Geschenk des Lebens an die unbelebte Natur. Ein Forscher, der zuerst einen anderen Planeten beträte, nicht wissend, ob er organisches Leben dort vorfinden würde, brauchte nur einen Ton zu hören, und seine Frage wäre beantwortet."
(Victor Zuckerkandl: Die Wirklichkeit der Musik / Zürich 1963 / S. 7).


Über den Ton wäre noch viel zu sagen, über den Ton an sich, aber lassen Sie uns diesen Ton einfach erstmal in den Raum stellen und uns dann anderen Tönen zuwenden.
Normalerweise bekommen wir immer ein "Paket" geliefert, ein melodisch-harmonisch-rhythmisches, und können nicht genau sagen, an welcher Stelle gerade die Wirkung welchen Bestandteils deutlicher hervortritt.
Aber schnüren wir dieses Paket einmal auf, - so haben wir zunächst einmal EINEN Ton, von dem wir zu einem zweiten gehen. Das kann jeder sein, aber beginnen wir mit dem nächstliegenden. Was spüren wir?
03) Live: Der Ton der indischen Shruti-Box (Bordun), dazu einzelne Töne der Tonleiter singen (Relationen!)
Ton 2 will zurück. Dem können wir nachgeben oder widerstehen. (singen)
Er will zurück, das ist seine dynamische Qualität.
So könnte man auch in weitere Tönen hineinhorchen und käme doch bald an ein Ende, man sagt: die Quinte, der fünfte Ton, ist der erste, der nicht unbedingt zurückwill; dafür hat der sechste Ton, die Sexte, wieder eine starke Tendenz zurück zur Quinte. Der siebte aber, sofern er erhöht ist, hat nur ein Ziel: er will in die Oktav des Grundtons leiten.
Er muss es nicht, wenn Sie nicht wollen, aber letztlich müssen Sie das dann auch aushalten können! Und mit diesem Erlebnis wird der heutige Vortrag enden.

Dabei lassen wir's vorerst bewenden und werden ganz konkret: Melodie! Es geht uns dabei nicht um alles, was man mit diesem Wort bezeichnen kann, - wir kämen aus dem Aufzählen nicht heraus: ich könnte alle Titel eines Liederbuches vorlesen, jedes hat eine Melodie, jede ist anders und verdiente eine besondere Würdigung "Horch was kommt von draußen rein", "Auf der schwäbschen Eisenbahne" "Süßer die Glocken nie klingen" usw. -
Es geht um das Prinzip des Melodischen, die Melodie soll nicht einfach hübsch und leicht zu behalten sein, sondern zwingend, in einer besonderen Gestalt.
Manchmal durchaus nicht leicht zu behalten, nehmen Sie die berühmte Melodie des Boléro von Maurice Ravel, jeder kennt sie, aber prüfen Sie mal, wer sie genau nachsingen kann...
Wann wird ein Teilstück wiederholt, wann wird ein Ton länger, wann weniger lange ausgehalten etc. (Das ist wesentlich, wird von uns aber i.a. nur unterschwellig wahrgenommen.)

04) Live Geige: Boléro-Melodie (Ravel) in G / Erster Teil
Melodien_ 04_Bolero (265K)

Oder nehmen wir ein ganz einfaches Lied, in ABA-Form.
Sie kennen sicher die zauberhafte Melodie "Au clair de la lune", die einem im Sinn bleibt, als enthalte sie noch ein Geheimnis, obwohl sie am Ende doch das gleiche sagt wie am Anfang: eine Art Binsenweisheit, wenn man es böse formulieren will.
Aber das Entscheidende geschieht dazwischen, - schwer zu beschreiben -, und verändert auch das Umfeld:

05) Live Geige: "Au clair de la lune" (Gewicht auf Mittelteil)
Melodien_05_ Au_clair (319K)
Kommentar:
Da wird nach dem ersten der zweite Ton und der dritte Ton intoniert, beide haben die Tendenz zurück: der Terzraum ist geöffnet und die Gravitation führt zurück zum Grundton. Und dann wird ein anderer Raum aufgetan, vom zweiten Ton abwärts über den Grundton hinaus zum 6. Ton, ein Hauch von Traurigkeit, ein Nachgeben dieser Sexte zur Quinte, und dann wieder der Anfang: alles ist im Lot. A-B-A.

Man möchte meinen, das sei ein universaler Typus von Melodie, und gerade in Kulturen, die keine Notenschrift verwenden und deshalb absolute Meister des melodischen Gedächtnisses hervorgebracht haben, müsste eine solche Melodie sozusagen zu den Grundbausteinen der Musik gehören.
Aber hören Sie nur, wie ein großer indischer Musiker, der genau diese Melodie liebevoll, gewissermaßen als Kompliment an Europa, zitieren will, einen bezeichnenden Fehler macht, wahrscheinlich weil er sich der Wirkung des Mittelteils erinnert.

06) CD Tr. 3 Indischer Meister erinnert sich an "Au clair de la lune" und irrt
Dauer: 0:29 Privataufnahme J.R.

Wir sind also bei der Frage:
Wie werden Melodien gebaut? Wie kommt man überhaupt über ein Anfangsmotiv hinaus? Wie fügen die Teile sich zusammen?
Dieter de la Motte gibt eine ganz einfache Faustregel: entweder gleich, ähnlich oder anders.
Das lässt sich bei dieser Melodie ganz gut beobachten. Der erste Teil wird wiederholt, also gilt zunächst die Formel "gleich", der Mittelteil aber ist "anders", allerdings im Rhythmus auch "ähnlich", am Ende wieder der erste Teil, also "gleich". Ein sehr einheitliches Gebilde.
Aber: was tun, wenn jemand ohne Punkt und Komma weiterredet und immer so ähnlich und immer wieder anders? (Dann handelt es sich womöglich um Kunstmusik.)

Nehmen wir das folgende Beispiel:

07) CD Tr. 4 Bach-Thema: Anfang Brandenburgisches Konzert Nr. V
Dauer: 0:27 Brandenburg Concerto No.5 in D-dur
Concentus Musicus Wien / Leitung Nikolaus Harnoncourt
TELDEC 0630-18654-2 (LC6019)

Warum macht der Komponist nicht folgendes?

08) Live Geige: Voriges Beispiel symmetrisch umkonstruiert (in Cis)
Melodien_08_09_Bach (150K)

Er will nicht in so kleinen Zusammenhängen denken, - er hat zwar auch so angefangen, um die Türflügel zu öffnen, aber nicht um sie gleich wieder zu schließen, sondern um uns hinaustreten zu lassen und den Blick in den Park freizugeben. So wie ich gespielt habe, wären die schmucklosen Türflügel schon das Entscheidende.
Oder nehmen Sie dieses Thema:

09) Live Geige: Bach-Thema Brandenburgisches Konzert Nr. III symmetrisch umkonstruiert (in Fis)

Warum macht es Bach gerade nicht so?
Wieder kann man sagen: er will nicht in so kurzen, lied- oder tanzmäßigen Zusammenhängen denken. Nach der ersten melodischen These folgt keine ähnliche Antwort, sondern eine durchgehende Bewegung von vorausweisender Dynamik: und gerade wenn dann alle Instrumente - gleichsam abschließend - mit einer Stimme sprechen, weiß man doch, dass sie gleich wieder - vielfach aufgeteilt - davoneilen - "durchs Leben tanzen".

10) CD Tr. 5 Bach-Thema: Anfang Brandenburgisches Konzert Nr. III
Dauer: 0:25 Brandenburg Concerto No.3 in G-dur
Concentus Musicus Wien / Leitung Nikolaus Harnoncourt
TELDEC 0630-18654-2 (LC 6019)

Was ich zeigen wollte: an solche Musik kann man nicht mit melodischen Erwartungen oder Vorgaben herangehen. Eine Melodie stellt uns zufrieden, wenn ihr Schlusston erreicht ist; eine solche Musik aber will darüber hinaus, - wohin, - das zu klären, ist heute nicht unsere Aufgabe.
Meine Versionen eben liefen aber auf eine allzu simple Symmetrie heraus, die in einfacher gedachten Melodien sehr schön wirken kann. Und auch vieles in der Schwebe hält. Siehe "O clair de la lune".
Und in der Kunstmusik muss es nicht immer genau so gehen wie bei Bach.
Man kann auch mit symmetrisch geformten melodischen Zeilen den Weg in eine großangelegte Komposition bahnen: Sehen Sie nur, wie Mozart aus dem ewig wiederholbaren - Handy-Klingelton herauskommt.

11) CD Tr. 6) Mozart Kopfthema G-moll-Sinfonie bis vor Seitenthema
Dauer: 0:56 Symphony No. 40, K.550 g-moll
NDR Sinfonieorchester, Leitung Günter Wand
BMG 82876658422 Classic Library (LC 00316)

Mozart ist also um Zäsuren nicht verlegen, ähnlich denen zwischen Melodiezeilen, aber er setzt sie so, dass gewissermaßen immer noch eine Frage offen ist: er ist schließlich spürbar in einer neuen Tonart gelandet, in der nun etwas Neues erwartet wird und - geboten werden muss.
Das ist alles Kunstmusik, die eine Methode ebenso wie die andere..
Im folgenden Beispiel geht es uns um ein anderes Problem.
Wer dieses Stück kennt, wird sicher zugeben, dass es sich um eins der wunderbarsten Beispiele abendländischer Melodik handelt. Nicht in der ersten Violine, die kommentiert nur, rezitativisch. Es sind die restlichen Streicher, die für das im engeren Sinn Melodische sorgen. Aber glauben Sie, dass nur wenige Kammermusikfreunde in der Lage wären, uns die Hauptmelodie als Ganzes vorzusingen? Also - ohne Noten, aus der Erinnerung. Warum?

12) CD Tr. 7 Schubert: "Melodische Harmoniefolge"
Dauer: 1:07 Franz Schubert: Streichquintett C-dur D 956 Anfang 2. Satz Adagio
Ausf.: Hagen Quartett + Heinrich Schiff
Deutsche Grammophon 439 774-2 (LC 0173)

Ist es einfach zu langsam, als dass man es noch melodisch überschauen könnte? Oder ist es eher eine melodisch getönte, getarnte ("bloße") Harmonienfolge?
Dazu in der ersten Geige keine Melodie, sondern nur ein Rezitativ, ähnlich, wenn auch sanfter als bei der überdrehten Predigerin zu Anfang dieses Vortrags.
Nein, wirklich nichts mit "zu langsam", überhaupt nichts mit "zu" oder mit "nur".
Lassen wir es auf sich beruhen; es ist eins der schönsten Musikstücke, die je erfunden worden, unergründlich, von einem der größten Melodiker, die je existiert haben; wir könnten die Melodie herauslösen und einüben, aber am Ende käme heraus, das ist nur einer der Faktoren, die die Ausdruckskraft dieses Werkes ausmachen. Kunstmusik, zweifellos.

Ein ganz anderes Problem stellen uns die Tanz-Melodien. Sie sind singbar, wiederholbar bis zum Gehtnichtmehr, manchmal sogar mitgröhlbar.
Da gibt es keinen Überdruss, es sind ja potentiell alle beteiligt!
Stellen Sie sich das einmal vor, - mit rauhen Männerkehlen, Shantychor Cuxhaven.

13) Live Geige Tanz-Schema:
a) What shall we do with the drunken sailor

Und zwei Tanzstücke mit ähnlicher Struktur, etwas erweitert. Ganz bezaubernd, ich frage nur: - als Melodie? oder als swingende Vorgabe?

b)The Butterfly
c) The Morning Dew
Melodien_13b_d_Irish (345K)
Was meinen Sie? Hier folgt ein weiterer Tanz, den ich allerdings allmählich abwandeln möchte. Würden Sie sagen: die Melodie muss ich mir merken, das ist ja eine wunderbare Linie? Nicht unbedingt. Sie könnten auch andere Töne nehmen oder den bloßen Rhythmus mit den Händen klatschen.

d) Flower of Magherally (im Slipjig-Tempo)
allmählich verlangsamen!

Was geschieht, wenn Sie die Melodie verlangsamen, den Tonverbindungen nachsinnen, Distanzen wahrnehmen, Wiederholungen, Varianten...?

Hier kommt nun dieselbe Tonfolge, - durch "Entschleunigung" zum eigentlichen Leben erweckt, die wirkliche Melodie! ... um es zu gestehen: die schnelle Version gibt es gar nicht. (Außer hier, in meiner Retorte.)

14) CD Tr. 8) Die wahre Melodie von "Flower of Magherally"
2 Strophen "Flower of Magherally" (trad./arr. Deirdre Starr & Jon Mark)
Dauer: 2:06 / Sängerin: Deirdre Starr
White Cloud WZL 11039 Newzealand
www.deirdrestarr.com

Meine These ist die folgende: Eine Melodie wird erst dadurch eine Melodie, dass sie als solche behandelt wird. Sie wird erst Melodie durch liebevolle Behandlung. Durch Atem, Phrasierung, Aufmerksamkeit, Sinn für Tonverbindungen und vor allem: Zeit. Sie eilt nicht, sie neigt zum Verweilen und Nachhorchen.
Aber sofort kommt das Gegenargument: es geht auch ganz anders! Melodie kann auch ganz unpathetisch daherkommen, sie kann sogar geleiert und geplappert werden, seit meiner Kindheit kenne ich diese Spieluhr, und ist das etwa keine Melodie? Jeder kennt sie.

15) Live Alte Spieluhr (vor 1930): O du lieber Augustin (mit Defekten)

Aber demonstriert sie nicht gerade sehr überzeugend, dass alles hin ist? Dass es nicht mehr drauf ankommt, wie oft man es sagt, ob man es leiert oder veralbert, der mechanische Vortrag bringt das Wesen dieses Liedes aufs beste zum Ausdruck. Und es kann ja tatsächlich eine zwingende Form von Ausdruck sein, nichts mehr auszudrücken, nichts mehr ausdrücken zu wollen.
Oder nehmen wir einfach eine mittlere Heiterkeit. "Im Märzen der Bauer". "Alle Vögel sind schon da." "Horch, was kommt von draußen rein." Alles sehr nett. Aber nichts, was man nennen würde, wenn man nach einer Melodie gefragt würde, die einem mehr als alle anderen bedeutet.
Deshalb habe ich zu Anfang auch vorsorglich von Melodie im emphatischen Sinne gesprochen. Eine Melodie, die das Melodische schlechthin verkörpert.
Aus diesem engeren Kreis des Melodischen würde ich vor allem Themen ausschließen, die sich aus den Tönen von Dreiklängen und aus der Aneinanderreihung der Grundakkorde ergeben. Die eben genannten gehören dazu.
Übrigens auch einige der berühmtesten klassischen Themen, das Kopfthema der Beethovenschen Eroica zum Beispiel. (Denn es ist keineswegs gesagt, dass sich aus diesen Themen nicht eine großartige Musik bauen ließe, im Gegenteil!)

Aber an dieser Stelle möchte ich Ihnen ein Thema oder eine Melodie vorspielen, aus denen man fast eine klassische Melodielehre ableiten könnte, so perfekt und schön ist sie gebaut; dabei kehrt sie zunächst auch nur den D-moll-Dreiklang hervor. Vor allem, wenn man den Punkt beachtet, dass jeder Abschnitt über sich hinausweisen und nach einer Fortsetzung verlangen muss, und dass schließlich die Summe aller Abschnitte einen sinnvollen Bogen beschreibt, ohne dass ein wirkliches Ende erreicht ist.

16) Live Geige: Mendelssohn-Trio d-moll, Kopfthema,
im folgenden die Abschnitte jeweils vorspielen

Da wird zunächst der Grundton umschrieben, unmittelbar anschließend die höhere Terz avisiert, dann die Quint, (spielen)
dann - werden vom Grundton aus die eben übersprungenen Nachbartöne einbezogen, (spielen)
dann folgt ein Resümieren, Absinken, Ausatmen, Ausholen. (spielen)
Dann ein ähnlicher Vorgang, der aber viel weiter ausgreift, zugleich aber die Einheiten verkürzt (oder staut) und als Höhepunkt eine überzählige Periode bringt, die völlig unspektakulär in sich zusammenfällt. (spielen)
Das Rückkehr auf den Grundton wird also nicht als Erfüllung, sondern als kalkuliertes Manko inszeniert und durch einen sofort einsetzenden Dramatisierungsschub ausgeglichen. Es muss weiter gehen!
Um es wenigstens nicht zu verschweigen: die Harmonik und die bewegte Begleitung spielen natürlich auch eine große Rolle für den Charakter dieses außergewöhnlichen Themas.

17) CD Tr. 9) Mendelssohns Mustermelodie: Anfang Klaviertrio
Dauer: 0:39 / Felix Mendelssohn Bartholdy: Trio für Klavier, Violine und Violoncello d-moll op. 49
Ausf.: Abegg Trio (Beetz, Erichson, Zitterbart)
TACET 81 (LC 07033)

Ich habe eben die Harmonik erwähnt. In der Tat könnte man behaupten, dass in unserer klassischen Musik 90 Prozent der punktuell intensiven Wirkungen, die wir empfinden (ich spreche jetzt also nicht von den Wirkungen ausgedehnter Sätze) auf harmonischen Besonderheiten beruht, selbst wenn wir den Eindruck haben, es sei die Melodie.
Man spricht im Zusammenhang mit Popmusik ja gern abfällig von den "zwei Akkorden", die ein Gitarrist beherrscht, ohne zu bedenken, dass dies ja der reinen Melodie zugute kommen könnte. (Um ehrlich zu sein: so ist es nicht, die meisten verlassen sich drauf, dass den Rest schon der Rhythmus besorgt...) Was sagen Sie zum folgenden Stück, das sich größtenteils auf den Wechsel zweier Akkorde beschränkt.

18) CD Tr.10) Nur 2 Akkorde: Boccherinis "Fandango"
Dauer: 1:10 Variaciones del Fandango español
mit Andreas Staier (& Christine Schornsheim), Cembalo
Luigi Boccherini: Fandango (aus Quintetto IV in D-dur G 448) arr. für 2 Cembali
TELDEC 3984-21468-2 (LC 6019)

Natürlich: es kommt aus der Volksmusik. Und die beiden Akkorde geben ein Schema vor, die Basis einer quasi unendlichen Reihe von Improvisationen.
Und dahinter steckt noch etwas ganz anderes: die Idee des Tanzes, der gleichbleibenden Bewegung, der begeisterten Monotonie, der Trance.
Das Gegenteil des formal ausgeklügelten Steigerungsbogens, den wir in Mendelssohns Thema gesehen haben. Wer weiß, ob wir hier überhaupt noch von dem Phänomen Melodie, wie wir es anfangs umrissen haben, sprechen wollen.

Noch etwas mit 2 Akkorden: aber nun etwas eindeutig Melodisches!
Es gibt zahllose ähnlich gemachte Lieder, besonders im österreichischen Alpenland, und Sie könnten sicher ohne große Schwierigkeiten noch ein paar dazu erfinden. Dieses hier scheint mir allerdings unverwechselbar, und ich weiß nicht, ob das daher kommt, weil Alban Berg es in seinem Violinkonzert "Zum Andenken eines Engels" verwendet hat oder weil die Linie wirklich so vollkommen schön ist und in sich bereits wie eine Erinnerung klingt.

19) Live Geige: Kärntnerlied "A Vögele af'n Zweschpmbam" (E-dur)
aus: Anton Anderluh: Kaerntens Volksliedschatz. 1. Band: Liebeslieder
Klagenfurt. Landesmuseum fuer Kaernten 1963
Melodien_19_A_ Voegele (215K)

Das Kärntner-Lied "A Vögele af'n Zweschpmbam", das bereits in der Sammlung zweistimmig notiert ist: besonders den sogenannten Überschlag braucht man einfach in zwei Versionen, (spielen) am liebsten in beiden gleichzeitig(spielen)

Übrigens habe ich's nicht im richtigen Tempo gespielt. In der Liedersammlung steht die Metronomzahl Viertel= 132, das ist ziemlich flott, und daneben steht "Sehr heiter". Es ist also gar nicht als ferne Erinnerung erfunden (dazu wird das Lied erst im Violinkonzert von Alban Berg, wo es ja mehrfach das unwiderruflich entschwundene Leben reflektiert. In Wirklichkeit gehört es ganz und gar dem Leben an; der Text lautet:

1. A Vögele af'n Zwetschpmbam hot mi aufgweckt. Jodler.
sist (sonst) hiatt (hätte) i vaschlofn in dar Miazale ihrn Bett. Jodler
2. Won a jedar a Reiche, a Scheane wil' hobm,
wo sol' den dar Teixl de Schiachn hintrogn?
3. ´s Diandl is katholisch und i bin vaschribm (umgeschrieben ins Verzeichnis der Protestanten)
si wird jo di Betschnur (Rosenkranz) wegtoan ban Lign.

Wir haben eben über Dreiklänge gesprochen und ich habe den bloßen Dreiklangsbrechungen nur eine beschränkte Melodiefähigkeit zugestehen wollen ... aber sofort gäbe es natürlich jede Menge Gegenbeispiele bei Erzmelodikern wie Mozart oder Schubert (Andante aus Sonata facile, "Ich hört ein Bächlein rauschen").

Stellen wir einfach ein paar ganz andere Melodien dagegen:
Ein wunderschönes Lied aus der Sammlung "Verklingende Weisen", Lothringer Lieder, die in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Pfarrer Louis Pinck aufgezeichnet wurden: Ist das nicht der Morgenstern?

20) Live Geige: jeweils die einzelnen Zeilen "Ist das nicht der Morgenstern?" aus: Verklingende Weisen / Lothringer Volkslieder
gesammelt und herausgegeben von Louis Pinck / Heidelberg 1928
Melodien_20_Morgenstern (293K)

Die erste der vier Zeilen etabliert den Grundton und den Tonraum darüber bis zur Quart. (1.Zeile spielen) Die zweite erweitert diesen Raum, indem sie auf der Quinte ansetzt, jedoch hält sie einen Ton über dem Grundton inne, so dass alles offen bleibt und nach Fortsetzung verlangt: (2. Zeile spielen) Die dritte Zeile führt von hier zur Quinte und liefert im Sprung abwärts den Grundton nach, geht aber darüber hinaus einen Ton abwärts, um nun in der ohne Zäsur anschließenden vierten Zeile den Grundtonraum - wie in der ersten Zeile, aber geradliniger - zu restituieren. (3. und 4. Zeile spielen)

Wir wollen nicht vergessen, dass die Melodie - auch nach unserem Seziervorgang - und vielleicht gerade danach: wenn wir die darin waltenden lebendigen Kräfte wahrnehmen - einen wunderbaren melodischen Kreis beschreibt.

21) CD Tr. 11) Gesungene Aufnahme "Ist das nicht der Morgenstern?"
Dauer: 1:07 Volkslied aus Lothringen (trad./ Bearbeitung: Fritz Neumeyer)
Theo Altmeyer, Tenor, Gertraut Stoklassa, Sopran; ein Instrumentalkreis

Ich habe den allerersten Sprung in meiner Beschreibung vorhin nicht berücksichtigt, als sei er, obwohl als Sprung doch auffällig, nicht ganz ernstzunehmen, jedenfalls nicht im dramatischen Sinne; er könnte ja auch zur Not durch den gleichen Ton ersetzt werden, der danach angeschlagen wird, den Grundton. Aber die Tatsache, dass er hier als bloßer Auftakt gesungen wird und in dieser Lage nicht wiederkehrt, macht die spätere Öffnung in den Quintraum plausibel: die erwähnte Quinte ist derselbe Ton eine Oktave höher.

In dem folgenden "Eleisonlied", das ebenfalls in der vorhin genannten Sammlung Lothringer Weisen zu finden ist, haben wir gleich am Anfang ebenfalls einen Sprung, der jedoch völlig anders zu bewerten ist. Der Ton, von dem aus der Sprung erfolgt, kommt nicht einmal, sondern viermal, kurze Noten, sozusagen ein Anlauf zu dem Ton, der dann angesprungen wird. (spielen!)
Der Text scheint zu diesem dramatischen Ansatz überhaupt nicht zu passen: "Maria die ging spazieren..." Zunächst jedenfalls, - nachher klingt das anders, es ist ein dramatisches Zwiegespräch zwischen Maria und denen, die ihren Sohn ans Kreuz schlagen wollen: "Sein rosenfarbes Blut, das wollen wir han!" Daher dieser Sprung zum hohen Ton, der dreimal auf unterschiedliche Weise erfolgt, ehe die Melodie sich besinnt: merkwürdig kurz entschlossen begibt sie sich nun zu einem Grundton, den man vielleicht an anderer Stelle vermutet hatte.

22) Live Geige: "Eleisonlied" (Lothringen)
aus: Verklingende Weisen / Lothringer Volkslieder
gesammelt und herausgegeben von Louis Pinck / Heidelberg 1928
Melodien_22_Eleisonlied (253K)

Was bedeutet es, wenn man stattdessen in einem wesentlich engeren Raum verharrt? Nur von außen sieht es vielleicht nach Beschränkung aus, vielleicht sogar nach Fesselung. Für den, der in dem engeren Raum (ich spreche natürlich vom Tonraum) verharrt, kann dies dagegen auch Konzentration bedeuten. Imagination. Meditation.
Und in diese Richtung scheint die folgende Kunstübung zu deuten, wobei dem gleichmäßig pulsierenden Rhythmus eine besondere Rolle zufällt; es wäre falsch, ihn als bedrohlich wahrzunehmen, es ist einfach nur lebendig: Razé No - Novel Mystery - Neues Geheimnis. Iranische Musik.

23) CD Tr. 12 "Daddobiddad" aus Razé No (Iran)
Dauer: 1:23 Mahour Institute of Culture and Art, Tehran M.CD-38
Razé No / Vocal Musik / Hamavayan Ensemble /Komp.: Hossein Alizadeh
Titel: "Daddobiddad" (Ausschnitt aus 13:38)

Wir kommen später auf diese Form melodischer Konzentration zurück.
Ich möchte Ihnen einen irischen Klagegesang vorspielen, der sich naturgemäß auch nicht durch große Sprünge hervortut, sondern Auf- und Abstieg andächtig auf engem Raum zelebriert, zweimal, das erste Mal mit einer kleinen Verzögerung, das zweite Mal auf direktem Wege. (Lament-Anfang spielen!)
Dann aber holt er weit aus und lenkt für einen langen Moment den Blick in die Ferne oder zum Himmel, was immer Sie wollen, 1 neuer Ton, und es sieht so aus als ob mit seiner Hilfe erst ein Gipfelton eingerichtet wird, der uns aufbaut oder tröstet oder unserer Stimme Gehör verschafft, - es ist aber derselbe Ton, der dann eine Oktave tiefer zum Grundton zurücklenkt, zurück zu dieser gedämpften Klage des Anfangs.

24) Live GEIGE: Lament for Owen Roe O'Neill (Irland) transkribiert nach der Interpretation von Matt Cranitch, Fiddle
Melodien_24_Lament (178K)

Das Lament for Owen Roe O'Neill (1590 - 1649) , ursprünglich eine Ballade, sie geht auf den Freiheitskämpfer Thomas Davis zurück, der 1845 starb. Im Grunde braucht man vom Text und der Entstehungssituation nichts zu wissen. "Lament" - Klagegesang ist genug.
Beim Fiddle-Kurs in Miltown Malbay schien mir, dass diese einzigartige Melodie heute in Irland gar nicht mehr so bekannt ist. Ich hatte die Melodie nach einer frühen WDR-Aufnahme mit dem Fiddler Matt Cranitch gelernt.

Und nun eine ganz rätselhafte Melodie, von der ich nicht sagen kann, ob sie gut oder schlecht ist; ich konnte sie im einzelnen schwer behalten, aber auch nicht vergessen. Vielleicht hängt es in diesem Fall mehr an der Situation als an der Melodie. Kommt da nicht zweimal dieselbe These? Oder ändert sich was? Und die beiden Antworten, - gleich oder nur ähnlich? Ein Pendeln zwischen zwei Möglichkeiten.
(1. Teil der nächsten Melodie = 2 x These & Antwort spielen!)
Dann aber als Synthese eine einzige, fast durchgehende Linie, die alles zusammenfasst und zu einem sehr merkwürdigen Abschluss bringt: weder Dur noch Moll, eine Tonleiter, die es eigentlich bei uns nicht mehr gibt.

25) Live Geige: Melodie "Io dè sospiri" (Puccini, Tosca, Anfang III.Akt)
Beispiel für lydische Skala / Notation für Violine J.R.
Melodien_25_Tosca (112K)

Ich bin nicht sicher, ob Giacomo Puccini die Melodie des Hirtenknaben zu Beginn des III. Aktes der Oper Tosca selbst erfunden hat, für ein Volkslied macht sie wohl zu große und zu schwierige Sprünge. Unvergesslich wird sie durch die Szenerie und die Atmosphäre, stellen Sie sich einmal vor: ein schicksalsträchtiger Tag beginnt, die Erfüllung der Liebe oder eine Katastrophe, und wir ahnen bereits, dass das Drama auf der Engelsburg tragisch ausgeht.
Noch befinden wir uns vor den Toren Roms, es ist spät in der Nacht, kurz vor Morgendämmerung, der Himmel ist sternklar, man hört die Glöckchen einer Schafherde, der Hirtenjunge singt.
Was soll uns die Melodie des Liedes sagen? Sie verwendet allumfassende Gesten, nach unten, nach oben und am Ende die leicht ausgezierte absteigende Skala, vollständig, aber sie endet, als sei nichts beendet. Dieser Akt kann keinen versöhnlichen Ausklang finden, wenn schon der Friede der Natur und des Lebens da draußen auf so fragwürdigen Tonschritten ruht. Kein Erbarmen.

26) CD Tr. 13) Lydische Melodie "Io dè sospiri" aus Tosca III. Akt
Dauer: 1:18 Giacomo Puccini: Tosca
Ausf.: Leontyne Price, Placido Domingo, Sherrill Milnes u.a. / New Philharmonia Orchestra / Ltg.: Zubin Mehta
RCA (BMG) LRC 0105 (2-CD), LC 0316

"Ach, ihr meine Seufzer,
ihr bleibt mir treu
in all meiner Sehnsucht.
Kein Sturm kann euch vertreiben.
Daß sie, der mein Sehnen gilt,
mich so verachtet, ist mein Tod."

Das Lied steht in der lydischen Kirchentonart, dem uralten Modus, der dieses Lied so eindringlich wirken lässt: anziehend und abweisend, rätselhaft wie die Augen der Mona Lisa, hier, in Puccinis Oper Tosca beschwört es die Unschuld der Natur, zugleich auch ihre Gleichgültigkeit gegenüber allem menschlichen Seelen- und Beziehungsschmerz, der zugleich im Text benannt wird.
Da geht etwas unbeirrt seinen Gang.
Manchmal scheint dieses Lebensgefühl bereits in die Volksmusik eingebaut oder vielmehr: es entsteht, wenn die Volksmusik in die Großstadt wandert und von dort aus zurückschaut.

Mich hat ein rumänisches Lied immer mehr fasziniert, das vielleicht auf Anhieb etwas befremdend wirkt durch die Art, wie es von der Sängerin Romica Puceanu und ihrem Ensemble vorgetragen wird.
Wir haben eine gleichmäßig rhythmisierte Harmoniefolge, einen durchgehenden Bass und eine Melodie. Wir wissen nicht genau, wieviel davon festliegt; es ist auch schwer zu sagen, ob die Melodie der Sängerin im Prinzip die gleiche ist wie die des Akkordeons am Anfang und nach jeder Strophe.
Eindeutig ist nur; dass ihr an langen, sehnsuchtsvoll gehaltenen Tönen liegt und an einem übermäßigen Sprung in die Tiefe. Und so nimmt die Melodie ein ganz anderes Gepräge an; die - vielleicht in der Struktur identische - Akkordeonmelodie ist das Vor- und Zwischenspiel dazu. Es ist ein Wahnsinnsgesang.
Hören Sie doch zunächst die von mir etwas vereinfachte Fassung der Akkordeonversion, mit der es nachher losgeht.

27) Live Geige: Rumänische Melodie / Akkordeon-Ritornell aus "Erau Zarzarii-Nfloriti"
a) die erste Hälfte bis zur Öffnung (Halbschluss)
b) die zweite Hälfte beginnt mit kurzer Überbietung, im übrigen aber ähnlich wie die erste bis zur Öffnung, jetzt allerdings mit angehängter Schließung.
Melodien_27_Rumaenische_Melodie (285K)

Und nun versuchen Sie, diesen Verlauf im Original wiederzuerkennen, sowohl im engmaschigen Akkordeon als auch - weit auseinandergezogen - in diesen ekstatischen Tönen der Sängerin Romica Puceanu.
Für sie ist es entscheidend, eine Riesenspannweite zu zeigen, ein Schmerzgefühl, das die ganze Welt umfasst.

28) CD Tr. 14 Rumänischer Gesang: Romica Puceanu
Dauer: 2:42 Romica Puceanu & Orchestra Florea Cioaca: "Erau Zarzarii-Nfloriti" (trad./ohne)
Network 24.756 (LC 6759)

Vielleicht ist es ja ein Sakrileg, - aber mich erinnerte diese Aufnahme an eine Arie in Bachs Matthäuspassion: "Erbarme dich", sie kommt, nachdem Petrus seinen Herrn dreimal verleugnet hat: der Hahn krähte, und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.
Die gleiche Tonart, ein ähnlicher "walking bass", die schnellen Girlanden der Melodie, die gehaltenen Töne, aber dann - ich werde genau an der Stelle unterbrechen, an der das Violinthema wiederkehrt (ähnlich wie eben das Akkordeonthema); allerdings kehrt es auf eine Weise wieder, die uns erlaubt, schlagartig einen Wesensunterschied zwischen Volks- und Kunstmusik zu verstehen.

29) CD Tr. 15) Bach: "Erbarme dich" (nur bis ins fis-moll-Ritornell)
Dauer: 3:16 Johann Sebastian Bach: Matthäuspassion, Teil II
Nr. 39 Aria (Alto): "Erbarme dich"
The Amsterdam Baroque Orchestra (Solo: Andrew Manze), Alto: Kai Wessel, Leitung: Ton Koopman
ERATO 2292-45814-2 (LC0200)

Was ist an dieser Wiederkehr des Themas bemerkenswert?
Wir haben solch ein Phänomen meist schon so oft erlebt, dass wir es kaum als Besonderheit registrieren. Es ist halt wieder das Thema, wunderbar!
Das stimmt, ABER: es steht in einer anderen Tonart als am Anfang.
Fis-moll statt h-moll. - So einfach das beim bloßen Hören klingt: Es ist eine für die Kunstmusik ganz wesentliche Technik. Sie wäre in der Volksmusik undenkbar: da kann es zwar einen Wechsel der Ebene geben, einen tonalen Kontrast, aber keine "musikalische Arbeit", die eine theoretische Kenntnis des Tonsystems voraussetzt.
Sobald ich ein und dieselbe Melodie innerhalb eines zusammenhängenden Vortrags in eine andere Tonart versetze, müsste ich z.B. in der Lage sein, auch wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Ich müsste also etwas von dem künstlichen Vorgang der Modulation verstehen, von Tonarten, nicht nur von Melodien.

Natürlich kommen Modulationen einfacherer Art in Liedern vor:
Zu den bekanntesten und uns allen sicher vertrautesten gehört die im zweiten Teil unserer Nationalhymne (singen!): "Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand."
Auf diesem letzten Wort geht es in die Nachbartonart, aber sie ist nur Absprung: gleich danach wird die Ausgangstonart geradezu triumphal abgesichert. "Blüh' im Glanze dieses Glückes, blühe, deutsches Vaterland".

Hymnen und Choräle sind zwar keine Volkslieder, sondern absolute Kunstprodukte, wenn auch "für das Volk" geschaffen. Sie sollten vor allem leicht zum gemeinsamen Singen geeignet sein.
Was dabei herausgekommen ist: - ein unglaubliches Konzentrat, Kondensat einfachster melodischer Möglichkeiten. Und auch die Entdeckung von archetypischen Modellen der zeilenweisen Melodieführung, die den Anschein haben, als seien sie von der Natur selbst geschaffen.

Das wunderschöne Innsbrucklied von Heinrich Isaac war reine Kunst, aber Sie wissen, dass daraus später eine ganz einfache Choralmelodie geworden ist: "O Welt, ich muss dich lassen", "Nun ruhen alle Wälder", "O Welt, sieh hier dein Leben".

30) CD Tr. 16 Innsbrucklied (instrumental)
Dauer: 1:05 CD "In Traurigkeit mein Lachen" / Musik um Paul Gerhardt
Edition Chrismon 2006
Heinrich Isaac: "Innsbruck, ich muss dich lassen
Ausf.: Instrumentalensemble / Leitung: Christoph Lehmann

Das ist zum Weinen schön. Aber wenn Sie jetzt an die genannten Choräle oder auch an eins unserer bekanntesten Volkslieder denken, das zweifellos nach demselben Modell komponiert wurde: "Der Mond ist aufgegangen"..., dann liegt doch dessen ungeheure Kraft gerade in der Zurücknahme, in der sanften Zurückhaltung gegenüber jeglichem harmonischen Gewürz, zu dem ja die Modulation ebenso gehören würde, wie die Verwendung kostbarer Harmonien, - hier bei Isaac waren es ja eher solche von altertümlicher kirchentonaler Wirkung und die Einbindung in makellose Satztechnik.
Aber nun sollten Sie nicht glauben, dass dieser Weg der Vereinfachung auch dem heimlichen Wunsch und Willen der musikalischen Volksbegabung entspricht. Dass die einfache Melodie gewissermaßen natürlicher sei, als die komplexe. Überhaupt sollte man sich hüten im Zusammenhang mit Musik von dem "Volk" oder der "Natur" zu sprechen.
Es sind immer einzelne, hochbegabte Menschen, die hinter der Musik stecken. Meistens mit einer Riesentradition im Kopf.
Und die kann sich gegen jede Rationalisierung oder Vereinfachung durchsetzen.
Niemand könnte behaupten, dass die Melodie des Passionschorals "O Haupt voll Blut und Wunden" schöner sei als ihr 100 Jahre älteres leichtfüßiges Vorbild.

31) Live Geige: Mein G'müt ist mir verwirret (Hassler 1601)
Zit. nach Ernst Klusen: Deutsche Lieder / Frankfurt am Main, 1980 Bd. 1 S. 234
Melodien_31_32_Choraele (178K)

Sagt Ihnen die folgende Melodie etwas?

32) Tr. 17 Norwegische Geige "Nu er en dag fremliden"
"Nun ist ein Tag vergangen / und neigt sich auf die Nacht. / Die Sonne ist von uns gegangen. / Bleib uns nah, Jesus Christ."
Eline Monrad Vistven (Tenor-Sax) "lernte diesen religiösen Abendgesang in Nordmøre, und zwar von den beiden älteren Damen Gudlaug und Malmfrid Leirdal". (Birger Gesthuisen)
Dauer: 1:05 Ausschnitt.
Die Original-Aufnahme beginnt mit 2 Saxophonen, dann Gesang, dann Violine solo
CD "Gamle Guro" Chateauneuf Spelemanslag
Feuer & Eis FUEC 718

Hinter dieser Melodie verbirgt sich ein bekannter Choral, wie er auch in den dänischen Gesangsbüchern zu finden war, die damals in Norwegen verwendet wurden. Er ist bis heute auch hier allen evangelischen Kirchgängern wohlbekannt: "Von Gott will ich nicht lassen".
Mit einer eindeutigen Modulation darin (bitte merken!):

33) Live Geige: Von Gott will ich nicht lassen EKG 213 (Erfurt 1572)

Man weiß, dass in Norwegen zuweilen sogar die von der Kirchenleitung verordneten teuren Orgeln wieder rausgeworfen wurden, weil das "Volk" (oder die hoch angesehenen Spielleute) sich nicht mit der begradigten Stimmung und Harmonisierung abfinden wollten.
Kein Dur oder Moll, sondern etwas dazwischen, etwas, das die Wissenschaftler nicht benennen können; es lässt sich nicht von einem übergeordneten theoretischen System her erfassen. (Raydar Sevåg).
Und dann klang der Choral eben so differenziert, wie man es liebte. Es wäre völlig falsch, dies "falsch" zu nennen.

34) CD Tr. 18 Norwegischer Gesang "Nu er en dag fremliden"
(mit Perkussion im Untergrund) (s.Beisp.32) Dauer: 1:13
CD "Gamle Guro" Chateauneuf Spelemanslag Feuer & Eis FUEC 718

Verblüffend ist, wie arabisch das klingt. (Kadenzwendung spielen!)
In Wirklichkeit haben die Araber nur Bestandteile einer allgemeineren Musikauffassung in ihr Kunstmusiksystem einbezogen.
Auch dieses "neutrale" Intervall zwischen großer und kleiner Sekunde, das auf unserem Klavier nicht spielbar ist.

35) Live Geige: Anfang des Choral "Seid froh dieweil" mit Viertelton-abweichung auf der Terz
Und die Sehnsucht, diese fein differenzierten Tonqualitäten zu erhalten, treibt andere Kulturen sogar dazu, unser Prestige-Instrument, das scheinbar "wohltemperierte" Klavier, völlig umzustimmen.
36) CD Tr. 19 Äthiopisches Klavier: "Y'Shebelu" (Aster Aweke)
Dauer: 1:10 Sängerin: Aster Aweke aus Gondar in Äthiopien
Desert Blues I Network 58.774 (LC 6759)

ENDE DES ERSTEN TEILS




Nach der Pause werden wir uns mit langen und gewundenen Melodien beschäftigen; dann aber auch mit den kleinstmöglichen melodischen Formeln, die Sie getrost zu eigenem Schaffen mit nach Hause nehmen können.




MELODIEN... Zweiter Teil des Vortrags

Also: Was ist Melodie???
Wir nehmen eine Melodie selten "an und für sich" wahr, immer in einem Kontext, der sowohl rein musikalisch als auch assoziativ sein kann.
Zwei ähnliche Tonfolgen, die Sie nie verwechseln würden: eine Choral-Melodie und "I can get no satisfaction". Zu dem einen gehören Klangfarben, Gitarren, der leicht aufmüpfige Stimmklang eines Kinderchors. Auf der anderen Seite eine bestimmte, gleichmäßig und ruhig schreitende Tonfolge, die suggeriert: Choral, sakrale Atmosphäre, Kirchenraum.

37) Live Geige Choral "Seid froh dieweil" in d-moll

Bei einer ganz anderen Melodie ist sofort klar: hier wird eine Geschichte erzählt, sizilianisch, melancholisch, Mafia, ah: Filmmusik, "Der Pate".

38) Live Geige: Love Theme "Apollonia" aus dem Film "Der Pate"
Komponist: Nino Rota
Melodien_35_38_Pate_und_Seid_froh (283K)

Zum "Rein Musikalischen": in unserer Musik wird man natürlich als erstes von der Harmonik sprechen, die eine ganz aktive Rolle spielen kann. Mehr oder weniger aktiv.
Die Choral-Melodie verwendet nur 5 Töne, die eigentlich von keiner Harmonik wissen. Man kann sie als rein melodischen Kräfteverlauf beschreiben. (Das werden wir später tun.)
Aber nun hören Sie, wie Johann Sebastian Bach mit dieser Melodie verfährt. Er zwingt ihr eine gewaltige Logik auf. Schon die bloße Wiederholung der Anfangsformel, die ja in sich lediglich den Grundton bestätigt, sagt ihm nicht zu: in der ersten Phrase gibt er dem wiedererreichten Grundton nicht den Grundakkord, sondern einen Trugschluss-Akkord, der weitertreibt und diese beiden Phrasen zu einer einzigen zusammenschweißt (spielen!). Auch im Folgenden beschränkt er sich dort, wo Melodieteile sich wiederholen, keineswegs auf eine Wiederholung der Harmoniefolgen, er überbietet sie. Und am Schluss, wo die Melodie resümiert und entspannt, verordnet er dem Bass einen chromatischen Anstieg, der die Entspannung erst auf dem allerletzten Ton zulässt.

39) CD Tr. 20 Bach-Satz des Chorals "Seid froh dieweil"
Johann Sebastian Bach: Weihnachtsoratorium Teil III
Nr. 35 Choral: "Seid froh dieweil" / Dauer: 1:01
RIAS-Kammerchor / Akademie für Alte Musik Berlin / Leitung René Jacobs
Harmonia Mundi HMC 901630.31 (LC 07045)

So eindrucksvoll das ist: man muss doch feststellen, dass es dem Wesen dieser Choral-Melodie nicht entspricht, denn Bach hat ja auch ganz anderes im Sinn: an dieser Stelle des Weihnachtsoratorium soll der Choralsatz durch die "inadäquate", vorwärtsgerichtete, dynamische Aufladung der einfachen Melodie zwingend in die Wiederholung des Anfangschores "Herrscher des Himmels" lenken. Es ist kein Zufall, dass hier nur eine Strophe des vielstrophigen Liedes Platz hat.

Die von mir so genannte Mafia-Melodie besteht aus vielen Tönen, bedarf aber nur weniger Akkorde, und deren Platz ist von der Melodie bezeichnet: die erste Phrase braucht nur einen Akkord, der auch noch vorhält, wenn die zweiten Phrase den Beginn der ersten aufgreift; erst wenn sie ihn auf einen neuen Zielton führt, fordert dieser auch einen neuen Akkord, Konsequenz: zwei suchende Vorstöße, und ein Ergebnis, - die Heimkehr. Nun, es geht noch etwas weiter, aber das können Sie allein deuten.

40) CD Tr. 21 Love Theme "Apollonia" aus dem Film "Der Pate"
Komponist: Nino Rota / Soundtrack zu "The Godfather" Dauer 1:21
MCAD-10231

Was an dieser Stelle dazugehört, ist der leicht "hausgemachte" Eindruck, (an anderen Stellen klingt es opulenter, nach sinfonischer Illustration), so könnte es wirklich in einem sizilianischen Hinterhof klingen. Rührung stellt sich ein.

Und wenn Sie den Film einmal gesehen haben, wird die Melodie für immer mit zumindest vagen Erinnerungen an Szenen des Films verbunden sein. Liebe in harten Zeiten, Resignation, Erinnerung...

Ein Kollege mit U-Musik-Affinität hat mir einmal - in Anspielung auf das Medium Film - gesagt, letztlich sei auch klassische Musik ein "Soundtrack", er meinte wohl: "nur" ein Soundtrack. Ich widersprach: Sie ist nicht der Soundtrack, sondern der Film selbst. Daran glaube ich.
Und ich bitte um Vergebung, wenn mir zu dieser zärtlich gewundenen Film-Melodie trotzdem ein Mozart-Thema einfällt.
Eine Melodie wie die aus dem Films "Der Pate" kann man eigentlich nur als Ganzes wiederholen, schon ihr kurzer Mittelteil dient letztlich nur dem Zweck, eine Wiederholung des Hauptgedankens attraktiver zu machen.
In einem klassischen Werk darf sich dagegen auch der schönste Gedanke nicht so breit machen, dass man sich von ihm nicht lösen kann. Mozarts Seitenthema im ersten Satz des Klarinetten-Quintetts KV 581 ist durchaus in sich abgerundet, so dass ein entsprechender kurzer Mittelteil folgen könnte, sowie eine Wiederholung. Stattdessen wird es aber in einer Weise abgewandelt, als sei es nur für diese wunderbare Verwandlungen geschaffen, und es erscheint fast wie eine etwas gewaltsame Disziplinierung, wenn es dann doch in der vorher angeschlagenen Tonart endet. Damit der Film weitergehen kann.

41) CD Tr. 22) Wolfgang Amadeus Mozart: Klarinetten-Quintett KV 581
Erster Satz, zweites Thema, in der Reprise / Dauer: 0:44
Ausf.: Ralph Manno, Klarinette; Michaela Paetsch Neftel, Violine; Rahel Cunz, Violine; Hartmut Rohde, Viola; Guido Schiefen, Cello.
Arte Nova 74321 43325 2 (LC 3480)

Aber wohlgemerkt, - die besagten wunderbaren Verwandlungen betreffen die harmonische Ebene des Themas. Es steht in A-dur; mit Einsatz der Klarinette aber geht es nach a-moll, (dann alle 2 Takte in eine andere Tonart:) nach F-dur, d-moll, fis-moll, und wieder A-dur.

Wenn wir nun fragen, ob denn Melodien möglich sind, die eine längere Zeitstrecke in sinnvoller Weise ausfüllen, ohne die Mittel der Harmonie oder der Modulation zuhilfe zu nehmen, eine Melodie, deren Fortgang nur mit melodischen Mitteln gesichert wird, so fällt uns vielleicht zunächst der Halbschluss ein, - siehe Mendelssohn -, es muss etwas offen bleiben, man darf Zäsuren nur aufkommen lassen, wenn die vorhergehende Periode eine Fortsetzung verlangt und über die Zäsur hinausweist, d.h. wenn sie den Schlusston hinauszögern. Ein Musterbeispiel ist die Bolero-Melodie von Maurice Ravel. Der begleitende Rhythmus wird unbeirrbar durchgezogen, auch das Harmoniegerüst ist Takt für Takt gleich, ob es nun zu bestimmten Melodietönen passt oder nicht. Aber melodisch gleicht kein Takt dem anderen, so gleichmäßig die Melodie auch zu verlaufen scheint. Der A-Teil verläuft in C-dur, Anfang und Ende auf C, mit einer Zäsur in der Mitte, der Öffnung auf dem Ton G. (Ich sage das gemäß Original, spiele aber in G.)

42) Live Geige: Boléro-Melodie (Ravel) Erster Teil (nach G-dur übertragen)

Der B-Teil aber beseitigt als erstes den Leiteton, steigt dann konfliktuös über den Grundton hinaus und verwendet nun eine außerordentlich befremdende Skala über bzw. unter eben diesem Grundton, dessen Hauptsitz sie zudem am untersten Ende der Skala sucht, aus Sicht des A-Teils in einer äußerst entlegenen, dunklen Region.

43) Live Geige: Boléro-Melodie (Ravel) Zweiter Teil (ebenfalls in G)

Nach diesem Abschluss muss die Wiederkehr des ersten Teils mit dem klaren, "abendländischen" C-dur wenn nicht als Erlösung, so zumindest als Auflösung wirken. Oder auch nicht: es ist nicht wie Schwarz und Weiß, sondern eher wie Dunkelgrün und Hellblau.
Und der Wechsel zwischen diesen kontrastierenden Teilen kann tatsächlich über einen langen Zeitraum gehen, ohne Langeweile zu erzeugen. Wir müssen jetzt von der Instrumentation und der explosiven Modulation am Schluss gar nicht reden. Nur von den unendlichen Melodieteilen.
Möglicherweise hat Ravel diese Technik, mit melodisch kontrastierenden Skalen zu arbeiten, an orientalischen Melodien studiert.
Es gibt unzählige Beispiele aus der arabischen Kunstmusik, aber eins, das ich besonders liebe, gehört dem populären Genre an; ich habe es 1972 in einem algerischen Konzert in Paris kennengelernt.
Bestimmte Töne können gegen andere ausgetauscht werden, das merkt man schon in den ersten Takten:

44) Live Geige: Algerische Melodie "Ya nassiman" (Anfang) s. 46)
für Violine transkribiert: J.R.
Melodien_44_Algerisch (281K)

Dann beginnt der Chor, und der Farbwechsel von zwei anderen Tönen spielt eine Rolle. Genauer gesagt: es sind nicht zwei einzelne Töne, die wechseln, es sind Tonreihen, Tongruppierungen, mit unterschiedlichen Intervallaufteilungen.

45) Live Geige: Algerische Melodie "Ya nassiman" (Forts.) s. 46)
für Violine transkribiert: J.R.

Wenn man das wahrnimmt, versteht man, weshalb es für den arabischen Zuhörer melodisch interessant ist, im selben Tonraum zu verweilen und sich an diesem Vexierspiel der Tonreihen zu erfreuen.
"Ya nassiman - der Wind hat seine Schleier zwischen das Astwerk gestreut, das Rot deiner Wangen glänzt auf deinem weißen Gesicht."

46) CD Tr. 23 Algerisches Konzert "Ya nassiman"
Dauer: 1:12 / Inqilab im Modus Ramal-Maya
Orchester und Chor der Gesellschaft Al Mausiliya al ghazairiya
Aufnahme Paris 1972

Es gibt einen wunderbaren alten Hymnus aus Mallorca, dessen Wirkung auf ähnlich sanften Kontrasten beruht; wir würden ihn völlig fehldeuten, wenn wir einen Dur-Moll-Kontrast hineinlesen würden.

47) Live Geige: "Sibilla" s. 48) Anfang mit Betonung der Töne fis und f bzw orig d und des)
Melodien_47_Sibilla (299K)

Jede Strophe ist ähnlich, aber anders, also mit Varianten versehen, ich spiele nur die erste, damit Sie eine Vorstellung vom Fluss der ganzen Melodie haben. Bemerkenswert auch, was über die Harmonisierung der Melodie zu sagen ist. El Cant de la Sibilla, gesungen von Maria del Mar Bonet.

48) CD Tr. 24 El Cant de la Sibilla / Weihnachtsgesang aus Mallorca (trad./ohne)
Dauer: 2:10 / Sängerin: Maria del Mar Bonet
Ariola Eurodisc 200265

Ein ungeheurer Gesang, eigentlich 8 Minuten lang. Was war, die Harmonisierung betreffend, bemerkenswert? Einfach die Tatsache, dass sie fehlte. Stattdessen dieser eine Ton, der Dauer-Grundton, auf den alle anderen bezogen sind, an dem alle anderen gemessen werden.

Es ist lange her, während meiner Tätigkeit als WDR-Redakteur, haben wir mal ein bulgarisches Ensemble in Köln zu Gast gehabt, es kam aus Gabra, und wurde nicht müde, einen Teil seines Repertoires einzuspielen. Jedes Instrument solo, Kavalflöte, Gajda-Dudelsack, Gadulka-Fiedel, und als wir dann die Sängerin aufnahmen, 10, 12 Lieder (sie konnte angeblich 10.000), da sagte der Dudelsackspieler in einer Pause ganz ernsthaft: genau genommen sind alle Lieder - er zeigte auf die Bordunpfeife seines Instrumentes - schon da drin enthalten!
Eine unglaubliche Bemerkung, wenn man drüber nachdenkt.

Wir können nur fragen: wieviel Töne braucht der Mensch eigentlich, ab wann haben wir es mit einer Melodie zu tun? Ich erinnere zunächst an die Möglichkeit des Obertongesangs: vordergründig nur ein einziger Ton, aus dessen Obertonreihe Einzeltöne - wie von einer Flöte gespielt - hervorgezaubert und zu Melodien aneinandergereiht werden können.

Aber um diesem Vortrag ein absehbares Ende zu sichern, greife ich einmal zwei Melodiekerne heraus, die kleinstmöglichen, und wir wollen beobachten, wie daraus eine Melodie entsteht. Beginnen wir mit zwei engbenachbarten Tönen, die fast schneidend ineinander übergehen; jeder kennt sie, fast jeder kann sofort einen Titel dazu sagen. Es ist das Lied vom ???.

49a) CD Tr. 25a) "Spiel mir das Lied vom Tod" (Stop nach ca. 20 sec!)
"Man with a Harmonica" Soundtrack aus "Once upon a Time in the West"
Dauer: 1:15 "Musik: Ennio Morricone
BMG Ariola ND71704 (LC 0316)

"Spiel mir das Lied vom Tod", - zwei Töne, das ist natürlich noch keine Melodie, sondern ein Ruf, ein stilisierter Schrei; dann auch: ein Motiv, d.h. hier setzt sich etwas in Bewegung, genauer gesagt: ein dritter Ton gesellt sich dazu, ein vierter und dann entpuppt es sich als Introduktion. Genial gemacht. Ennio Morricone.

49b) CD Tr. 25b) Forts. "Spiel mir das Lied vom Tod"

Die zeichenhaft melodisch minimierte Introduktion zu einer Melodie, die dann aber - wie gewohnt - nur in Kooperation mit den Gesetzen der Harmonielehre funktioniert.

Aber wir wollten ja auf etwas anderes hinaus. Wieviel Töne braucht der Mensch? Gemeint ist: Wie wenig Töne braucht der Mensch, das Minimum ist gefragt.
Hier ist ein "Field Cry" aus Alabama, eine historische Aufnahme der Ethnic Folkways Library mit "Negro Folkmusic of Alabama". 3 Töne, in der Länge unterschiedlich gewichtet und als Melodie gegliedert, genauer: immer eine Dreitongruppe mit einer Zweitongruppe kombiniert, ständig wiederholt; wir empfinden den unteren Ton als Grundton, was uns durch ein abschließendes Ornament mit der Untersekunde (also einem vierten Ton) bestätigt wird.

50) CD Tr. 26) Field Cry aus: Negro Folk Music of Alabama
Dauer: 0:49 / Ethnic Folkways Library FE 4417 II/5

Mit ebenso wenig Tönen kommt ein Wiegenlied aus Afghanistan aus: (gedehnter) mehr in die Zeit ausgedehnt, aber mit der gleichen Zäsur in der Mitte, - Öffnung / Schließung.

51) CD Tr. 27 Herati Lullaby (trad./ohne) / Sänger: Abdul Wahab Madadi (1968)
Dauer: 0:41 / Afghanistan Vol. 2 (Mark Slobin) Music of the Pashtoons, Heratis and Kazakhs
Anthology Record and Tape Corporation 1970 New York

Ein Wiegenlied aus Herat, der Stadt ganz im Westen Afghanistans, also fast an den Iran grenzend. Wollen Sie noch etwas mehr aus diesem Kulturraum? Sie kennen es schon: Razé No, Novel Mystery, neues Geheimnis.
Damit verfügen wir in unserer kleinen Sammlung elementarer Tonverbindungen über den vierten Ton.

52) CD Tr. 28 "Daddobiddad" aus Razé No (Iran)
Dauer: 1:04 / Mahour Institute of Culture and Art, Tehran M.CD-38
Razé No / Vocal Musik / Hamavayan Ensemble /Komp.: Hossein Alizadeh
Titel: "Daddobiddad" (Ausschnitt aus 13:38)

Und noch einmal ein Wort zu unserm fünftönigen Choral, den wir als Bestandteil des Weihnachts-Oratoriums von Johann Sebastian Bach kennengelernt haben. Er existierte als Melodie natürlich lange vor diesem Werk.

53) Live Geige: Choralmelodie "Seid froh dieweil" (mit zeilenweisen Einspielungen)
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Der Musikphilosoph Victor Zuckerkandl hat darüber eine gründliche Analyse geschrieben, die ich kurz zusammenfassen will.

Die erste Bewegung, aufwärts und zurück, lässt den ersten Ton als Grundton erscheinen. (spielen: 1. Zeile zweimal)
Was kommt dann? Der Gegenpol, die Quinte, deren Tendenz sofort als abwärts gerichtet erkennbar ist, sie will zurück zur etablierten Ebene, und die Melodie erfüllt diesen Willen, - jedoch nicht vollständig: gerade dort, wo die Spannung am größten ist , einen Ton über dem Grundton, hält sie inne. (spielen: 2. Zeile)
Was wird nun geschehen?
Das Gegenteil von dem, was dieser Halteton wünschte. Die Bewegung geht in die Gegenrichtung, Schritt für Schritt, langsamer ("mühsamer") als vorher in der Abwärtsbewegung (sozusagen vor jedem Schritt aufs neue Atem holend, es geht ja gegen den Druck der wirkenden Kräfte).
Mit dem Wiedererreichen des fünften Tons ist die Gegenkraft erschöpft, und die Abwärtsbewegung darf auf direktem Weg zu ihrem vorher verweigerten Ziel kommen. (spielen: 3. und 4. Zeile)
Die Fortsetzung des Chorals, der zweite Teil, ist insgesamt eine Wiederholung des ersten, aber er beginnt nicht so wie der erste, - nicht mit der Etablierung des Grundtons (die ist ja vollzogen), sondern mit der diesem entgegenwirkenden Kraft, der Phrase: (spielen: 5. Zeile)
Und sie wiederholt diese sogar, sie insistiert: d.h. wir haben nun zwei Versuche in Richtung Grundton, die fehlschlagen. Das bedeutet, dass die nun - wie im ersten Teil aufsteigende Phrase gegen eine größere Kraft anzukämpfen hat. Dadurch erhält die dann ebenfalls schließlich vollzogene Rückkehr zum Grundton eine viel größere Emphase als beim ersten Mal. (spielen: 6. Zeile + Abschluss)

Zwei Folgerungen fügt Zuckerkandl an:
1) Die Wirkung der tonalen Kräfte organisiert die Melodie, hält sie zusammen, gibt ihr eine Bedeutung.
2) Die Töne sind in ihren Bewegungen aber nicht einfach den wirkenden Kräften unterworfen, wie leblose Körper der Schwerkraft unterworfen sind; sie sind frei, sie sind frei, sich mit den wirkenden Kräften oder gegen sie zu bewegen, - so wie der lebendige Körper eines Tänzers frei ist, sich gegen die Schwerkraft zu bewegen oder ihr nachzugeben.

Diese Freiheit der Tonbewegung gegenüber den wirkenden tonalen Kräften kann man sehr unterschiedlich nutzen.
Der indische Meister Imrat Khan zeigt auf der Sitar, wie man sich dieser melodischen Kräfte bedient, wenn man sich auf drei Töne beschränkt.
(Natürlich spüren wir, dass im Hintergrund ein ganzes System von Tönen und Skalen steht, über die die indische Kunstmusik verfügt.)

54) CD Tr. 29 Imrat Khan demonstriert Improvisation mit wenigen Tönen
Dauer: 1:12 / Privataufnahme J.R.

An zwei andere Musikern sehen wir, wie diese Freiheit wirkt, wenn man sie gerade nicht ausschöpfen will, sondern sich - auf afrikanischer Basis - immer aufs neue der wirkenden Kräfte erfreut.

55) CD Tr. 30 "Roucky" mit Ali Farka Touré f-moll-Dreiklang
Roucky Ausf.: Ali Farka Touré & Taj Mahal (World Circuit WCD 030))
Desert Blues I Network 58.774 (LC 6759)

Ein Blick in den Nahen Osten. Wie aus dem melodischen Kern von drei Tönen im Terzraum eine Form entsteht. Zunächst ist daran zu erinnern, dass es noch andere Töne gibt als auf unserer Klaviertastatur angeboten werden, ich erinnere an die neutrale Terz, weder Dur noch Moll, sondern dazwischen.

54) Live Geige: Genre Sikah (auch auf Choral-Melodie bezogen!)

Und nun ein syrisches Volklied. Eins von vielen, die sich im Kern auf den Terzraum beschränken.

56) CD Tr. 31) Syrisches Volkslied im Maqam Sikah
Dauer: 0:59 / Privataufnahme
Melodien_56_Miniatur (154K)

Hier folgt eine nah verwandte libanesische Melodie, ein Modell für vierzeilige Strophen, wie es von Volkssängern verwendet wird. (Es handelt sich um eine historische Aufnahme aus den 30er Jahren.)
Der Terzraum des Anfangs wird von Zeile zu Zeile ausgebaut, eine Quart schichtet sich darauf, die dritte Zeile ein trillergeschmückter Höhepunkt, und: zurück zur Kernmelodie.

57) CD Tr. 32) Libanesische Qaside Strophe 1 und 2
Dauer: 1:23 / Ausf.: Youssef Dahertage, Gesang
Historische Aufnahme "Ala Tarik" Baidaphon B 099 696/7
Melodien_57_Miniatur (175K)

Ein anderes Melodiemodel hält haus mit dem Terzraum, der hier am Anfang stand, und bricht nur am Ende aus nach dem eben gehörten Muster.

58) CD Tr. 33) Libanesische Muwassah im Duo der Volkssänger
Dauer: 1:31 / Ausf.: Youssef & Bahjat Dahertage
Aufnahme: Jan Reichow (Beirut 12.01.1969)

Und hier wieder eine andere Ausprägung dieses Melodiemodells, ohne tonale Ausweitung, zunächst mit dem syrischen Volkssänger, der sich auf der arabischen Laute begleitet, dann ausgebaut zu einem virtuosen Solo mit Chor und grandiosen Trillereinlagen, die populäre Sängerin Sabah.

59) CD Tr. 34) Abouzouluf, syrischer Volkssänger
Dauer: 1:02 / Privataufnahme 1969
60) CD Tr. 35) "Abou-el-zolof" mit der libanesischen Sängerin Sabah (trad./ohne)
Dauer: 3:56 / Philips FX 3098 A (Made in Lebanon)

Szenenwechsel: Jetzt folgt ein etwas anderer Aufbau von Terz- und Quartschichtungen, aber nach den bisherigen Erfahrungen haben wir keine Schwierigkeiten, die motivischen Einheiten zu erfassen. Eine Volksliedmelodie aus dem Punjab:

61) Live Geige: die Struktur der Dadra Punjabi Melody andeuten
Melodien_61_62_Punjabi (306K)
62) CD Tr. 36) Shivkumar Sharma: Dadra Punjabi Melody
Dauer: 1:47 Dadra / Punjabi Melody (trad./ohne)
Ausf.: Shivkumar Sharma, Santur; Zakir Hussain, Tabla
CD INDIA World Network 52.984 (LC 6759)

Johannes Brahms hat sich gegen Ende seines Lebens am Klavier mit den elementaren Bausteinen seiner Musik beschäftigt. Zu den ungeheuersten Ergebnissen zählt das Intermezzo es-moll, das den engen Raum einer kleinen Terz zur Grundlage eines gewaltigen Ton-Dramas macht (von dem wir hier nur den ersten Teil hören können).

63) CD Tr. 37 Johannes Brahms Intermezzo op. 118 Nr. 6 es-moll
Dauer: 1:51 / Ausf.: Gerhard Oppitz , Klavier
BMG 09026 63123 2 (LC 00316)

Am Ende unserer heutigen Melodie-Betrachtung steht ein Stück Volksmusik von unerhörtem Reiz, - wobei nicht ausgeschlossen ist, dass dieser Reiz erst richtig wahrnehmbar ist, wenn man diese Raffinesse großherzig einem etwas bizarren Blasorchesterzugesteht und das scheinbar Unmögliche, schwierig zu Hörende unter indischen Bedingungen als volksläufig akzeptiert.
Wir haben über Bordun gesprochen, diesen durchgehaltenen Grundton, der in Indien z.B. den Fluchtpunkt aller Musik ausmacht, alle Melodien und Tonskalen haben ihn im Sinn und beziehen sich auf ihn:
(Und wir haben von Zuckerkandl gehört, dass die Melodie der Schwerkraft nachgeben, aber auch ihr widerstehen kann. Aber bis zu welchem Grad, das haben wir vielleicht noch nie erlebt, und er vielleicht auch nicht.)
Was wir bisher aber vielleicht noch nicht ins Auge oder ins Ohr gefasst haben, ist die Möglichkeit, dass die Musik mit diesem Grundton auch ein scheinbar dissonantes Spiel treiben kann, dass sie ihn in Frage stellen kann, in frappierender Weise schneiden kann. Natürlich bleibt die Welt in Ordnung, - aber wir haben ein Problem, wir müssen Polytonalität wahrnehmen lernen und genießen, - aber glauben Sie mir, hier wird es uns leicht gemacht, wir stehen an der Schwelle der hohen Kunst der Raga-Interpretation.
Des genialsten Systems der Melodik, das die Menschheit hervorgebracht hat.

64) Live Geige Rajasthan-Melodie (E-Grundton, Cis-dur drübergelagert)
Melodien_64_65_Rajasthan (228K)
65) CD Tr. 38 Rajasthan "Shyam Bhaé" (trad./arr. Hameed Khan)
Dauer: 2:45 Shyam Bhaé (La tombée du jour):
Le soir arrive, ne me deçois pas, je t'attends.
Ausf:: Jaipur Kawa Brass Band (Fanfare du Rajasthan)
CD Kardum 022 KAR 077 - 3004 077 HMCD 87 (Distrib. hamonia mundi)


Notenwiedergaben

  • Jan Reichow: Die Entfaltung eines Melodiemodells im Genus Sikah / Regensburg 1971
  • Martin Keck: Irish Fiddle Die traditionelle Sopielweise der Geige in Irland / Berlin 1978
  • Alle handgeschriebenen Melodietranskriptionen: ©Reichow





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Melodien... Vom Choral zum Raga