Sie befinden sich hier:
Jan Reichow > Startseite > Texte > fürs Radio > Musikpassagen 17. August 2006 - Von Orgelpunkt und Ozean

Musikpassagen
WDR3, Donnerstag, 17. August 2006, 15:05 - 17:00 Uhr
mit Jan Reichow

(Thema ursprünglich vorgesehen für 11. Mai 2006)
Von Orgelpunkt und Ozean, Wahn und Weltmusik
mit Musik von Johann Sebastian Bach, Johannes Brahms, Richard Wagner, Charles Ives, Bismillah Khan und anderen
Redaktion: Bernd Hoffmann

(Jingle Musikpassagen)

Am Mikrofon begrüßt Sie J.R.
Meine Damen und Herren, wussten Sie, woher das Wort "kunterbunt" kommt? Wenn nicht, werden Sie's auch nicht erraten. Es bezeichnet jedenfalls das Gegenteil von einem kunterbunten Durcheinander, - es ist von einem ehrwürdigen alten Wort abzuleiten, von dem Wort "Kontrapunkt".
Und das Wort "Kontrapunkt" bezeichnet - zumindest ursprünglich - eine besonders übersichtliche musikalische Mehrstimmigkeit: den Satz "punctus contra punctum". Sie erinnern sich, dass ein niedergeschriebener Ton, eine Note, durchaus wie ein dicker Punkt aussehen kann, und ein zweistimmiger Zusammenhang kann "punctus contra punctum" komponiert werden, die frühe Kontrapunkt-Lehre regelte das Verhältnis der Melodietöne zu einer Gegenstimme, und zwar Ton gegen Ton nach den Regeln der Lehre von Konsonanz oder Zusammenklänge. Ich glaube, von Dissonanzen war damals noch nicht die Rede, nur von perfekten und imperfekten Konsonanzen. Und das Wichtigste: beide Stimmen bewegten sich, und sie blieben nicht allein, es kamen mehrer hinzu, - vorbei die Zeit des herrlichen Einklangs! (Die auch kein Paradies war!)
1) El Sabio Tr. 8 "Quen boa dona querrá" mit Organistrum (6:00)
(Musik nach 4:00 unter Text, bis Bach zu hören ist)
EL SABIO Gesänge für König Alfonso X. von Kastilien und León (1221-1284)
Ausführende: Sequentia
Deutsche Harmonia Mundi BMG 05472 7713 2 (LC0761)
So könnte es um 1280 am Hofe des Königs Alfonso geklungen haben, König von Kastilien und Leon, genannt der Weise, "El Sabio", unter ihm gab es zumindest keine musikalischen Missverständnisse zwischen Mauren, - also Arabern (Berbern) - , Christen und Juden. Die Musiker unter ihnen hätten wohl auch alle - mit ein bisschen Absprache - in diesem Ensemble Sequentia mitwirken können.

Etwas mehr als 200 Jahre später gab es eine
"welthistorische Zäsur, die tatsächlich die ältere Weltgeschichte Eurasiens von der Neuzeit dramatisch trennt: Columbus (1492) und Vasco da Gama (1498) eröffneten in der Tat die Globalisierung der Weltgeschichte mit direkteren und massiveren Kontakten zwischen allen, auch den bisher isolierten Kontinenten, denn je zuvor. Zum erstenmal wurde die Kugelgestalt der Erde für große Entwicklungen ausschlaggebend, ja unerlässlich."
So bewertet der Historiker Imanuel Geiss die Überwindung der Ozeane! Und weiter:
"Seit seiner Expansion in Übersee überwältigte Europa mit seiner explosiven Dynamik die übrige Welt, erst kommerziell, später politisch, technologisch, politisch und geistig, änderte sich aber seinerseits in diesem Prozeß tiefgreifend."
Meine Damen und Herren, da Sie die Musik vom Hofe Alfons des Weisen noch gut im Ohr haben, werden Sie den Zeitsprung hinweg über 500 Jahre von der Konsonanz zum Kontrapunkt schon als recht gravierend empfinden, heute wird all dies unter der Rubrik Alte Musik subsumiert.
Falsch: Johann Sebastian Bach ist der unruhige Geist des kontrapunktischen Subjekts....
(Musik beginnt: Fugen-Exposition)
Bach ist uns bis heute so nah geblieben, dass wir ihn nicht nur als Summe einer vergangenen Epoche sehen können, sondern zugleich als Neubeginn eines Zeitalters, in dem das Individuum, als Ebenbild Gottes, im Mittelpunkt des Weltbildes standen. "Ich denke, also bin ich", sagte Descartes 1641 und vergaß nicht, einen Gottesbeweis hinzuzufügen, den erst Immanuel Kant entkräftete.

Bach steht historisch in der Mitte zwischen diesen beiden Riesen, - gleich groß.

Und wenn er seinen bereits beendeten Contrapunctus 1 (Die Kunst der Fuge) noch einmal vornahm, um am Ende dieses göttlich-kosmisch-logischen Gangs der Stimmen, wo er für einen Moment sein subjektives Ego deutlicher hervortreten lässt, mit einer Figur der Ratlosigkeit, einer großen Frage und zwei beklommenen Pausen, - wenn er an dieser Stelle statt des bloßen Schlussakkords einen Orgelpunkt setzt, den über 5 Takte gehaltenen Grundton, der sagt: Ihr seid wahrhaftig zuhaus! - gleichzeitig erklingt das Thema zum letzten Mal, und in der Höhe geht es nochmal zu der Fragefigur und sie wird aufgelöst....: wie wunderbar! Was für ein Zeichen! Zumal wenn man weiß, dass der letzte und größte Contrapunctus dieses Werkes unvollendet abbrechen wird.
2) Contrapunctus I Musik gegen Ende: subjektiv erfüllte Pausen
Johann Sebastian Bach: Die Kunst der Fuge (2:59)
Kölner Violen-Consort
Prezioso CD 840.404 (LC 6749)
An solchen Stellen ist der Orgelpunkt wie ein Hafen, in dem alle Bewegung ein geruhsames Ende findet. Orgelpunkt übrigens, weil die Orgel vor allen Instrumenten für diesen Effekt besonders geeignet erschien; man könnte in dem Moment auch einen Stein auf die Pedaltaste legen und auf den Manualen vollgriffig 5 Minuten weiterspielen.
Aber man kann diesen Orgelpunkt-Effekt auch sporadisch zwischendurch einsetzen, zum Beispiel wie ein mächtiges Hindernis, gegen das man sich vergeblich anstemmt, ehe man es in großen Zirkeln umkreist und schließlich als Ruheplatz akzeptiert.
3) Bach Toccata d-moll Tr. 1 ab 0:30 bis 1:26
J.S.Bach The Great Organ Works
Toccata and Fugue BWV 565
Wolfgang Rübsam, Orgel
Naxos 8.553859 (LC5537)
Der Orgelpunkt kann auch wie eine schwere Last wirken, die uns schier zu Boden zieht; denken Sie nur an die Last der Trauer am Anfang der Matthäus-Passion. Hören Sie nur auf den Basston, - ist es nicht eine gewaltige Stauung, die von den Windungen der Oberstimmen überwunden werden muss? Oder ist ein Sog aus der Tiefe, dem sich die aufsteigenden Klagerufe nicht entziehen können?
Es würde mich nicht wundern, wenn jemand angesichts dieses Hin- und Herwogens sagen würde: das ist genau das "ozeanische Gefühl", das Sigmund Freud einmal im Zusammenhang mit der Religion behandelte.
4) Bach: Anfang der Matthäus-Passion
J.S.Bach Matthäus-Passion "Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen"
Orchester-Einleitung
The Amsterdam Baroque Orchestra / Ton Koopman
ERATO 2292-45814-2 (LC 0200)
Am 30. April 1870 schrieb Friedrich Nietzsche an seinen Freund Erwin Rohde:
"In dieser Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion gehört, jedesmal mit demselben Gefühl der unermesslichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium; es ist dies die Musik der Verneinung des Willens, ohne Erinnerung an die Askesis."
(an Erwin Rohde, 30. April 1870, KSB 3: 76)
Das Jahr ist wichtig: 1870.
Nietzsche stand im Banne Wagners und arbeitete an seinem ersten großen Werk "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik", worin er das rauschhafte dionysische Lebensgefühl gegen den apollinischen Geist der Distanz und gegen den christlichen Geist der Askese auf den Schild hob. Ich zitiere:
"Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysos überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven'sche Jubellied der "Freude" in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder "freche Mode" zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah.
(Geburt der Tragödie, Kapitel 2)
Soweit Friedrich Nietzsche in seinem Buch "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik". Abgesehen von den alten Griechen hatte auch Schopenhauers Indien-Bild Spuren hinterlassen.
Später hat Nietzsche an seinem Erstlingswerk kein gutes Haar gelassen, zumal nachdem er mit Wagner, auf dessen dionysische Tristan-Musik er hier zielte, gebrochen hatte, ebenso wie mit Schopenhauers Weltverneinung.
Behalten wir einige Stichworte im Sinn: das Evangelium der Weltenharmonie, der zerrissene Schleier der Maja, das geheimnisvolle Ur-Eine, das sich öffnet, Panther und Tiger, die den blumenbekränzten Wagen ziehen, Auflösung, Verzauberung allenthalben.

Alle hundert Jahre wird das neu erfunden; dagegen ist kein Kraut gewachsen, da hilft weder Kritik noch Analyse, Indien mit seinem ungeheuren mythologischen Spektrum kann leicht zum Katalysator werden. Die Beatles, Ravi Shankar, Mahesh Maharishi Yogi ... so geschah es.
Aber 1970 befinden wir uns im Zeitalter der Massenmedien, und das Niveau der Auseinandersetzung hat sich von Grund auf verändert.
Die Lehre von der unendlichen Wiederkehr war der Pop-Musik von Anfang an nicht fremd...
5) George Harrison: "My sweet Lord" Tr. 8 3:33
The Best of George Harrison: My sweet Lord (Album "All Things Must Pass")
1970 Harrisongs Ltd./Peter Maurice/EMI
Parlophone EMI CDP 7 46682 2 (LC 0299)
(unter Text:)
George Harrisons "My sweet Lord" war der Bestseller des Jahres 1970; aber offenbar ein Wiedergänger. 90 Prozent der Melodie glichen einem 7 Jahre vorher veröffentlichten Titel, Harrison verlor den Plagiatsprozess und musste zwei Drittel seiner Tantiemen zurückzahlen.
Dabei war es für ihn offenbar eine Glaubenssache gewesen. "My sweet Lord", der indische Gott Krishna, verschmolz mit Gott Christus, Halleluja geht auf in Hare Krishna, so groß ist doch der Unterschied nicht, zumal, wenn die Wogen der Musik uns davontragen.
(Musik hoch bis Ende)
Im Vorwort einer Hare-Krsna-Bibel schreibt A.C. Bhaktivedanta Swami:
"Meine dankbare Anerkennung gilt Sriman George Harrison, der mittlerweile ebenfalls Hare Krsna chantet, für seine großzügige Spende von 19000 Dollar zur Deckung der gesamten Druckkosten dieser Ausgabe."
Zu Beginn dieses Vorwortes macht er auf das Umschlagbild dieser Bibel aufmerksam:
"Wenn jemand in der westlichen Welt den Umschlag eines Buches wie den des Krisna-Buches sieht, wird er sich sofort fragen: 'Wer ist Krsna? Und wer ist das Mädchen an seiner Seite?'"
Und die Antwort des Swamis lautet:
"Krsna ist die Höchste Persönlichkeit Gottes."
Ich gestehe, dass ich mich beim Anblick dieses Bildes und aller anderen Bilder dieses Buches etwas ganz anderes frage, und ganz sicher würde es vielen anderen Menschen in der westlichen Welt ganz ähnlich gehen:
Ist das nicht reinster Kitsch? Oder muss ich umdenken, und gerade dies hier als das vielberufene ganz Andere, das Fremde sehen, das es sorgsam und respektvoll wahrzunehmen gilt? Es ist nicht dort am schwierigsten, wo es uns fremd, dunkel und verschlossen daherkommt, sondern wo es uns süßlich und mit peinlich bonbonfarbener Nähe einzuwickeln trachtet.
Ein gravierendes Fremdheitserlebnis hatte ich, als mich eine nie gesehene Verwandte aus Kalifornien besuchte, eine Enkelin des Bruder meines Großvaters; sie war ganz nett, aber es verband uns nichts, aber auch wirklich nichts, außer der entfernten Verwandtschaft. Ein iranischer Onkel hätte mir näher gestanden. Den aber habe ich nicht.
Ich erinnere mich an ein Bild, das im Schlafzimmer meiner Großeltern hing: ein jugendlicher Engel mit einem Palmzweig in der Hand, umgeben von einer einträchtigen Gemeinschaft wilder Tiere wie Löwe, Leopard und Wolf, sowie zahmer Tiere wie Lama, Kuh und Lamm; unter dem Bild steht "Friede"; als Kind hat mich das fasziniert, weil ich alle Tiere liebte und froh gewesen wäre, wenn sie sich nicht gegenseitig fressen würden, und ich habe mich natürlich mit dem kindlichen Engel identifiziert, weil der so etwas erreicht hat.

Aber das ist das eine: Klare Bilder, klare Aussagen, die man untersuchen kann. Das andere sind die großen Gefühle, die man nicht greifen kann und die doch alles umfassen wollen.

Sigmund Freud erzählt in seiner berühmten Abhandlung aus dem Jahr 1930 "Das Unbehagen in der Kultur", wie er seinem Freund Romain Rolland eine kleine Schrift zugesandt habe, welche die Religion als Illusion behandelt. Worauf der Freund geantwortet habe, er sei mit dem Urteil über die Religion ganz einverstanden, bedauere aber, "dass ich" - so Freud - "die eigentliche Quelle der Religiosität nicht gewürdigt hätte. Diese sei ein besonderes Gefühl, das ihn selbst nie zu verlassen pflege, das er von vielen anderen bestätigt gefunden und bei Millionen Menschen voraussetzen dürfe. Ein Gefühl, das er die 'Empfindung der Ewigkeit' nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosen, gleichsam Ozeanischem'. Dies Gefühl sei eine rein subjektive Tatsache, kein Glaubenssatz; keine Zusicherung persönlicher Fortdauer knüpfe sich daran, aber es sei die Quelle der religiösen Energie, die von den verschiedenen Kirchen und Religionssystemen gefasst, in bestimmte Kanäle geleitet und gewiss auch aufgezehrt werde. Nur auf Grund dieses ozeanischen Gefühls dürfe man sich religiös heißen, auch wenn man jeden Glauben und jede Illusion ablehne."
Wie gesagt: ich habe Sigmund Freud zitiert, der seinen Freund Romain Rolland zitiert, der damals gerade seine beiden Bücher über das Leben indischer Heiliger geschrieben hatte: "La vie de Ramakrishna" und "La vie de Vivekananda".
Und nirgendwo hat man wohl so intensiv mit dem Gefühl der Entgrenzung zu tun wie in der Begegnung mit der indischen Weltanschauung, Mythologie und - Musik.
6) Shannai Tr. 2 Puriya Dhanashree Alap (Anfang bis 1:43)
SHAAN-E-SHEHNAI / Ustad Bismillah Khan (Shannai)
Raga Puriya Dhanashri
SICCD 040 India
7) Rudra Vina Tr. 4 Joyiga Alap (Anfang bis 2:50, dann unter Text)
Raga Joyiga mit Asad Ali Khan (Rudra Vina)
Nimbus NI 5633 (LC 5871)
In der Nacht vom 3. auf den 4. September 1853 gelangte Richard Wagner mit dem Dampfschiff - bei schwerer Seekrankheit mit Erbrechen - von Genua nach La Spezia.
"Nach einem längeren Spaziergang in der Umgebung von La Spezia streckte er sich am Nachmittag des 5. September auf dem Sofa seines Hotelzimmers aus und gedachte zu schlafen. Statt dessen verfiel er in einen somnambulen Zustand, in dem er die Empfindung hatte, in einem stark fließenden Wasser zu treiben. Das Rauschen desselben" heißt es in [seiner Selbstbiographie] "Mein Leben",
"stellte sich mir bald im musikalischen Klange des Es-dur-Akkordes dar, welcher unaufhaltsam in figurierter Brechung dahinwogte; diese Brechungen zeigten sich als melodische Figurationen von zunehmender Bewegung, nie aber veränderte sich der reine Klang von Es-dur, welcher durch seine Ausdauer dem Elemente, darin ich versank, eine unendliche Bewegung geben zu wollen schien.
Mit jähem Schreck, als schlügen die Wogen über ihm zusammen, erwachte er aus seinem Halbschlaf. Er war mitten im Komponieren. Er wollte nach Hause."
So schreibt Martin Gregor-Dellin und hinterfragt zugleich Wagners nachträgliche Darstellung: man müsse die einschränkende Bemerkung in "Mein Leben" hinzunehmen: ihm sei das Orchester-Vorspiel zu Rheingold, wie er es mit sich herumtrug und nur nicht habe genau finden können, damals endlich aufgegangen, sowie den noch bedeutsameren Umstand, dass die "Figurationen von zunehmender Bewegung" sich bei der Niederschrift sogar hinsichtlich der alles entscheidenden ansteigenden Intervalle noch erheblich veränderten und das elementare Gewoge dieses musikalischen Ur-Anfangs bis zur letzten Fassung neue und wesentliche Ergänzungen in sich aufnahm."
(Gregor-Dellin S.376)

Hier wogt gleich das Vorspiel zu "Rheingold" aus der Tiefe ans Licht.

8) Wagner Rheingold-Vorspiel (Levine) Tr. 1 4:48 Tr. 2 bis 1'20
Richard Wagner: Das Rheingold Vorspiel und 1. Szene
The Metropolitan Orchestra / James Levine (1989)
Deutsche Grammophon 427 607-2 (LC 0173)
Aus dem dunklen Urgrund ins lichtere Dasein der Wasserwesen und der Nibelungen, die aus dem unterirdischen Nibelheim ebenfalls nach oben drängen werden.
In "Tristan und Isolde" kehrt sich die die Dialektik von Tageslicht und nächtlichem Dunkel ins Gegenteil, und doch heißt es von der ersten chromatischen Melodielinie und den ersten beiden Akkorden: "ein Hauch trübt die Himmelsklarheit" - und am Ende wieder das Ozeanische:
"In dem wogenden Schwall,
in dem tönenden Schall,
in des Welt-Atems
wehendem All -
ertrinken,
versinken -,
unbewußt -,
höchste Lust!"

(Isoldes Liebestod).

Seit Beethovens Neunte aus dem Urnebel auftauchte, wie die Schöpfung am ersten Tage, kehrt diese Idee immer wieder:
wir kennen den Anfang der verschiedenen Bruckner-Sinfonien, den Anfang der Ersten von Mahler. "Wie ein Naturlaut", - statt des Meeres oder eines Urnebels die Atmosphäre der Natur schlechthin, wie ein gleißender akustischer Vorhang, den einzelne Vogelstimmen durchdringen. Der Schleier der Maja.

In der indischen Musik ist dieser Beginn so selbstverständlich, dass man ihn kaum irgendwo beschrieben findet, geschweige denn als Mysterium verklärt. Eine schöne Rarität ist daher der Text von Vidya Rao über den allumfassenden, das All umfassenden Mutterleib des Klangs, den die Grundtonlaute Tanpura vorgibt. Die hörbar gemachte Stille, aus der Myriaden musikalischer Dramen und Farben quellen. Der ewige, ewig-schaffende Ozean, der Heimat des individuellen Klangs, der entsteht, sobald zwei Dinge aufeinandertreffen.
9) Music appreciation I ab 0:35 bis 2:22
Music Today CD-A92017 Text: Vidya Rao
The musician's voice is cradled in this all-embracing womb of sound that the tanpura's drone strives to echo. (Tanpura) It is this primordial, pure sound that is evoked, experienced and communicated through the myriad dramas - the leelas of raga and tala - that the musician creates through his performance. And miraculously it is through the experience of Nad Brahma that we merge our individual identities into that eternal ever-creative ocean of silence that is anhad.
Two objects must strike each other to produce nad - there must be aghat. (Bell, gong) It is significant that aghat means 'to strike' or 'towound'. It is only when silence is wounded that nad may arise. At the heart of our music, then, is this admission of vulnerability, this recognition that the heart must be pierced, one must willingly surrender oneself to the pain of the wounding of silence. Only then will the joy and beauty of music, the most perfect art form, be born.

(Vidya Rao)
Eine willentlich hingenommene Verletzung der allumfassenden Stille also: die Musik.
Dieses Wissen haben die Inder sozusagen in die Bedingungen ihrer Musik eingeschrieben. In diesem Sinne kann man jedes Konzert transzendental verstehen, vom gründlichen Einstimmen der Instrumente angefangen, unabhängig vom konkreten musikalischen Inhalt, Melodie und Rhythmus.
In unserer Musik ist dieser Bezug nur ausnahmsweise gegeben, z.B. als Bestandteil eines konkret auskomponierten Werkes, das zwar rätselhaft klingt, das aber in jedem Punkt präzise deutbar ist:

Die Streicher repräsentieren darin den Hintergrund unseres begrenzten Erdenlebens: die Ewigkeit, den Sternenhimmel, das Schweigen der Transzendenz.

Charles Ives hat gesagt:
"Ihre Aufgabe ist es , 'das Schweigen der Druiden' darzustellen: 'Sie wissen nichts, sehen nichts, hören nichts.' Die Trompete wirft die 'immerwährende Frage der Existenz auf'; sie tut es mehrfach, ohne dass sich ihre Stimme dabei veränderte. Die Jagd nach der 'Unsichtbaren Antwort' jedoch, von den Flöten und anderen Menschenwesen unternommen, wird von Mal zu Mal aktiver, schneller und lauter, sie steigert sich auf dem Wege eines animando zum con fuoco ... 'Die einander bekämpfenden Antworten' scheinen nach und nach, auch als Folge einer 'Geheimkonferenz', ihrer Fruchtlosigkeit innezuwerden, woraufhin sie 'Die Frage' zu verspotten anfangen - der Hader ist vorbei für einen Augenblick. Wenn 'Die Antworten' verschwunden sind, wird 'Die Frage' ein letztes Mal gestellt und stößt auf 'Das Schweigen', weit weg, in 'Ungestörter Einsamkeit'."
10) Charles Ives: The unanswered Question 5:18
Charles Ives: The unanswered Question
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg / Michael Gielen
Hänssler Classic CD 93.097 (LC 10622)
Danach müsste ein langes Schweigen folgen, - nach dem Verklingen des tönenden Schweigens der Streicher.
Die unbeantwortete Frage, "The unanswered Question". "Die offene Frage".

Charles Ives schrieb sein berühmtestes Orchesterwerk 1909, in den dreißiger Jahren überarbeitete er es noch einmal. Damals gab es noch kaum jemanden, der sich für seine Musik interessierte. 1946 wurde "The unanswered Question" in New York uraufgeführt, im Jahr darauf erhielt Charles Ives den Pulitzer-Preis für seine 3. Sinfonie, die er ebenfalls um 1910 vollendet hatte.
In unserer Aufnahme dirigierte Michael Gielen das SWR Sinfonieorchester.


1976 benannte Leonard Bernstein seine berühmten Harvard-Vorlesungen über Musik nach diesem Werk "The unanswered Question.". Er sagte:
"Ives schwebte eine höchst metaphysische Frage vor; aber ich habe immer das Gefühl gehabt, dass er zugleich auch eine andere Frage stellte, eine rein musikalische: 'Musik - wohin?'"
(S.13)

Um Bernsteins Frage noch einmal umzukehren:
Es ist schon möglich, dass die Frage nach der Musik immer viel mehr avisiert als nur Musik, nämlich Meta-Musik und sogar Meta-Physik.
Aber anders als Charles Ives, der ein religöses Weltbild akzeptiert ohne es hier als Antwort zu bemühen, hat Johannes Brahms noch eine wirkliche Antwort versucht, die wir an dieser Stelle allerdings ausblenden werden. Und auch die Frage hat er - mit einem Bibelwort aus dem Buch Hiob - ganz anders gestellt.
Meine Damen und Herren, erschrecken Sie nicht, danach ... wird sich eine Tür öffnen, - in einen Raum der Mobiles und der schönen Balance, da stellen sich keine Fragen mehr.

11) Brahms Tr. 6: Warum? Anfangsteil bis: 5:35
Johannes Brahms: (Deux motets) Zwei Motetten op. 74 (1879)
Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen?
Collegium Vocale de Gand / Philippe Herreweghe
Harmonia Mundi France HMC 901122 (LC 7045)
12) Tr. 7 Gamelan Selonding (5:12)
BALI Traditional Musicians A Suite of Tropical Music and Sound
Gamelan Selonding: "Gending Rejang Dauh Tukad"
World Network 58.397 (LC 6759)
WDR 3 Musikpassagen, heute mit Jan Reichow.
Sie hörten den ersten Teil der Motette aus op. 74 von Johannes Brahms: "Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen?", gesungen vom Collegium Vocale Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe.
Mühselig und beladen in der Fragestellung wie auch in der tiefsinnigen musikalischen Verarbeitung. Schon das Wort "Verarbeitung" deutet in die "schwierige" Richtung.
Während die paradiesische Insel des Lichtes von Mühsal und Arbeit nichts weiß: Bali, nur Leichtigkeit, Grazie und flirrende Klänge, selbst in sakraler Musik, Gamelan Selonding, der Gamelan des "heiligen Ortes", die Götter haben den Menschen in unvordenklichen Zeiten dieses Instrumentarium geschenkt.
Ist das so? Es ist nur das westliche Bild einer Welt, die von Tabus und Regeln durchsetzt ist.
Stellen Sie sich auf der einen Seite die Plastik "Der Denker" von Auguste Rodin vor, in gespannter Ruhe, fast düster, mit auf die Hand gestütztem Kopf, und auf der anderen Seite das Bild einer hochaufgerichteten balinesischen Tempeltänzerin, freundlich Blumen streuend, - und dann bestehen Sie eine der schwierigsten Prüfungen, die uns das Leben auferlegen kann: sagen Sie nicht "das gefällt mir" und "das gefällt mir nicht".
Beides ist der Mensch, und beides sind WIR und viel mehr, alle diese Existenzen sind mühsam dem Rohzustand abgewonnen.

Das Eigene und das Andere liegt unter Umständen sehr nah beieinander und ist zuweilen mit wenig Manipulation sogar austauschbar.
Der französische Soziologe Marc Augé schreibt in seinem schönen Buch "Ein Ethnologe in der Metro":

"Der andere beginnt dicht bei mir; man müsste sogar hinzufügen, dass in vielen Kulturen (alle haben sie Anthropologien, Vorstellungen vom Menschen und von der Menschheit entwickelt) der andere beim Ich beginnt"
- ich ergänze dazu: ohne dass Sigmund Freud daran beteiligt war (J.R., orig.: "Flaubert, Hugo oder Lacan")
: die Pluralität der Elemente, die das Ich als zusammengesetzte, provisorische und flüchtige Realität definieren - (...) - scheint dort (so) wesentlich zu sein (...)."
Und dann kommt die feine Beobachtung des Metro-Fahrers:
"Ich wage sogar zu behaupten - (...) - , dass ich die Analysen, Ängste und Hoffnungen eines Menschen, der aus der Elfenbeinküste stammt (ich kenne einige von ihnen, die wie ich in Sèvres-Babylone aussteigen) eher teilen könnte als die tiefschürfenden Gedanken meines Wohnungsnachbarn, der mich manchmal ein Stück begleitet und [die konservativ-katholische Zeitung] La Croix liest."
(Marc Augé S. 20 f)
Sagt Marc Augé. In der Tat könnte jeder von uns solche Beispiele nennen, wo sich in nächster Nähe ein tieferer Abgrund der Entfremdung auftut als meinetwegen in Djakarta, Shanghai oder Bombay; man müsste nur einmal mit einem Wachtturm-Anbieter vor dem Kölner Hauptbahnhof ins Gespräch kommen.

Und zu dem schwierigsten Gelände, auf dem wir uns bewegen können, gehört der Kitsch. Wenn uns Nähe, Herzlichkeit und Gefühl vorgespielt wird, und zwar mit Hilfe von Stereotypen und Klischees, durch deren mechanischen Gebrauch wirkliche Nähe, Herzlichkeit und wirkliches Gefühl geradezu ausgeschlossen sind.
Meist hängt dies mit massentauglicher Verwertung zusammen,
mit Vervielfältigungsmechanismen, die wir vielleicht nur deshalb ablehnen, weil wir uns die Illusion der eigenen Einmaligkeit erhalten wollen.
Man sagt auch, die Definition des Kitsches sei an die Definition von Kunst unauflöslich gebunden. Je undeutlicher der Begriff von Kunst, desto unfassbarer der Kitsch; - und es ist schwer bestreitbar, wie Umberto Eco meint, dass die der Kunst zugeschriebenen Wirkungen, wie Anstöße zum Denken, Erschütterung, Emotionen, ebenso von Kitsch ausgehen können.
Und wie wir wissen, hat selbst Johannes Brahms nicht permanent die "Warum"-Frage stellt, sondern auch langsame Walzer und ungarische Tänze geschrieben. Da wird es doch erlaubt sein, sich guten Gewissens mit U-Musik zu unterhalten, zumal wenn Herkunft und sozialer Status ganz undefinierbar bleibt.
Zur Not vermag das Wort "Weltmusik" alles in ein global schimmerndes, geradezu ozeanisches Licht zu tauchen.

13) Nano S. Tr. 1 (happy music, mit Pfeifen) (3:20)
Nano S. "Kalangkang" Degung Instrumental (Komp.: Nano S.)
Blue Vision BVCD 93.212 (LC 7204)
14) Erhu Tr. 5 Beautiful Coconut Tree Island (3:21)
Erhu Classics - Chen Jun: Beautiful Coconut Tree Island (Chen Jun)
with The Central Virtuosi, Yang Chun-Lin, conductor
Naxos World 76011-2 (LC 05537)
15) Rahul Tr. 2 By the River (ab 1:07) (beginnt u. endet wässrig) (2:30)
Rahul Sharma: Sweet Romance "By the river" (Rahul Sharma)
Navras NRCD 4002
Ist das Weltmusik? Sundanesische Musik aus Java, dann ein chinesisches Loblied auf die Kokospalmen-Insel und schließlich "By the river" aus Bombay, Musik eines klassischen Musikers, aber durchaus keine klassische indische Musik, seine CD heißt "Sweet Romance".
Vielleicht sogar zu süß und zu folkloristisch, um in der "Weltmusik"-Branche zum Renner zu werden, die ja zweifellos westlich dominiert ist, welche Namen auch immer sie auf den Schild hebt. Da mag dieser nette Bass und der Harmoniewechsel unserem Popverständnis noch so entgegenkommen.
Die westliche Weltmusik-Szene ist wählerisch: was nicht nach den üblichen, zufällig karibischen Mode-Rhythmen popmäßig einzuordnen ist, fällt durch den Rost.
Inzwischen ist die Szene möglicherweise der Weltmusik bereits überdrüssig, nachdem sie ihren Begriff gründlich herabgewirtschaftet hat.
Es könnte sogar sein, dass man der Indischen World-Pop-Gruppe "Indian Ocean" vorhält, dass sie zu westlich klingt. Zu hymnisch, zu choral-orientiert.
16) Indian Ocean T. 7 Beginn 4:12 Kandisa (7:38) Titel: "Kandisa" (Ensemble: Indian Ocean)
CD Kandisa Times Music, 2000 (Times of India)
Oder gelingt es Anoushka Shankar, der Tochter des großen Ravi, dem Verdikt zu entkommen, dass sie die indische Musik "weichspült"? Auf dass die Sitarklänge nicht mehr nackt und bloß für klassische Raga-Musik einstehen: "Naked" heißt dieser Titel:
17) Naked Tr. 4 hoch ab 2:37 (4:14)
Anoushka Shankar: CD RISE Titel: "Naked" (Anoushka Shankar)
EMI Classics 3549502 (LC 06646)
"Naked" oder "weichgespült" - das ist hier die Frage. Wie ging es doch dem wunderbaren Flötisten Hariprasad Chaurasia, als er von Schweizer Esoterik-Zirkeln eingeladen wurde?
Bitte keine Trommel und keine dynamischen Spitzen, hieß es da, nur sanfte, meditationsfreundliche Töne.
Anoushka hat die Lektion begriffen.

18) Anoushka Tr. 6 "Beloved" ab Anfang bis ca. 2:36
Anoushka Shankar: CD RISE Titel: "Beloved" (Text & Music: Anoushka Shankar)
EMI Classics 3549502 (LC 06646)
Sigmund Freud schreibt (S.95):
"Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weitumfassenderen, ja - eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach. Wenn wir annehmen, dass dieses primäre Ichgefühl sich im Seelenleben vieler Menschen - in größerem oder geringerem Ausmaße - erhalten hat, so würde es sich dem enger und schärfer umgrenzten Ichgefühl der Reifezeit wie eine Art Gegenstück an die Seite stellen, und die zu ihm passenden Vorstellungsinhalte wären gerade die der Unbegrenztheit und der Verbundenheit mit dem All, dieselben, mit denen mein Freund das 'ozeanische' Gefühl erläutert. Haben wir aber ein Recht zur Annahme des Überlebens des Ursprünglichen neben dem Späteren, das aus ihm geworden ist?
Unzweifelhaft; ein solches Vorkommnis ist weder auf seelischem noch auf anderen Gebieten befremdend." usw.
Das sagt Sigmund Freud und kommt dann auf Beispiele aus der Evolution, die auch frühe Stufen in späteren Formenwelten überleben lässt, den Saurier z.B. in Form des Krokodils. Genau so findet man in unserem Bewusstsein dunkle Erinnerungen an all die früheren Stufen der geistigen Entwicklung.
Und man könnte nun glauben, die Musik sei der Ort, an dem man am unbeschwertesten wieder in dieses ursprünglich Ozeanische eintauchen kann, - aber ist dies das Ziel der Musik?

Wir wissen, welche Anstrengungen ein findiger Kopf wie Odysseus unternahm, um nicht den Gesängen der Sirenen zu verfallen, an deren sizilianischem Lorelei-Felsen er mit seinen Gefährten vorüberruderte; sie wären allesamt zerschellt und auf dem Boden des Meeres gelandet.
Die Sirenengesänge von heute sind ungefährlicher, und hüllen sich, in Ermangelung des Ozeans, in wesenlose Synthesizerklänge. Man hört ihnen gefahrlos zu, wenn sie die Möglichkeiten der Musik nicht nutzen, sondern atavistisch unterbieten.
Aber man muss es nicht negativ ausdrücken: die Musik gibt soviel oder so wenig, wie wir ihr abverlangen. Selbst die monumentale Bachsche Toccata ließ sich der Kitsch-Welt einverleiben. Denn selbstverständlich gibt es nicht nur Weichei-Kitsch, sondern auch Monumental-Kitsch, und es gibt den Begriff Kitsch als Waffe, um alles und jedes als künstlerisch unakzeptabel zu kennzeichnen.
Im Falle Bach erinnere ich an die auf öffentlichen Plätzen und in Fußgängerzonen dargebotene Akkordeon-Version. Oder an die des Jules Verne-Filmes, wenn Capitaine Nemo die Toccata zum Ausdruck seiner Seelenkämpfe interpretiert: an der Muschelorgel der "Nautilus". Wohlgemerkt - in der Tiefe des Ozeans.

Benutzen wir diese Erinnerung für einen vorübergehend strengeren Fortgang dieser Musikpassagen. Ich beziehe mich auf unser Thema "Orgelpunkt". Und wenn Sie die kleinen Störungen hinnehmen sowie die Tatsache, dass Bach überhaupt nur zum Zwecke dieser Orgelpunkt-Demonstration herhalten muss: seine wild zerklüftete Toccata kennt jeder, während das nachfolgende Fragment mit seinem höchst eigenartigen Ausdruck majestätischer Trauer den wenigstens Hörern je begegnet sein dürfte. Vielleicht weil wir uns nicht getraut haben...
19) Bach Toccata Tr. 1 Anfang bis 1:27 (Töne cis-d Shannai einblenden)
J.S.Bach The Great Organ Works
Toccata and Fugue BWV 565
Wolfgang Rübsam, Orgel
Naxos 8.553859 (LC5537)
20) Bismillah Khan Tr. 1 Alap Rag Lalit 4:56
SHAAN-E-SHEHNAI / Ustad Bismillah Khan :Rag Lalit
SICCD 040 India
Sie hörten Ustad Bismillah Khan, den Altmeister der indischen Oboe Shannai, mit einer Einstimmung in den Raga Lalit. Dessen Besonderheit besteht unter anderem darin, dass der Grundton, den die Schüler des Meisters permanent aushalten, - er ist ja das Fundament jedes indischen Raga-Gebäudes! - von der Melodiestimme spannungsvoll ausgespart wird: sie schreitet von seinem tieferen Nachbarton zum höheren Nachbarton, als sei sie über den eigentlichen Gravitationspunkt erhaben.

Aktuelle Ergänzung / Nachtrag zur Sendung

Zum Tode von Bismillah Khan:
Ustad Bismillah Khan: On the shore of the ocean of music [sic], Artikel vom 21.August 2006 auf der indischen Nachrichtenseite rediff news.


Meine Damen und Herren, von dieser strengen Form der Raga-Interpretation möchte ich Ihnen heute nicht mehr anbieten; in der vorigen Sendung habe ich mich noch für meine Eingriffe in die indische Musik entschuldigt und der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass ich damit niemanden genervt habe. Prompt bekam ich eine Mail, folgenden Inhalts:
"Herr Reichow, Sie haben Recht wenn Sie sagen, Sie nerven uns mit indischer Musik. Nicht zustimmen können wir wenn sie sagen wir würden Brahms besser verstehen nach dieser Musik."
Wenn ich mich nicht irre, kam die Mail aus Unwetter an der Ruhr!
Heute also kein Brahms zum Ausklang.
Sie haben sicher auch bemerkt, dass ich unter dem Vorwand der Kitsch-Analyse heute auch ganz andere Klänge aus Indien gebracht habe.
Die Musikpassagen in WDR 3 führen in die Flure eines musikalischen Gebäudes mit zahlreichen Wohnungen; vielleicht steht es am Ufer eines Meeres, aber es steht auf festen Pfeilern.
Und selbst im Angesicht kitschiger oder geschmacklich fragwürdiger Kunst können wir immer mit Umberto Eco sagen: dass Anstöße zum Denken, Erschütterung, Emotionen von jeder künstlerischen Äußerung ausgehen können, ob in Übereinstimmung oder in Konfrontation.

Ich war z.B. kürzlich in der Essener Caspar-David-Friedrich-Ausstellung und bin dabei wider meine Erwartung in Opposition gegangen: der seit Jahrzehnten gedankenlos verehrte Maler meiner Geburtsstadt Greifswald schien mir unangenehm symbolüberladen, - kein Segelschiff, keine Mondsichel ohne tiefere Bedeutung, kein elliptischer Himmelsausschnitt, der nicht zugleich das Auge Gottes ist, das uns anschaut. Und auch die in die Bilder gemalten Rückenansichten von Betrachtern, die uns das andächtige Betrachten lehren sollen, und zwar einer Natur, die vom Maler künstlich mit allen Insignien der Andacht versehen ist.

Nein, der Zuwachs an Wissen war in diesem Fall distanzfördernd, und dafür bin ich dankbar.
Und es führte geradeswegs zu der Beobachtung des Ozeanischen bei Sigmund Freud - und in dieser Sendung. Wobei wir nicht verschweigen wollen, dass Sigmund Freud dem Phänomen "Musik" ebenso verständnislos gegenüberstand wie dem der Religion. Was eigentlich einem Psychoanalytiker nicht zu verzeihen ist.
Hier ist Anoushka Shankar mit ihrem Vater Ravi Shankar: der Dialog spricht für sich selbst, er ist in einem Stil gehalten, der semi-classical genannt wird und er enthält allerhand Elemente, die man im strengen Raga-Vortrag nicht findet.
21) Anoushka Shankar "anourag" Tr. 6 Pancham Se Gara 11:48
Anoushka Shankar CD anourag "Pancham Se Gara" (Ravi Shankar)
Ravi Shankar & Anoushka Shankar, Sitar; Ramnmoy Bode, Tabla.
Angel 7243 5 56969 2 2 (LC 0110)
Ravi Shankar, Sitar, mit seiner ebenfalls Sitar spielenden Tochter Anoushka und mit Tanmoy Bose an den Tabla-Trommeln.
Diese CD ist schon 6 Jahre alt, inzwischen ist Anoushka andere Wege gegangen, wie wir gehört haben; kaum vorstellbar, dass der klassische Stil und der "Weltmusik"-Stil auf Dauer in ein und derselben Person nebeneinander bestehen können, und sich vertiefen oder aneinander wachsen.
Der folgende Titel "Red Sun" stammt von der neuen CD mit dem Titel "Rise", was "Aufgang"bedeutet, aber wohl nicht den der Roten Sonne meint, sondern vielleicht Anoushkas Aufstieg bei EMI Classics. Mit von der Partie ist wieder Tanmoy Bose, der hier gemeinsam mit Bikram Ghosh die virtuose Silbentechnik der Tablaspieler demonstriert. Und hören Sie auch, was aus dem Orgelpunkt, dem Bordun der indischen Musik geworden ist?

Von Orgelpunkt und Ozean, von Wahn und Weltmusik, - das waren die Musikpassagen auf WDR 3.
Ich verabschiede mich, - wie immer sind Sie mit Lob, Kritik, Fragen und Anregungen beim Hörertelefon willkommen, dessen Nummer im Trailer kurz vor 17 Uhr genannt wird. Die Redaktion der Sendung hatte Bernd Hoffmann, die Technik besorgte Timo Becker (Rheinklang Studio), eine Musikliste für die WDR3-Web-Seite schreibt unser Produktionsassistent Johannes Zink, das Manuskript der Sendung und Literaturhinweise finden Sie auf meiner eigenen Webseite.


Ich bedanke mich fürs Zuhören!
Ihr Jan Reichow

22) Anoushka Shankar "Rise" Tr. 2 "Red Sun" 4:45
Anoushka Shankar: CD "RISE" Titel: "Red Sun" (Music: Anoushka Shankar, Bikram Ghosh & Tanmoy Bose)
EMI Classics 3549502 (LC 06646)
www.anoushkashankar.com/aboutrise.html

Erwähnte oder zitierte Literatur

  • Marc Augé
    Ein Ethnologe in der Metro
    Frankfurt/New York 1988
    ISBN 3-88655-232-2

  • Leonard Bernstein
    Musik - die offene Frage, Vorlesungen an der Harvard-Universität
    Wien 1976

  • Umberto Eco
    Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur Frankfurt am Main, 1986

  • Sigmund Freud
    Das Unbehagen in der Kultur (1930)
    Mit einem Nachwort von Thomas Mann
    Frankfurt am Main 1956

  • Imanuel Geiss
    Geschichte im Überblick Daten und Zusammenhänge der Weltgeschichte
    Reinbek bei Hamburg 1986

  • Martin Gregor-Dellin
    Richard Wagner | Sein Leben Sein Werk Sein Jahrhundert
    München 1980
    ISBN 3-492-02527-7

  • Friedrich Nietzsche
    Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
    Reclam ISBN 3-15-007131-3
    s.a. gutenberg.spiegel.de/autoren/nietzsch.htm

Weiterführend:

  • Klaus Theweleit
    absolute(ly) Sigmund Freud Songbook
    orange press Freiburg 2006
    ISBN 978-3-936086-21-8
    "Klaus Theweleit präsentiert Freud-Songs zum 150. Geburtstag des Entdeckers einer neuen Seele und erzählt die Geschichte seiner Erfindungen wie seiner Überwindungen ..."

  • A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada
    Krsna - Die Quelle aller Freude
    o.O. 1987
    ISBN 0-89213-083-0

  • Jyotindra Jain
    Morphing Identities: Reconfiguring the Divine and the Political
    in: body.city /siting contemporary culture in INDIA
    Berlin und Delhi  2003
    "In the first part of the essay, I examine a set of collages related to the 'Krishnalila' showing the erotic and promiscuous 'play' of Krishna, often 'staged' against the backdrop if idealized colonial estates of wealthy merchant families." (J.J. S. 13)
    Mit Abbildungen, die denen der "Krishna-Bibel" gleichen und letztlich auf die Massenproduktion von Ravi Varma (1848 - 1906) zurückgehen.

Zur kritischen Berücksichtigung

  • (formelhafte Grundlagen des Pop- und Kitschbewusstseins):
    Volkmar Kramarz
    Die PopFormeln
    Bonn 2006
    ISBN: 3-8024-0552-8
© Dr.Jan Reichow 2006



© Dr. Jan Reichow 2006Im Netz ... Jan Reichow < Startseite < Texte < fürs Radio <
Musikpassagen 17. August 2006 - Von Orgelpunkt und Ozean