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"Die Welt ist Klang??"
MUSIK 1 Roumanie: Musiques des Tsiganes de Valachie / Les Lautari de Clejani OCORA C559036 Titel 4 b "Ce larma se-aude-n" codru 4:30 "Was ist das für ein Lärm, den man im Wald hört?"
Die Bäuerin Anica Filip war vor 10 Jahren bereits die letzte, die einen bestimmten Stil ihrer Region von Maramures noch singen konnte. MUSIK 2 Roumanie: La vraie Tradition des Transsylvanie / u.a. Anica Filip voc.solo OCORA C559070 Titel 2 "Cinte, cuce, cînd ti-id duce" 2:14 Anica Filip, 53 Jahre, 1979, Dorf: Libotin; Region: Maramures; Land: Rumänien; Europa; Eurasien; Planet Erde. Aber: die Welt hat Hochkonjunktur! Die Welt hat Hochkonjunktur. Ein Hinterwäldler der, der heute nicht im Weltmaßstab denkt! Und anders als bei Goethe, der mit "Weltliteratur" die Vielfalt der großen Literaturen meinte, bezeichnet der Begriff "Weltmusik" letzten Endes ein westlich durchgestyltes Konglomerat.
Mag auch "Verwirrung im Dorf Welt" herrschen - so die Schlagzeile eines FAZ-Berichtes über das 6. New Wave Festival in New York -, da sie so klein ist, kriegen wir die Welt schon in den Griff. Das kann man zum Beispiel von der Weltbank lernen, deren Situation allerdings bedauerlich ist. Zitat:
"Die Welt ist Klang", das klingt gut, - aber klingt sie wirklich gut? MUSIK 3 "Erdenton" aus CD-Paket: Joachim-Ernst Berendt "Vom Hören der Welt / Das Ohr ist der Weg" / Network medien Cooperative, Vertrieb Zweitausendeins Das soll der "Erdenton" sein, versichert uns Joachim-Ernst Berendt. Nein, es ist vielmehr der Ton eines Computers, mit dessen Hilfe wir auch das Telephonbuch in Klang verwandeln könnten. Die Tatsache, dass jemand eine Schwingungszahl statt einer Telephonnummer verwendet, besagt nicht so viel, wie der Laie denken mag: die absolute Tonhöhe eines einzelnen Tones hat musikalisch wenig Aussagekraft; wesentlich ist die Klangfarbe, noch wesentlicher der Zusammenhang. Ein ganz besonderer Unsinn kommt zustande, wenn man unter Berufung auf absolute Tonhöhen musikalische Aussagen treffen will: z.B. über den Grundton der Beethovenschen "Pastorale", ohne zu wissen, dass es damals noch keinen verbindlichen Kammerton gab, schon gar nicht einen heute noch verbindlichen. Obwohl er 1875 und 1939 festgelegt wurde, ist der Stimmton der Orchester permanent nach oben getrieben, und nur die Ensembles historischer Aufführungspraxis versuchen, auch alte Stimmungen zu rekonstruieren. In dieser Hinsicht steht man auch außerhalb Europas nicht auf gesichertem Boden, erst recht nicht Joachim-Ernst Berendt, wenn er behauptet, der Grundton der indischen Musik sei CIS, - dem Sonnenton gleich. Offenbar macht der Entdecker des "Dritten Ohres" von den zwei anderen Ohren keinen gründlichen Gebrauch, wenn er seine vorgefasste Meinung propagieren will. Hören Sie selbst den Grundton indischer Musik, indem Sie die Schlusstöne sechs verschiedener Aufnahmen vergleichen: MUSIK 4 Verschiedene indische Grundtöne WDR-Aufnahmen 0:43 Vier Aufnahmen, vier Grundtöne, aber jeden der vier darf man in Indien als SA bezeichnen. Mit der absoluten Tonhöhe CIS, wie JEB meint, hat SA nichts zu tun.
Wenn indische Instrumentalisten eine Sängerin oder einen Sänger zu begleiten haben, stimmen sie ohnehin so ein, wie es für dessen oder deren Stimmlage am angenehmsten ist.
MUSIK 5 Villa-Lobos mit den 12 Cellisten, im WDR-Studio 5 Oktaven aufwärts transponiert und entsprechend beschleunigt 0:23 Das waren die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker, transponiert in den mittleren Bereich der Hörbarkeit eines Kolibris. Glauben Sie, dass wir einem intelligenten Kolibri mit dieser Aufnahme Zugang zur Klangwelt des Cellos eröffnen? Gewiss nicht, es fehlt ja jede Ähnlichkeit mit dem Klang des Cellos, obgleich es sich doch nur um einen Unterschied von 5 Oktaven handelte. Das ist so gut wie nichts, verglichen mit dem Computerkunststück, das uns als Erdenton serviert wird. Musik 6: Burundi: Musiques Traditionelles, Titel 15 "Tambours Ingoma" OCORA Aufnahme 1967, digitalisiert 1988 Für solche Rhythmen kann man sich begeistern. Man wird vielleicht aber auch weitergehen und fragen, was hat es damit auf sich, -entspricht meine Begeisterung dem, was die schwarzen Musiker bewegt? Oder hat meine Begeisterung eher mit meiner rhythmischen Ahnungslosigkeit zu tun, mit einer typisch europäischen Abstinenz bzw. Mangelerscheinung? Früher hat man solche Irritationen abgewehrt, z.B. mit dem verächtlichen Ausruf: "Urwaldtrommeln!" Die Zeiten haben sich geändert, heute sagt man bei solchen Rhythmen: "Haben!" und nennt dieses kleinkindliche Verhalten "Weltmusik". JEB hat sich darüber in einem Beitrag geäußert, der zuerst im Katalog der Darmstädter Ausstellung "Thats Jazz. Der Sound des zwanzigsten Jahrhunderts" erschien und kürzlich als programmatischer Beitrag wieder abgedruckt wurde für "Weltbeat. Ja-Buch (Ja-Buch geschrieben wie Ja-Sager), Ja-Buch für Globe-Hörer und Hörerinnen". Zitat: "Kaum war Yusuf Lateef - der erste 'Weltmusiker' des Jazz, ein aus dem Kreise des Bebop hervorgegangener Saxophonist - zum Moslem-Glauben übergetreten, kaum hatte er - Mitte der fünfziger Jahre - arabische Musik gehört, da versuchte er auch schon, sie zu spielen. Kaum hatte John Coltrane Indisches, Nordafrikanisches, Flamenco gehört, da bezog er sich schon darauf. Kaum war Don Cherry mit Indianischem, Tibetanischem, balinesischem bekannt geworden, schon inkorporierte er es in seine Musik. Kaum hatte der Jazzklarinettist Tony Scott Mitte der sechziger Jahre japanische Koto-Musiken gehört, da spielte er schon mit dem größten der japanischen Kotoisten, Shinize Yuize. Und kaum hatten die Musiker, die ich eben genannt habe, dies getan, da taten es schon Dutzende und Hunderte anderer auch. Es war noch einmal eine Entdeckungsreise, - der ersten, derjenigen der Karawellen und Brigantinen vergleichbar, nur reicher, differenzierter, bewusster..." Vielleicht würden die genannten Musiker sich gegen diese Darstellungsweise wehren, denn so dilettantisch ist wohl noch nie ein Musiker vorgegangen: Arabisches, Indisches, Nordafrikanisches, Andalusisches, Indianisches, Tibetanisches, Balinesisches, Japanisches: Haben, haben, haben, - nein inkorporieren sagt man, wenn es um das edle Ziel der Weltmusik geht. Die Aufnahme der 25 Trommler aus Burundi stammt aus den 60er Jahren; seien wir froh, dass sie von einem Ethnologen überliefert wurde und nicht von einem begnadeten Saxophonisten. MUSIK 7 Burundi (wie Musik 6) Um ein Missverständnis zu vermeiden, sei deutlich gesagt: keinem schöpferischen Musiker oder Künstler ganz allgemein kann verübelt werden, dass er auf Anregungen und Materialien jeglicher Art angewiesen ist. Entscheidend ist das Produkt. Als Debussy Impressionen des javanischen Gamelan verarbeitete, hatte er dessen System nicht verstanden, aber er wusste genau, was seiner eigenen Musik gut tat. Als Picasso die damals so genannte "Negerplastik" entdeckte, leistete sie für s e i n e Kunst Hebammendienste, und es spielte keine Rolle, ob er seine Inspiration Exemplaren verdankte, die von Ethnologen heute als Flughafenkitsch eingestuft würden. Es wäre rein ideologisch, nicht kreativ gedacht, wenn man in solchen Fällen von Kolonialismus sprechen wollte. Ebenso ideologisch ist es jedoch, in ähnlichen Fällen das Phantom Weltmusik zu beschwören. Auch Strawinsky war kein Weltmusiker, sondern ein moderner Komponist seiner Zeit. MUSIK 8 Strawinsky "Le Sacre du printemps" 1.Teil, Partitur Ziffer 13-22 harmonia mundi HM 812-2 / Bundesjugendorchester, Ltg. Matthias Bamert, Coproduktion WDR 0:40 Der ideologische Fehler der Weltmusik-Propaganda besteht darin, den Vorgang der Aneignung fremder Stilelemente an sich schon als kreativen Schritt zu feiern und zugleich Andersdenkende, die die fremden Stilelemente bereits vor ihrer Vermischung bedeutend genug fanden, zu verunglimpfen. So hält es JEB mit den Musikethnologen, denen er einen Reinheits-Fetischismus unterstellt, der letztlich faschistoid sei. Dabei ist er selbst es, der biologische Kategorien in dieser Weise bemüht: "Die kreativsten Menschen (übrigens auch die schönsten Frauen!) eines Kulturkreises sind diejenigen, die am stärksten vermischt sind - in Asien die Eurasierinnen, in Louisiana und auf den karibischen Inseln die Kreolen, in Surinam die Mischungen aus Javanern und Afrikanern, auf Trinidad diejenigen aus Indern und Kreolen... Entsprechendes gilt für die Kunst und die Wissenschaft." So einfach ist das. Wenn nur ein Mann mit Geschmack sein Auge über Menschen und Frauen schweifen lässt! Stellen Sie sich vor: ein Architekt erhielte den Auftrag, den Bauplan des Taj Mahal mit dem des Kölner Doms zu kombinieren, und er weigerte sich... dürften wir ihm künstlerische Gründe für seine Weigerung abnehmen oder sollten wir vermuten, dass er eine faschistoide Abneigung gegen indisch-deutsche Mischehen hat? Ungenauigkeit ist das zuverlässigste Merkmal des Dilettanten. Er sagt: Mischung ist allemal gut! Er fragt nicht: wo und durch wen wird gemischt? Wer bestimmt die prozentualen Anteile der Mischung? Es geht ja in der Tat um etwas ganz anderes als bei Debussy, Picasso oder Strawinsky! Es geht nicht um Werke, sondern um Menschen. Es wäre zu fragen: Welche Verhältnisse herrschen eigentlich dort, wo die Mischungen geschehen, welche Rangordnungen, welche sozialen Spannungen? Was bedeutet es, wenn wir anfangen mitzumischen? Was würden wir sagen, wenn eine afrikanische Trommelgruppe begehrte, bei einem Streichquartettabend im Bonner Beethovenhaus mitzuwirken? Selbstverständlich handelt es sich um eine völlig andere Sache, wenn eine deutsche Band auf Afrika-Tour geht: so manches gute afrikanische Ensemble wird Prestigegewinn in einem Gemeinschaftskonzert finden. Und der letzte Epensänger des Dorfes bekommt nebenbei massiv seine Rückständigkeit und Überflüssigkeit bescheinigt. W i r machen WELTMUSIK, was kümmern uns die alten Geschichten?! Zu fragen wäre: von wem geht die Initiative aus, und vor allem: wer macht das Geschäft? Der clevere Weltbürger oder jene, denen die entsprechenden Reisemöglichkeiten fehlen? Der städtische Rohstoff- und Naturalienverwerter oder jene, die allzeit fröhlich das Land bearbeiten? Man kennt so wenig von ihnen und ihrer Welt, dass man sogleich ein Mysterium wahrzunehmen glaubt, wenn man ihren unmittelbaren Lebensäußerungen begegnet. Z.B. "Le Mystère des Voix Bulgares", "das Geheimnis der bulgarischen Stimmen". Oder sollte dies etwa nur ein Etikett sein, das den Verkauf garantiert unverbrauchter Ware fördert? MUSIK 9 Bulgarien "Pilentze Pee" (Krasimir Kyurkchiiski), Frauenchor des Bulgarischen Rundfunks / Le mystère des voix bulgares Disques Cellier Nr.008 / 2:20 Das ist schön. Aber ein Geheimnis verbarg sich damals, als ein cleverer Schweizer Geschäftsmann dieses und ähnliche Stücke auf den Markt brachte, nur insofern, als er ihre Herkunft verschleierte. Aufnahmen des bulgarischen Rundfunks, Volksmusik-Bearbeitungen oder Original-Kompositionen zeitgenössischer bulgarischer Komponisten, gesungen vom Frauenchor des Bulgarischen Rundfunks Sofia. Was diesen Chor auszeichnet, ist die Pflege einer folkloristisch harten, vibratofreien Stimmgebung, wie sie auch in den Folkloreklassen der größeren Konservatorien in Sofia oder in Plovdiv gelehrt wird. Volksmusik von Städtern für Städter? Nein, Kunstmusik, mit der unendlichen inneren Distanz zu der Welt des Dorfes und dem Wald, dem das kultivierte Land abgerungen wurde und gegen den es zu behaupten ist. Uns freilich, den Städtern zweiten Grades, erscheint der romantisch demonstrative Gestus dieser Kunstmusik bereits verfremdet genug, so dass wir ihn für den puren Ausdruck der bäuerlichen Welt Bulgariens halten. Deren Mysterium aber klingt eher spartanisch: MUSIK 10 Bulgarien "Was hört man im Elescha-Wald?" Schopem-Lied / 4 Frauen des Gabra-Ensemble (Jordanka Ilieva) WDR-Aufnahme 24.07.1979 / 3:25 Ich glaube nicht, dass es mit dem intimen Verhältnis der Deutschen zum Wald wirklich so weit her ist, wie ihnen nachgesagt wird. Es wurde ihnen von ihren Romantikern eingeredet, von Carl Maria von Weber, von Eichendorff, von Richard Wagner. Eigentlich hatten wir Angst vor dem Wald, wie man in den Märchen nachlesen kann, und fingen erst an, ihm Lieder und Kunstwerke zu widmen, als er zum Erholungsgebiet ausgelichtet war. Unsere Kultur - wie die Mitteleuropas überhaupt - fand ihren überzeugendsten Ausdruck im vollendeten Innenraum, auf den auch jegliche tönenden Kunstwerke zugeschnitten waren: die Kirche, der Konzertsaal und das Opernhaus bzw. Theater. (Soll ich den beweglichen Innenraum des Autos hinzufügen, und den kessen Spruch: "Mein Auto fährt auch ohne Wald"!?). Die Schwierigkeit, "ein Lied im Walde zu singen", Kunst und Natur miteinander in Beziehung zu setzen, ist unüberwindlich geworden. Theodor W. Adorno erzählt in seiner "Kritik des Musikanten" eine bezeichnende Geschichte: "Die Hemmungen, welche die Jugendbewegung wegräumte, hatten keinen durchaus schlechten Grund, wie denn bei dem frischen Drauflossingen ein Ton des Gewaltsamen, des gekauften Mutes, der Patzigkeit kaum zu überhören ist. Ich erinnere mich deutlich, wie peinlich es mir war, wenn meine Mutter und deren Schwester - beide Sängerinnen von Beruf - etwa auf Bitten meines Vaters 'O Wälder weit, o Höhen' anstimmten. Dem Singen als einem Stück natürlichen, auf reale Situationen anstatt aufs objektivierte Kunstwerk bezogenen Verhaltens antwortet Scham. Das Sensorium weiß, wie weit empirische Person und das ästhetische Subjekt auseinanderklaffen, und sträubt sich gegen den Schein, beide wären dasselbe - vielleicht, weil die Idee solcher Identität um keinen Preis herabgewürdigt werden darf, indem man sie als erreicht vorspiegelt. Gleich Unrecht tut man dem Leben, das kein unmittelbar sinnvolles ist, von dem sich singen ließe, wie der Kunst, die der Idee des Absoluten Treue wahrt durch Distanz zur empirischen Realität." MUSIK 11 "O Täler weit, o Höhen" (Mendelssohn) Detmolder Hornquartett, auf gleichnamiger LP mit Vokalquartett Drops / Dabringhaus & Grimm MD+G 1289 Coproduktion WDR 1:10 Zwar kann ich das Peinliche in Adornos Geschichte nachempfinden, weniger aber seine Erklärung der Peinlichkeit. Denn die Kunst des Hornquartetts wäre mir im Wald durchaus nicht peinlich. Da wir uns daran gewöhnt haben, Kunst und Natur als zwei miteinander konkurrierende Kräfte zu betrachten, wirkt es peinlich oder lächerlich, wenn sie mit unzureichenden Mitteln einander direkt gegenübertreten. Die beiden kunstvoll vibrierenden Oberstimmen - nackt und dürr ohne Innenraumakustik und Orchesterbegleitung - sie wagen es, ihr Gegenüber schamlos anzuquatschen: "O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald, du meiner Lust und Wehen andächt'ger Aufenthalt!"
Den umgekehrten Fall konnte man kürzlich in der Kölner Philharmonie erleben: die Natur in Gestalt von nahezu 2000 Menschen, die dem Beethoven-Zyklus des Alban-Berg-Quartettes atemlos lauschen, um dann in den Pausen zwischen den Sätzen so unverhältnismäßig zu husten, bellen, räuspern, zu rascheln und zu scharren, als gelte es, um jeden Preis die Gewalt der Realität gegenüber vollkommener Kunst zu behaupten.
Wenn es einmal zu Bewusstsein kommt: ebenfalls ein urkomischer oder auch - peinlicher Vorgang.
Andere - wie Cage - öffnen das Fenster des Raumes, in dem die Musik erwartet wird, und verweisen auf die Klänge und Geräusche der hereintönenden Welt: dies sei bereits das Konzert. Wieder andere verzichten programmatisch auf Musik und auch auf dies Spiel mit Musikerwartung und beginnen, das Klangspektrum der Wirklichkeit, wie auch immer es sich komponiert, aufzuzeichnen und wiederzugeben. Man entwickelt so eine Haltung, die es erlaubt, die Welt anders wahrzunehmen. Den Ethnologen genügte es nicht mehr, fremdartige Bräuche zu beschreiben, den Musikethnologen genügte es nicht mehr, musikalische Strukturen zu analysieren. Musste man nicht etwas vom Wald verstehen, wenn man die kunstreiche Mehrstimmigkeit der Pygmäen verstehen will? Wäre es wohl früher jemand eingefallen, ihnen bei der Jagd zuzuhören, als handle es sich um die Vorführung eines Kunstwerkes?
MUSIK 12 Aka-Pygmäen Centrafrique: Anthologie de la musique des Pygmées Aka OCORA C559012 13, Titel I,5 Appel de chasse (mogombi) 4:53 Aka-Pygmäen bei der Jagd im Walde, in ihrer WELT, dem zentralafrikanischen Regenwald.
"Es ist bereits dunkel, als die Herden gemolken werden. Unverheiratete Mädchen und Jungen besorgen diese Arbeit. MUSIK 13 Musik der Hamar (Südäthiopien) Museum Collection Berlin (West) / Museum für Völkerkunde / Doppel-LP MC 6 / Seite D: Aeka gadi - Gesänge der Vorfahren 7:00 Ein Dorf in Südäthiopien, die Welt der Hamar, teilnehmend beobachtet von Ivo Strecker. Zugänglich dank der Museum Collection Berlin (West). Ein Stück sinnlich erfahrener Wirklichkeit, das mehr wiegt als alle Nada-Brahma-Großraum-Phantasien, nicht weil es so exotisch ist, sondern weil die liebevolle Versenkung den oberflächlichen exotischen Reiz aufhebt in einem höheren Grad von Wachheit. Wir erleben eine fremde Welt so, wie wir unsere eigene zu erleben verlernt haben. Unsere Welt enthält soviel Lärm, dass es sich nicht mehr zu hören lohnt. Zugleich werden wir permanent mit einer solchen Masse von Musikpartikeln bombardiert, als gehe es darum, die musikalische Empfindungsfähigkeit auf den Nullpunkt zu bringen. Ein Buch des kanadischen Komponisten und Kommunikationsforschers Murray Schafer, "The Tuning of the World", d.h. etwa "Die Stimmung oder: das Einstimmen der Welt", 1977 in New York erschienen, ist jetzt endlich auch in deutscher Übersetzung erhältlich, allerdings mit einem etwas irreführenden Coverbild und Titel: "Klang und Krach", der Untertitel ist deshalb ausdrücklich hervorzuheben: "Eine Kulturgeschichte des Hörens".
"Die globale Lautsphäre verändert sich ständig. Der moderne Mensch lebt heute in einem akustischen Raum, der völlig anders ist als alle früheren. Durch diese neuen Laute, die sich von jenen der Vergangenheit in Qualität und Intensität unterscheiden, sind eine Reihe von Forschern auf die Gefahren aufmerksam geworden, die eine unkontrollierte und zunehmende Ausbreitung von immer mehr und immer stärkeren Lauten in jede Nische des menschlichen Lebens hinein mit sich bringt. Lärmüberflutung ist heute ein weltweites Problem, und es scheint so, als habe die globale Lautsphäre in unserer Zeit den äußersten Punkt an Vulgarität erreicht. Viele Experten haben folglich eine allgemeine Taubheit als letzte Konsequenz vorausgesagt, wenn wir das Problem nicht schnell in den Griff bekommen." "In der modernen Großstadt sind solche akustischen Rhythmen wie im Dorf oder in der natürlichen Lautsphäre nicht zu finden. Genauer gesagt, durch die große Fülle von Rhythmen wurde e i n Rhythmus durch den anderen ausgelöscht. Das Hauptmerkmal der städtischen Lautsphäre ist ziellose Bewegung, und sie ist am deutlichsten aus der Ferne oder in tiefer Nacht zu hören. Es ist das kontinuierliche Niederfrequenzdröhnen, das man von einem benachbarten Hügel oder durch ein offenes Fenster in den frühen Morgenstunden hört. Es setzt sich aus einer Million Herr Meiers und Frau Schmidts zusammen, die ihre privaten Kreise ziehen oder anderen zufälligen Alltagsbahnen folgen, ihre Aktivitäten selten synchronisieren und einander kaum beachten. Wir verfügen in unserem Leben über nicht genügend Förmlichkeiten, sagt Margaret Mead, oder anders ausgedrückt, der modernen Gesellschaft fehlt es am rhythmischer Definition. Durch den Überfluss an Aktivitäten werden sogar besondere Ereignisse monoton und gleichförmig. Ich will dieses Problem anhand einer Aktivität erläutern, die immer versucht, etwas besonderes zu sein: dem Rundfunk." Der Rundfunk sendet statt dessen ein Lied aus einer anderen Lautsphäre, aus dem rumänischen Dorf, allzu idyllisch vielleicht für alle, die die Planung des Projektes "Dorfzerstörung" in Rumänien (Ceaucescu) verfolgt haben: Wald, du lieber Wald, von der Axt unberührt! MUSIK 14 Rumänien "Padure, drage padure" ("Wald, du lieber Wald") Sängerin: Mura Dragos aus Rosiori/Maramures, WDR-Aufnahme 1974 1:34 Die Einschätzung des Waldes ändert sich, je nachdem ob man in ihm, mit ihm und durch ihn lebt oder ob man ihn als Rohstofflager und im übrigen als Hindernis betrachtet, dessen Reichtum an Leben besonders lästig ist. Das letztere gilt für Siedler, die das bewirtschaftete Land dem Wald abtrotzen, und natürlich für Reisende, die sich nur für die gegenüberliegende Seite des Waldes interessieren. In einem Dossier der Wochenzeitung "Die Zeit" las man kürzlich unter der Überschrift "Mit Stumpf und Stiel. Ausverkauf der Wälder: was bleibt, ist Steppe": "Der Wald mit seinen Schlangen, giftigen Tausendfüßlern und ekelhaften Blutegeln ist der Feind der Siedler, der Wald, aus dem nachts die Wildschweine kommen und die kargen Felder leerfressen. Dem Javaner Mahmudin ist das undurchdringliche Grün ohnehin nicht geheuer. 'Dort wohnen die bösen Geister', glaubt er, 'die einen am liebsten hinterrücks anfallen und beißen.' Er hofft darauf, dass die Holzfäller den Wald zügig weiter abholzen. In der allgemeinen Besorgnis um den bedrohten Regenwald übersehen viele Europäer, dass der in Filmen und Bildberichten romantisch verklärte Dschungel für die dortigen Bewohner eine Lebensbedrohung ist. Der Geograph Karl Helbig, der im Jahre 1936 Borneo zu Fuß durchquerte, schrieb gegen Ende seines siebenmonatigen Marsches in seinem Reisetagebuch über den 'verfluchten Wald', dass man ihn 'ob seiner Eintönigkeit nur zu oft der traurigsten Wüste gleichstellen möchte... Mit riesigen Stiefeln möchte man von oben her auf ihm herumtanzen und ihn zertrampeln, als überflüssig auslöschen von dieser Erde, bis auch vom letzten Stamm und letzten Blatt nichts mehr übrig bliebe!'" Der amerikanische Anthropologe Steven Feld, von Haus aus ursprünglich ausübender Musiker, hat Monate und Jahre in einem solchen Wald verbracht: bei den Kaluli im Regenwald auf Papua-Neuginea. Er hat jedes Detail im Leben der Kaluli kennengelernt, hat ihre Sprache studiert, sich von erfahrenen Jägern in die Ökologie des Waldes einführen lassen, hat die Gesänge der Menschen aufgenommen und - die Rufe der Vögel. Denn er erfuhr, dass beides sehr eng zusammenhängt: dass die Kaluli die Töne der Vögel für ihre eigenen Gesänge benutzen. Sie korrespondieren mit jenen, weil die Stimmen im Wald von Wesen ihrer eigenen Art stammen; es sind die Stimmen verstorbener Kaluli. So hingesagt klingt das ganz simpel, ganz nach der typischen unverbindlichen Weise der Folklore-Mythologie. Was für eine Welt des Denkens und Fühlens dahinter steht, das hat Steven Feld in seinem faszinierenden Buch beschrieben: Sound and Sentiment / Birds, Weeping, Poetics, and Songs in Kaluli Expression / Philadelphia 1982. Glücklicherweise hat Steven Feld darüberhinaus die Welt der Kaluli, soweit sie akustisch fassbar ist, in einzigartigen Dokumenten zugänglich gemacht.
MUSIK 15 Papua New Guinea Voices in the Forest / Kaluli Weeping, Song, Drums Cassette von Steven Feld Aus Steven Feld's Soundscape "Papua New Guinea", eine akustische Dokumentation der Kaluli-Welt im tropischen Regenwald.
Kürzlich hörte ich ein afrikanisches Konzert mit dem Ensemble Evaristo Muyinda aus Uganda:
Es waren 20 Menschen auf der Bühne, die tanzten, sangen, zupften, strichen, bliesen und trommelten.
Im Saal saßen 200 Menschen, und die hörten: Trommeln, nichts als Trommeln!
Hoffentlich haben sie dies nicht als Eindruck mit nach Hause genommen, um ihn dort mit einer Weltmusik-CD aufzubessern.
Versucht aber unsere Technik, eine Reportage aus dem Innern dieses Klanges zu übertragen, darf sie sich eben nicht davorstellen wie ein Ölgötze, sondern muss all ihre Mittel einsetzen, die Mittel der Technik: sie bringt an allen möglichen Stellen Mikrophone an, sie trennt die einzelnen Instrumentalisten durch Plexiglasscheiben, damit die Klänge sich nicht bereits vermischen, bevor sie das Mikrophon erreichen; sie stellt am Mischpult eine Balance her, die im Raum in dieser Weise nicht wahrnehmbar war, aber alle Bestandteile des Geflechtes wiedergibt.
MUSIK 16 Uganda Ensemble Evaristo Muyinda aus Uganda (Buganda) WDR Mai 1989 / 5:17 Jan Reichow © 1989
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Bücher, die in der Sendung erwähnt wurden
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vgl. auch Jan Reichow ... > Texte ... > Gegen "Nada Brahma" (Joachim-Ernst Berendt) |
© Dr. Jan Reichow 2005 | Im Netz ... Jan Reichow < Startseite < Texte < für das Radio < Sendung "Die Welt ist Klang??" vom 29. Mai 1989 |