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Systematisches (Kulturwissenschaft)

#1 Naturwissenschaft contra Geisteswissenschaft ?
#2 Schopenhauer missverstehen
#3 Einstein
#4 Natur- und Geisteswissenschaften bei Wilhelm Dilthey

Naturwissenschaft contra Geisteswissenschaft ?
Eine sinnlose Kontroverse
(Jan Reichow, Lektüre September 2008)




Der Naturwissenschaftler Ernst Peter Fischer veröffentlichte sein Buch "Die andere Bildung" 2001 u.a. als Antwort auf das Buch "Bildung" ("Alles was man wissen muss") von Dietrich Schwanitz, der - seiner Ansicht nach - die Naturwissenschaft grob unterbewertete. Beide Bücher sind heute fast vergessen, und es ist fraglich, ob man wirklich gebildeter wird, wenn man sich auf diese Weise um Bildung bemüht, oder ob sie nicht nur damit zu tun hat, dass man einmal darauf gekommen ist, sich für große Zusammenhänge zu interessieren. Vergleichbar mit dem Phänomen der Konzentration, - die man nicht findet, indem man sich fortwährend dazu ermuntert, die sich aber bei entsprechend interessanten Themen ganz von selbst einstellt.

So ging es mir, als ich mit Fischers Buch begann und zu allererst vom Unmut des Naturwissenschaftlers gefesselt wurde, der die - nach meinem naiven Glauben - schier allgegenwärtige Naturwissenschaft ausgerechnet von Geisteswissenschaftlern ungerecht behandelt findet, wobei mir seine Behandlung der Philosophie alles andere als gerecht erscheint.
Es ist wohl schon verfehlt, das zentrale Problem der Kritik der reinen Vernunft nicht in der "Vernunft" anzusetzen, sondern in der "Welt", - deren Stellenwert ja nicht umsonst von einem Nachfolger Kants "als Wille und Vorstellung" präzisiert wurde
Für Fischer dagegen scheint es ausgemacht, dass sie da draußen ist, nicht in der "luftigen Höhe philosophischer Spekulationen": nein, da draußen, wo auch die Fußballweltmeisterschaft stattfindet.

Er sei ausführlicher zitiert, - man muss sich nicht kurz fassen, wenn es um Raum und Zeit geht.

[ Ernst Peter Fischer
Die andere Bildung.

Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte
München 2001
S.135 f ]
" Bekanntlich hat Immanuel Kant das zentrale Problem seiner Kritik der reinen Vernunft gefunden, als er über die Frage nachdachte, ob die Welt einen zeitlichen Anfang habe. Kant bemerkte, dass sich sowohl das eine wie auch das andere "beweisen" lasse (für die Frage nach dem Raume trifft übrigens dasselbe zu). So eine Situation ist logisch natürlich unbefriedigend, und Kant führt die Idee der Antinomie ein, wenn es widersprüchliche Beweise für eine Behauptung und ihre Verneinung gibt. In seiner Kritik der reinen Vernunft füllt er viele Seiten mit verwirrenden Antinomien, und zwar vor allem, um sich zu fragen, was sich daraus lernen lässt. Im Verständnis eines zeitgenössischen Philosophen lautet die Antwort von Kant, "dass unsere Vorstellungen von Zeit und Raum auf die Welt als Ganzes unanwendbar sind. Die Vorstellungen von Raum und Zeit sind natürlich auf gewöhnliche physische Dinge oder Vorgänge anwendbar. Dagegen sind Raum und Zeit selbst weder Dinge noch Vorgänge. Sie können nicht einmal beobachtet werden; sie haben einen ganz anderen Charakter. Sie stellen eher eine Art Rahmen für Dinge und Vorgänge dar; man könnte sie mit einem System von Fächern oder mit einem Katalogsystem zur Ordnung von Beobachtungen vergleichen. Raum und Zeit gehören nicht zu der wirklichen Welt der Dinge und Vorgänge, sondern zu unserem eigenen geistigen Rüstzeug, zu dem geistigen Instrument, womit wir die Welt angreifen. Raum und Zeit fungieren ähnlich wie Beobachtungsinstrumente. Wenn wir einen Vorgang beobachten, dann lokalisieren wir ihn in der Regel unmittelbar und intuitiv in einer raum-zeitlichen Ordnung. Wir können daher Raum und Zeit als ein Ordnungssystem charakterisieren, das sich wohl nicht auf Erfahrung gründet, aber in aller Erfahrung verwendet wird und auf alle Erfahrung anwendbar ist."

So stellt Karl Popper im 20. Jahrhundert dar, was Kant im späten 18. Jahrhundert ausgeführt hat, als ihm der Gedanke kam, dass nicht wir Menschen in Raum und Zeit sind, sondern dass umgekehrt Raum und Zeit in uns Menschen sind. Popper schrieb die zitierten Sätze in einer Gedächtnisrede auf Kant, die aus Anlass des 150sten Todestags des Philosophen gehalten wurde, also im Jahre 1954. Man kann dieses Jahr, in dem Deutschland zum ersten Mal die Fußballweltmeisterschaft errang, auch aus einer anderen Perspektive betrachten. 1954 liegt ein Jahr vor Einsteins Tod und fast vier Jahrzehnte nach der Veröffentlichung seines oben zitierten Buches. (Über spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, 1916). Und darin hat er klipp und klar gezeigt, dass genau das doch möglich ist, was Kant verweigert hat, nämlich "Betrachtungen über die Welt als Ganzes" anzustellen und unsere Vorstellungen von Raum und Zeit genau darauf anzuwenden, nämlich auf die Welt als Ganzes.

Einsteins grandiose Leistung besteht unter diesem Gesichtspunkt darin, Raum und Zeit aus der luftigen Höhe philosophischer Spekulationen geholt und wieder dem experimentellen Zugriff der Wissenschaft zugänglich gemacht zu haben. Die Unbildung unserer Eliten zeigt sich nun darin, dass dies selbst Jahrzehnte nach Einstein nicht verstanden worden ist. Dabei hat besonders Popper oft betont, wie sehr er mit Einsteins Ansichten übereinstimme. Bis heute haben die philosophischen Abteilungen der Universität aber weder gemerkt, dass bei Kant etwas schief gelaufen ist, noch haben sie verstanden, wie dies gerade gebogen werden kann.

Wie seine Zeitgenossen stand Kant unter dem Einfluss der Newtonschen Physik, die den Himmel mit der Erde verband und in der Lage war, aus einem Grundprinzip die Gesetze der Planetenbewegung abzuleiten. Zwar staunte jedermann (und jede informierte Frau) über Newtons System, aber keiner zeigte sein Staunen und Bewundern so intensiv und gründlich wie Kant, der die hier formulierten Gesetze für ewig wahr und unbedingt gültig hielt und deshalb ohne weiteres Nachprüfen daraus universelle - und damit riskante - Konsequenzen zog. Newton fungierte als Gott des Philosophen und deshalb erhob der sonst so kritische Kant die speziellen Voraussetzungen der Newtonschen Physik zu den allgemeinen Voraussetzungen der menschlichen Vernunft. Und anschließend errichtete er auf dieser erhabenen Basis seine Philosophie der Erkenntnis mit all ihren Folgen. "



JR
Soweit Ernst Peter Fischer über Immanuel Kant. Der ironische Ton verwundert:
Triumphiert der Naturwissenschaftler über Kant (bzw. Poppers Kant-Darstellung), nur weil dieser sich bekanntlich nicht an Einstein halten konnte, sondern mit dem größten Physiker seines Zeitalters vorlieb nehmen musste?
Können sich die Spätgeborenen solche Arroganz wirklich leisten?
Ist etwa die Subjekt-Objekt-Problematik, die der Philosophie so zu schaffen gemacht hat, durch die Relativitätstheorie in irgendeiner Weise aus der Welt geschafft?
Was bedeutet es denn, wenn sich ein naturwissenschaftliches Ergebnis "da draußen" durch die bloße Anwesenheit eines Beobachters verändert?
Bereits in dem Subjekt-Objekt-Zusammenhang steckt eine ganze Relativitätstheorie; man schafft sie nicht aus der Welt, indem man eine "moderne" Lösung für die Raum-Zeit-Frage anbietet und sie wieder ganz nach außen verlegt; auch Schopenhauer sah sie im Kantschen Sinne für endgültig gelöst an. Aber kann man von einer besseren, naturwissenschaftlichen Lösung reden, wenn man in jeder anderen Hinsicht weit hinter seine Gedankengänge zurückfällt?

[ Arthur Schopenhauer: Werke in zwei Bänden
herausgegeben von Werner Brede
München o. J.
Band I S.35 ]
" Die Welt als Vorstellung also, in welcher Hinsicht allein wir sie hier betrachten, hat zwei wesentliche, notwendige und unzertrennbare Hälften. Die eine ist das Objekt: dessen Form ist Raum und Zeit, durch diese die Vielheit. Die andere Hälfte aber, das Subjekt, liegt nicht in Raum und Zeit: denn sie ist ganz und ungeteilt in jedem vorstellenden Wesen; daher ein einziges von diesen, eben so vollständig, als die vorhandenen Millionen, mit dem Objekt die Welt als Vorstellung ergänzt: verschwände aber auch jenes einzige; so wäre die Welt als Vorstellung nicht mehr. Diese Hälften sind daher unzertrennlich, selbst für den Gedanken: denn jede von beiden hat nur durch und für die andere Bedeutung und Dasein, ist mit ihr da und verschwindet mit ihr. Sie begrenzen sich unmittelbar: wo das Objekt anfängt, hört das Subjekt auf. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Grenze zeigt sich eben darin, daß die wesentlichen und daher allgemeinen Formen alles Objekts, welche Zeit, Raum und Kausalität sind, auch ohne die Erkenntnis des Objekts selbst, vom Subjekt ausgehend gefunden und vollständig erkannt werden können, d.h. in Kants Sprache, a priori in unserem Bewußtsein liegen. Dieses entdeckt zu haben, ist ein Hauptverdienst Kants und ein sehr großes. Ich behaupte nun überdies, daß der Satz vom Grunde der gemeinschaftliche Ausdruck für alle diese uns a priori bewußten Formen des Objekts ist, und daß daher alles, was wir rein a priori wissen, nichts ist, als eben der Inhalt jenes Satzes und was aus diesem folgt, in ihm also eigentlich unsere ganze a priori gewisse Erkenntnis ausgesprochen ist. In meiner Abhandlung vom Grunde habe ich ausführlich gezeigt, wie jedes irgend mögliche Objekt demselben unterworfen ist, d.h. in einer notwendigen Beziehung zu andern Objekten steht, einerseits als bestimmt, andererseits als bestimmend: dies geht so weit, daß das ganze Dasein aller Objekte, sofern sie Objekte, Vorstellungen und nichts anderes sind, ganz und gar zurückläuft auf jene ihre notwendige Beziehung zu einander, nur in solcher besteht, also gänzlich relativ ist: wovon bald ein mehreres. "


JR
Zugegeben: das ist nicht ganz leicht zu verstehen, und nicht einmal dieser kurze Absatz ließe sich so leicht und griffig zusammenfassen, wie es bei Popper/Fischer mit einem großen und schwierigen Gedanken Kants geschieht.
Schopenhauer spricht es auch mehrfach aus, dass er Zusammenfassungen nicht leiden kann und echte Mitarbeit erwartet. Man muss demnach seine eigene Schrift "Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde" gelesen haben, andernfalls man ohnehin nichts verstünde, im übrigen die Hauptschriften von Kant sowieso, und sein eigenes großes Werk "Die Welt als Wille und Vorstellung" nicht nur in extenso, sondern auch zwei Mal, das sei unabdingbar.
Wer Schopenhauer studiert, wird sich übrigens wundern, wie gründlich der Philosoph sich in der biologischen Wissenschaft auskennt und in wievielen Punkten er geradezu Darwin vorwegzunehmen scheint, wohl wissend, dass er 50 Jahre später gerade in diesen faktischen Punkten überholt sein könnte; und bei aller Skepsis dennoch nicht ahnend, dass man ihm gerade die selbstverständliche Zeitgebundenheit ankreiden könnte.

Doch zurück zu Kant:
Möglicherweise war er sich - anders als Fischer behauptet - durchaus der Grenzen des Newtonschen Weltbildes bewusst, was gerade an seinem Verständnis der "bloß mechanischen Principien der Natur" aufblitzt. Der Kantforscher Volker Gerhardt (Humboldt Universität Berlin) jedenfalls, der dies hervorhebt, ist nebenbei ein Beispiel dafür, dass auf Seiten der philosophischen Fakultät durchaus nicht die schiere Ignoranz gegenüber den modernen Naturwissenschaften regiert.

[ Volker Gerhardt
Immanuel Kant. Vernunft und Leben.

Stuttgart 2002
S.321 - 323 ]
" Der Newton des Grashalms wäre nur als Newton des Menschen möglich.
Obgleich Kant zur naturwissenschaftlichen Erklärung des Lebens, wie sie inzwischen durch die Biologie erfolgreich betrieben wird, ermuntert und ihr Erkenntnischancen einräumt, die mit seiner teleologischen Deutung vereinbar sind, bleibt ein methodologischer Vorbehalt, der sich, wie der Hinweis auf den "obersten Grund" einer "Weltursache" zu erkennen gibt, nur metaphysisch deuten lässt. Deshalb wird man auf den "Newton des Grashalms" dessen Aussichten schon 1755 als gering angesehen werden, gar nicht hoffen dürfen. Das wird in der Dialektik der teleologischen Urteilskraft gleichsam für alle Zeiten festgestellt:

Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann: es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde; sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen. (5,400)

Das ist in der Tat ein "dreistes" Wort, das jeder von seinem Fach überzeugte Biologe für eine typisch philosophische Borniertheit halten wird. Vielleicht könnte man den Biologen noch davon abhalten, den Philosophen bereits durch Darwin widerlegt zu sehen. Denn Kant hat sowohl die Mechanik der Entwicklung wie auch den durchgängigen Gedanken der Konkurrenz betont. Ihm zufolge kann ein "reales Ganzes der Natur" "nur als Wirkung der concurrirenden bewegenden Kräfte der Theile" verstanden werden (5,407); und was die Konkurrenz im Inneren des Organismus bewirkt, befördert der "Antagonism" im äußeren Verhältnis der Lebewesen. (...)
Aber fraglich ist, ob Kants Diktum nicht durch die Erkenntnisse der Molekularbiologie an seine historische Grenze gestoßen ist. Schon Watson und Crick könnten die "Newtons" sein, die Kant für unmöglich hielt. Sie haben bereits vor 50 Jahren die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich die "Bausteine" des Lebens nicht nur beschreiben, sondern auch umsetzen und verändern lassen. Nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms gilt dies alsbald auch für die Biomasse des Menschen.

Und dennoch dürfte Kants Prognose noch heute gültig sein! Sie ist durch den gegenwärtigen Erkenntnisstand jedenfalls nicht außer Kraft gesetzt und kann vermutlich selbst bei fortgesetztem Wachstum der Wissenschaften erneuert werden. Die Begründung folgt aus der Verschränkung von Selbst- und Fremderkenntnis in jedem Fall des Lebens: Ein "Newton", der fähig wäre, einen Grashalm zu erklären, müsse uno actu in der Lage sein, den Menschen zu entschlüsseln. Dazu reichte es nicht, sein Genom zu kartieren; auch mit der ergänzenden Parallelisierung zwischen Hirnfunktionen und Verhalten wäre es nicht getan, weil zum Menschen immer auch seine nur ihm selbst bewusste Einstellung zu sich und der Welt gehört. Und eben die geht bereits mit in die Beschreibung eines Grashalms ein. der Zweck, der als "innere Form" dem Organismus seine Einheit gibt, gelangt in diese Stellung nur, weil er zugleich das organisierende Prinzip eben dieser Erkenntnis (des Grashalms durch den Menschen) ist. Der Mensch handelt im Urteil über Lebendiges selbst nach Zwecken, und er kann sich nicht zuletzt deshalb auch selbst nur dann als Einheit verstehen, wenn er sich selbst als Zweck begreift. Folglich weist jede Zweckmäßigkeit des Lebens auf sein eigenes Selbstverständnis zurück. Nur wenn er seinen Selbstbegriff - zumindest für sich als Mensch, vielleicht aber auch für sich als Individuum - nach mechanischen Grundsätzen erklären könnte, könnte aus ihm eine "Newton des Grashalmes" werden. Fazit: Sollte es dem Menschen gelingen, seine Zwecke kausalanalytisch zu erklären - hätte er sie nicht mehr. Zugleich hätte er sich selbst als Problem und als Aufgabe beseitigt. Der Mensch hätte sich sowohl als theoretischen Gegenstand wie auch als praktische Idee verloren.

Kants "dreiste" Prognose hat daher einen weit über die bloße Erkenntnis des Lebens hinausgehenden Sinn: den "Newton des Grashalms" kann es nicht geben, weil sich mit seinem Auftritt sowohl die Erkenntnis wie auch das Selbstverständnis des Menschen auflösen würden. Und gäbe es diesen Newton dennoch, könnte er kein Mensch mehr sein. "

JR
Aus all dem folgt nun nicht, dass Fischers Buch keinen lesenswerten und lernwürdigen Stoff böte. Im Gegenteil.
Dennoch sollte man sich in Sachen der Philosophie nicht von solchen Naturwissenschaftlern beraten lassen. Selbst die Gehirnforschung wird den philosophischen Einsatz des Gehirns nicht überflüssig machen, sondern ihm allerhand neuen Denkstoff liefern.
Unsere Aufgabe wäre es gerade, auch die Theorien Kants und Schopenhauers zu Raum und Zeit innerhalb der neuen Horizonte zu differenzieren, ohne uns darüber zu mokieren, dass die Philosophen selbst möglicherweise glaubten, das Problem für alle Zukunft abgehandelt zu haben.
Auch Beethovens Werke sind nicht überflüssig geworden, obwohl wir in der Rückschau unweigerlich Kriterien des 20. und 19. Jahrhundert mitführen und keinen Moment vergessen, dass die Tonsprache unserer Zeit völlig anderen Vorstellungen folgt und folgen darf.


© Dr.Jan Reichow 2008

Schopenhauer missverstehen...
Auch als Warnung an voreilige Naturwissenschaftler
Rüdiger Safranski erinnert an die Sorge des Philosophen, der Wahrheit (seiner Wahrheit) werde nur ein kurzes Siegesfest beschieden sein, "zwischen den beiden langen Zeiträumen, wo sie als paradox verdammt und als trivial geringgeschätzt wird".
(Jan Reichow Lektüre Oktober 2008)




JR
Eine Erklärung vorweg: Was bedeutet eigentlich "transzendentalphilosophisch"? Das Wort transzendental kommt wie das Wort transzendent von dem lateinischen Wort transcendere - "überschreiten". Im Fall der Begriffe "Transzendenz" und "transzendent" ist die Überschreitung der Grenzen des Erfahrbaren gemeint, also auch der Grenzen des wissenschaftlich Greifbaren und Beweisbaren.
Der Begriff "transzendental" richtet sich nicht auf die Gegenstände der erfahrbaren und erkennbaren Welt, aber auch nicht darüber hinaus, sondern "zurück", nämlich auf unser eigenes Erkenntnisvermögen: was vermag es eigentlich zu leisten, - unabhängig von jeglicher Erfahrung, also "a priori".
In gewisser Weise zielt also transzendentale Erkenntnis auf das Gegenteil jener Transzendenz, die in der Metaphysik gesucht wird. Und für weitere Verwirrung sorgt natürlich die sogenannte Transzendentale Meditation, die nichts mit den transzendentalen Bemühungen der Philosophie zu tun hat, um so mehr aber mit transzendenten Glaubensvorstellungen.
Das klingt reichlich abstrakt, - aber gerade bei Schopenhauer lernt man die Notwendigkeit des abstrakten, des bildlichen und des musikalischen Denkens.

Und nun zur Safranski-Lektüre! (Zeitaufwand ca. 1 Stunde, incl. "Meditationspausen". Im günstigsten Fall wird sich eine Lektüre des ganzen Buches und ein intensives Schopenhauer-Studium anschließen:)

Rüdiger Safranski
Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie
(1987) Frankfurt am Main 2001 S. 313-320


Zitat (Safranski S. 313 ff):
" (...) Paradox mußte Schopenhauers Philosophie wirken in einer Zeit, die sich einer erneuerten Metaphysik des Absoluten hingibt; für die das transzendentalphilosophisch ausgegrenzte "Ding an sich" voller Verheißungen steckt, Verheißungen, die nicht ruhen lassen und die man durch die Arbeit der Selbstreflexion und die Arbeit der Geschichte einlösen zu können glaubt. (Gemeint ist hier die Zeit Hegels. JR)

Schopenhauers Zeitgenossen kommen von der transzendentalen Kritik zur Transzendenz: Sie entdecken am Grunde oder am Zielpunkt des Seins einen Sinn, etwas Transparentes, das auf etwas Gemeintes hinweist. Das "Ding an sich" will uns etwas sagen, es bedeutet. Philosophie entziffert diesen Sinn; neu ist das Eingeständnis, diesen 'Sinn' zuletzt doch nur in sich selbst finden zu können. Schopenhauer, ebenfalls transzendentalphilosophisch beginnend, kommt zu keiner transparenten Transzendenz: Das Sein ist nichts anderes als "blinder Wille", etwas Vitales, aber auch Opakes, das auf nichts Gemeintes, Bezwecktes hinweist. Seine Bedeutung liegt darin, daß es keine Bedeutung hat, sondern nur ist. Das Wesen des Lebens ist Wille zum Leben, eingestandenermaßen ein tautologischer Satz, denn Wille ist nichts anderes als Leben, 'Wille zum Leben' enthält somit nur eine sprachliche Verdopplung. Der Weg zum "Ding an sich", den auch Schopenhauer beschreitet, endet in der dunkelsten und dichtesten Immanenz: in dem am Leibe gespürten Willen. Paradox für alle, die sich ans Licht hinausdenken und -arbeiten wollen.

Trivial aber wird diese Einsicht, wenn sie nicht erst am Ende, sondern bereits am Beginn des Weges steht; wenn ein materialistisch ausgenüchterter Biologismus den Willen als Kraft definiert, die aus dem Stoff die Gestaltenfülle des Lebendigen hervortreibt; wenn mit der inflationär gehandhabten Formel 'nichts anderes als' das Lebendige auf Chemie, Mechanik und Physik reduziert wird. Das ist dann jene selbstverständliche und deshalb triviale naturwissenschaftliche Immanenz, die aber mit der Immanenz Arthur Schopenhauers wenig zu tun hat. Schopenhauers Immanenz ist eine, die auf eine metaphysische Frage (Was ist das "Ding an sich"?) antwortet; die naturwissenschaftliche Immanenz ist eine, die von vornherein jede metaphysische Fragestellung abschneidet.

Schopenhauers Denkweg führt bis zu jenem Punkt, wo traditionellerweise mit der Frage: Was verbirgt sich hinter der erscheinenden Welt? der Übergang zum Transzendenten erfolgte. Auch Schopenhauer stellt diese Frage. Er schlägt dieselbe Bühne auf, wo sonst nur Gott, das Absolute, der Geist usw. ihre Auftritte haben. Doch statt dieser erlauchten Gestalten der Sinngebung tritt der 'Wille', diese Immanenz schlechthin, aus den Kulissen. Aber auf dieser Bühne muß auch der Schopenhauersche 'Wille', der die alte Metaphysik aufzehrt, eine metaphysische Rolle spielen. Denn es ist die metaphysische Neugier, die das ganze Spiel inszeniert. Herausgerissen aus diesem Bedeutungsspiel einer letzten Metaphysik, kann es Schopenhauers Einsichten allerdings widerfahren, daß man sie für trivial hält, weil man sie mißversteht.

Schopenhauer beginnt also, an seine Dissertation anknüpfend, transzendentalphilosophisch: Die Welt ist meine Vorstellung. Die vorstellende Tätigkeit umfaßt beide Pole: Subjekt und Objekt. Sie sind Wechselbegriffe: kein Subjekt ohne Objekt, kein Objekt ohne Subjekt. Im transzendentalphilosophischen Vorspiel bereitet Schopenhauer sehr sorgfältig den Übergang zum nächsten Akt vor. Er will einen Weg zeigen heraus aus dieser geschlossenen Welt der Transzendentalphilosophie, er will zum "Ding an sich" kommen, doch die zwei von der zeitgenössischen Philosophie am häufigsten frequentierten Ausgänge will er zunächst verriegeln. Weder über das Subjekt noch über das Objekt führt ein Weg hinaus. Um das zu zeigen, bedarf es einer nochmaligen Besinnung auf das Subjekt-Objekt-Verhältnis. In diesem Verhältnis, das zeigt Schopenhauer, gibt es kein logisches Prius: Weder läßt sich das Subjekt aus dem Objekt erklären, noch das Objekt aus dem Subjekt. Bei dem jeweils einen ist das andere immer schon mitgedacht und vorausgesetzt: Indem ich mich als erkennendes Subjekt vorfinde, habe ich Objekte, und umgekehrt: Ich finde mich als Subjekt nur vor, sofern ich Objekte habe. Die trügerischen Ausgänge sind nun aber die fälschlichen Versuche, entweder die Welt der Objekte aus dem Subjekt hervorgehen zu lassen (so vor allem der Fichtesche Subjektivismus), oder aber das Subjekt aus der Welt der Objekte zu erklären (so der Materialismus eines Helvétius und Holbach).

Den Subjektivismus fertigt Schopenhauer mit wenigen polemischen Worten ab, die Abgrenzung gegen den materialistischen Objektivismus, von dem er ahnt, daß man ihn mit seiner Willensmetaphysik verwechseln könnte, ist demgegenüber sehr gewissenhaft durchgeführt: " Dieser (der Materialismus, R.S.) setzt die Materie, und Zeit und Raum mit ihr, als schlechthin bestehend, und überspringt die Beziehung auf das Subjekt, in welcher dies alles doch allein daist. Er ergreift ferner das Gesetz der Kausalität zum Leitfaden, an dem er fortschreiten will, es nehmend als an sich bestehende Ordnung der Dinge...; folglich den Verstand überspringend, in welchem und für welchen allein Kausalität ist. Nun sucht er den ersten, einfachsten Zustand der Materie zu finden, und dann aus ihm alle andern zu entwickeln, aufsteigend vom bloßen Mechanismus zum Chemismus, zur Polarität, Vegetation, Animalität und gesetzt, dies gelänge, so wäre das letzte Glied der Kette die tierische Sensibilität, das Erkennen: welches folglich jetzt als eine bloße Modifikation der Materie, ein durch Kausalität herbeigeführter Zustand derselben aufträte. Wären wir nun dem Materialismus mit anschaulichen Vorstellungen bis dahin gefolgt; so würden wir, auf seinem Gipfel mit ihm angelangt, eine plötzliche Anwandlung des unauslöschlichen Lachens der Olympier spüren, idem wir, wie aus einem Traum erwachend, mit einem Male innewürden, daß sein letztes, so mühsam herbeigeführtes Resultat, das Erkennen, schon beim allerersten Ausgangspunkt, der bloßen Materie, als unumgängliche Bedingung vorausgesetzt war und wir mit ihm zwar die Materie zu denken uns eingebildet, in der Tat aber nichts Anderes als das die Materie vorstellende Subjekt, das sie sehende Auge, die sie fühlende Hand, den sie erkennenden Verstand gedacht hätten...: plötzlich zeigte sich das letzte Glied als den (der? JR) Anhaltspunkt, an welchem schon das erste hing, die Kette als Kreis; und der Materialist gliche dem Freiherrn von Münchhausen, der, zu Pferde im Wasser schwimmend, mit den Beinen das Pferd, sich selbst aber an seinem nach Vorne übergeschlagenen Zopf in die Höhe zieht." In der dritten Auflage (1858) setzt Schopenhauer hinzu: "Demnach besteht die Grundabsurdität des Materialismus darin, daß er vom Objektiven ausgeht..., während in Wahrheit alles Objektive, schon als solches, durch das erkennende Subjekt, mit den Formen seines Erkennens, auf mannigfaltige Weise bedingt ist und sie zur Voraussetzung hat, mithin ganz verschwindet, wenn man das Subjekt wegdenkt" (I,61).

Aus diesem Zirkel (wie auch aus dem Zirkel des Subjektivismus) kommt man, so Schopenhauer, nur heraus, wenn ein Punkt zu finden ist, wo wir die Welt nicht nur als Vorstellung, nicht nur im Subjekt-Objekt-Verhältnis, haben. Die Erkenntnis des Zirkels soll gerade darauf leiten, "das innerste Wesen der Welt, das Ding an sich, nicht mehr in einem jener beiden Elemente der Vorstellung (Subjekt und Objekt, R.S.), sondern vielmehr in einem von der Vorstellung gänzlich Verschiedenen zu suchen" (I,68).

(...) Wenn nun die Welt meine Vorstellung ist, so lehrt mich mein alltäglicher Umgang mit ihr doch noch etwas anderes, die Welt zieht nicht nur als Vorstellung an uns, den erkennenden Subjekten vorüber, sondern sie erregt in uns ein "Interesse", "welches unser ganzes Wesen in Anspruch nimmt" (I,151). Die Philosophietraditionen, die das Wesen des Menschen ins Denken und Erkennen setzte, hatte alles "Interesse" an der Welt aus dem Erkennen hervorgehen lassen müssen. Bei Spinoza etwa ist auch noch die Bearbeitung von Gegenständen oder der Liebesakt primär eine Art des 'Erkennens'. In solcher Deutung ist Triebnatur verdunkelte Erkenntnis. Das Bild des Menschen ist vom Kopf her entworfen. In der Regel läßt der nachdenkende Kopf den Menschen, über den er nachdenkt, auch beim Denken beginnen. Anders Schopenhauer: Das "Interesse" entspringt nicht aus Erkenntnis, sondern geht dem Erkennen voraus und engagiert uns in einer ganz anderen als nur der Erkenntnisdimension. "Was ist diese anschauliche Welt noch außer dem, daß die meine Vorstellung ist" (I,51), fragt Schopenhauer und gibt die, uns schon inzwischen bekannte, Antwort: Wille.

Der Wille ist das Gewisseste. 'Wille' ist der Name für die Selbsterfahrung des eigenen Leibes. Nur der eigene Leib ist jene Realität, die ich nicht nur als Vorstellung habe, sondern die ich selber bin. Da ich mich aber auch zum eigenen Körper zugleich vorstellend verhalten kann, so ist mir also der eigene Leib "auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: einmal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten...; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnete" (I,157). Ich kann Aktionen meines Leibes 'erklären', d.h., sie nach dem Satz vom Grunde als Objekt aus anderen Objekten kausal hervorgehen lassen. Doch nur am eigenen Leib bin und spüre ich zugleich das, was ich im Vorstellungsakt erklären kann. Ich kann mich selbst in die Welt der Objekte versetzen und bin doch zugleich das "Ding an sich". Die Selbsterfahrung des eigenen Leibes ist der einzige Punkt, wo ich erfahren kann, was die Welt ist, außer daß sie meine Vorstellung ist.

Schopenhauer belegt den so definierten Willen deshalb auch gelegentlich mit einem Terminus, der in der scholastischen Philosophie Gott als das Allergewisseste bezeichnet hatte: Er nennt den am eigenen Leibe erlebten 'Willen' das "Realissimum". So wie die scholastische Philosophie aus Gott alle anderen Gewißheiten ableitete, so verfährt Schopenhauer mit seinem neuen "Realissimum". Daß die Welt außer mir mehr und noch anderes ist als bloße Vorstellung, zu dieser Gewißheit berechtigt mich die Selbsterfahrung des eigenen Leibes. "Wenn wir die Körperwelt, welche ... nur in unserer Vorstellung dasteht, die größte und bekannte Realität beilegen wollen; so geben wir ihr die Realität, welche für jeden sein eigener Leib hat: denn der ist jedem das Realste" (I,164).

Bei diesem heiklen Übergang vom Realsten des am eigenen Leib erlebten Willens zu der Außenwelt bedient sich Schopenhauer des Verfahrens der 'Analogie': "Wir werden... die... auf zwei völlig heterogene Weisen gegebene Erkenntnis, welche wir vom Wesen und Wirken unseres eigenen Leibes haben, ... als einen Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur gebrauchen und alle Objekte, die nicht unser eigener Leib, daher nicht auf doppelte Weise, sondern allein als Vorstellung unseres Bewußtseins gegeben sind, eben nach der Analogie jenes Leibes beurteilen und daher annehmen, daß, wie sie einerseits, ganz so wie er, Vorstellung und darin mit ihm gleichartig sind, auch andererseits, wenn man ihr Dasein als Vorstellung des Subjekts beiseite setzt, das dann noch Übrigbleibende seinem Wesen nach, das selbe sein muß, als was wir an uns Wille nennen. Denn welche andere Art von Dasein oder Realität sollten wir der übrigen Körperwelt beilegen? woher die Elemente nehmen, aus der wir eine solche zusammensetzen? Außer dem Willen und der Vorstellung ist uns gar nichts bekannt, noch denkbar" (I, 149).

Dieser Gedanke ist von suggestiver Schlichtheit. Der analogische Schluß besteht in der Annahme, daß man diese doppelte Seinsweise (eine vorgestellte Welt zu haben und Wille zu sein) auch der Natur insgesamt zubilligen muß, wenn man sie nicht nur auf die unserem Vorstellungsvermögen zugewandte Seite beschränken und damit zum Phantom machen will - eine Ansicht, die, wenn man nicht gerade hyperskeptischer Philosoph ist, so Schopenhauer, fürs 'Tollhaus' prädisponiert.

Die suggestive Plausibilität dieses Gedankens verdankt sich dem konsequenten Festhalten an der Transzendentalphilosophie. Diese lehrt: Alle erkannte und wahrgenommene Welt ist unsere Vorstellung. Da aber unser Vorstellen nicht alles ist, muß das, was von keiner Vorstellung erreicht wird (bei Kant das "Ding an sich"), dort gesucht werden, wo wir selbst, und zunächst einmal nur wir selbst, noch etwas anderes als vorstellende Wesen sind.

Von Nietzsche bis in unsere Tage (z.B. von Gehlen) kann man den Vorwurf hören, Schopenhauers Willensphilosophie hätte sich den transzendentalphilosophischen Umweg sparen können. Tatsache ist aber: Nur der transzendentalphilosophische Weg verhindert, daß vom 'Willen' unversehens doch wieder wie von einem Objekt unter Objekten gesprochen wird. Das ist dann aber nicht mehr der 'Wille', den Schopenhauer meint (der Wille, der man selbst ist, noch ehe man sich ihn vorstellt). Der transzendentalphilosophische Weg umgrenzt (zunächst einmal nur negativ) am Sein dasjenige, was nicht in Vorstellung, Objektsein, Kausalität usw. aufgeht. In diesem Sein ohne Vorgestelltsein steckt für Schopenhauer der 'Wille'. Nimmt man ihn aus diesem Bereich heraus, wird der Wille zu einem Vorstellungsobjekt unter Vorstellungsobjekten, und damit in der Kausalitätskette der Objekte zu einem Erklärungsglied.

Schopenhauer wird nicht müde, vor solchem Mißverständnis zu warnen. Der Bezug auf den 'Willen' erkläre nichts, sondern zeige nur, was die Welt ist noch außer dem, daß wir sie als eine (naturwissenschaftlich) erklärungsbedürftige und erklärbare Welt vorstellen und handhaben, betont er. "Man darf, statt eine physikalische Erklärung zu geben, sich so wenig auf die Objektivation des Willens berufen, als auf die Schöpferkraft Gottes. Denn die Physik verlangt Ursachen; der Wille aber ist nie Ursache: sein Verhältnis zur Erscheinung ist durchaus nicht nach dem Satz vom Grunde; sondern was an sich Wille ist, ist andererseits als Vorstellung da, d.h. ist Erscheinung: als solche befolgt es die Gesetze, welche die Form der Erscheinung ausmachen" (I,208).

Schopenhauers Willensphilosophie steht nicht in Idealkonkurrenz zu den erklärenden Naturwissenschaften. Deshalb habe ich Schopenhauers Verfahren, die Welt aus dem von innen erlebten Willen zu verstehen, eine Daseinshermeneutik genannt. "
(Safranski S.320)

Bevor Rüdiger Safranski nun diese Form der Schopenhauerschen Hermeneutik näher erläutert, breche ich die öffentliche Lektüre seines erhellenden Buches ab, ungern zwar, weil gerade jetzt einige der schönsten Zitate aus Schopenhauers Werk folgen würden. Ich möchte aber die Leser und Leserinnen meiner Abschrift um so dringender auf die Quelle verweisen, die nichts weniger als eine Einführung in die Kunst des Philosophierens überhaupt ist:

[ Rüdiger Safranski
Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie
(1987) Frankfurt am Main 2001

R.S. zitiert nach der folgenden Werkausgabe:
Arthur Schopenhauer
Sämtliche Werke
Textkritisch bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Freiherr von Löhneysen. 5 Bände. Stuttgart/Frankfurt a.M.
Nachdruck 1986, Frankfurt a.M. (Suhrkamp-Taschenbuch) ]

Einstein und sein fliegender Stein (frei nach Schopenhauer, Spinoza und Augustinus)




Albert Einstein beginnt einen Text ÜBER DEN FREIEN WILLEN (für Rabindranath Tagore zum 70. Geburtstag, 1931) folgendermaßen:

Wenn der Mond bei der Zurücklegung seines ewigen Weges um die Erde mit Bewußtsein begabt wäre, so würde er wohl überzeugt sein, daß er seinen Weg freiwillig, aufgrund eines ein für allemal gefaßten Entschlusses, ausführen würde.
So würde ein mit höherer Einsicht und mit vollkommenerem Wahrnehmungsvermögen ausgestattetes Wesen den Menschen und sein Tun sehen und über dessen Illusion lächeln, nach freiem Willen zu handeln.
Dies glaube ich, wohl wissend, daß es nicht völlig beweisbar ist. (etc.)

Zitiert nach
Rabindranath Tagore
Das goldene Boot, Lyrik, Prosa, Dramen
herausgegeben von Martin Kämpchen
Düsseldorf und Zürich 2005 (S. 536)

Mit diesen Überlegungen blieb Einstein weit hinter Schopenhauer zurück, der sich bei einer ähnlichen Formulierung korrekterweise auf Spinoza bezog, aber dann auch die eigentliche Pointe nicht fehlen ließ:

Spinoza sagt (epist.62), daß der durch Stoß bewegte Stein, wenn er Bewußtsein hätte, meinen würde sich aus seinem Willen zu bewegen. Ich setze hinzu daß der Stein recht hätte.

Man sollte es an Ort und Stelle nachlesen und nicht an dieser Stelle innehalten, - hier soll jedoch nur noch der Verweis auf Augustinus folgen, mit Schopenhauers sorgsam gewählten Worten: "...ich kann mich nicht entbrechen, seinen naiven Ausdruck der Sache herzusetzen: 'Si pecora essemus, carnalem vitam...' " etc.etc. Er zitiert, wie immer, das lateinische Original, aber glücklicherweise enthält die hier verwendete Ausgabe (s.u.) im Anhang eine Übersetzung, wir beschränken uns auf die unsern Stein betreffenden Sätze:

"...Denn in den Bewegungen der Schwerkraft kommt gleichsam die Liebe der leblosen Körper zum Ausdruck, mögen sie nun vermöge der Schwere nach unten oder vermöge der Leichtigkeit nach oben streben: denn der Körper wird gerade so durch sein Gewicht wie der Geist durch die Liebe dahin getrieben, wohin er getrieben wird."

(Augustinus, Libri de civitate Dei, Basil. 1505, XI, 28)

So wiedergegeben in:
Arthur Schopenhauer
Werke in zwei Bänden
herausgegeben von Werner Brede, Gütersloh o.J.
S. 731 Anm. 182, Zitat oben, Spinoza betreffend, S. 181
(Welt als Wille und Vorstellung, I. Band, Zweites Buch §24)

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Natur- und Geisteswissenschaften bei Wilhelm Dilthey (1833 - 1911)




" ...sein Nachruhm gründet vor allem in seiner 'Einleitung in die Geisteswissenschaften' (1883), die 1910 durch 'Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften' ergänzt wurde. Mit diesen Abhandlungen unternahm Dilthey den Versuch, Natur- und Geisteswissenschaften gegeneinander abzugrenzen. Gemäß der Tradition, die Wissenschaften nach ihren Erkenntnisgegenständen und Methoden zu beschreiben, bestimmte er als Kultur- und Geisteswissenschaften die Gesamtheit all jener Disziplinen, welche die historisch-gesellschaftliche Wirklichkeit erforschen, und stellte ihnen diejenigen Wissenschaften gegenüber, deren Forschungsgegenstand die Natur bildet, soweit sie vom Menschen abhängig ist.

Methodisch unterschied er dabei zwischen dem Erklären von Gesetzmäßigkeiten und dem Verstehen einzelner historischer Zusammenhänge. Während der Naturwissenschaftler Regeln aufstellt, die unabhängig von seinen persönlichen Erfahrungen gelten und dadurch zu einer anderen Zeit für einen anderen Forscher den gleichen Wahrheitsgehalt besitzen, ist die geisteswissenschaftliche Erkenntnis in das Lebens- und Weltverständnis der jeweils am Erkenntnisprozess Beteiligten eingebettet. Das bedeutet, dass beim Verstehen, anders als beim naturwissenschaftlichen Erklären, keine vollständige Trennung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt möglich ist.

Diltheys Überlegungen haben bis heute Gültigkeit und insofern ist sein 175. Geburtstag ein würdiger Anlass, um sein Leben zu besichtigen ... "

Frank-Rutger Hausmann (Buchbesprechung Süddeutsche Zeitung 9. Dez. 2008 S.16)

Betrifft:
Guy van Kerckhoven, Hans-Ulrich Lessing, Axel Ossenkop
Wilhelm Dilthey, Leben und Werk in Bildern
Verlag Karl Alber, Freiburg, Münschen 2008. 344 Seiten, 359 Abb. 49 Euro.

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