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Zitat und Transkulturalität
Vortrag von Jan Reichow im Goethe-Institut München, 1. Mai 2011
Ich möchte mit ein paar Erinnerungen beginnen: aus früheren Jahrzehnten und aus den letzten Monaten. Im WDR, einem der damaligen Pioniere und Mäzene in Sachen Neuer Musik, gab es in den 70er, 80er Jahren des öfteren Veranstaltungen unter dem Titel "Begegnung mit..." - sagen wir Japan, Indien, Afrika. Manchmal hatte ich den Verdacht: es war um so passender, je fremder die Musik war, so konnte sie relativ zwanglos mit der prinzipiell neuen, also auch fremden Neuen Musik des Westens kombiniert werden. (Dort, wo sie herkam, war sie natürlich durchaus nicht fremd.) Im Fall Indien saß Peter Michael Hamel in der Mitte des Orchesters und hielt eine Tambura im Arm, deren indisches Urprinzip nun einmal bedeutet, einen einzigen Ton bzw. einen obertonreichen Grundtonklang zu realisieren. Und das für die ganze Dauer des Stückes. Kann das noch "wie Neue Musik" klingen? Soll es das überhaupt? Peter Michael Hamel war beredt und wusste seine Sache im Workshop recht überzeugend darzustellen, aber schließlich stand jemand auf und sagte: das ist verbal alles ganz einleuchtend, aber im Konzert klingt es dann trotzdem nur nach "Grand Canyon Suite" oder so. Das wirkte erheiternd. Und später meldete sich eine Inderin zu Wort (Mitarbeiterin der Deutschen Welle, selber auch Musikerin, Vina-Spielerin) und sagte: Wissen Sie, - wir meinen, Musik muss immer auch Freude machen, Freude verbreiten, aber bei Ihnen klingt es so, als ob es immer gleich um Erlösung geht. Auch das sorgte für Heiterkeit. Ein andermal gab es eine Kooperation in Sachen Afrika: Werke von Steve Reich und authentische Musik aus Ghana sollten aufeinanderfolgen, von dort hatte der Komponist doch einst auch viel Anregungen aufgenommen. Das war nun allerdings reine Redakteursabsprache, - bis nämlich aus den USA telefonisch das Diktum kam: auf keinen Fall soll das miteinander in Zusammenhang gebracht werden! Also fanden die Konzerte thematisch unverbunden, quasi zufällig, hintereinander statt, was dennoch zur Folge hatte, dass man ein teilweise identisches Publikum hatte, darüberhinaus aber auch noch einige begeisterte amerikanische Musiker im Auditorium des Ghana-Konzertes sitzen sah; und nicht nur bei dieser Begegnung, sondern auch bei anderen zeigte sich, dass die spontane Wirkung eher von diesen nicht-komponierten Beiträgen ausgingen. Also hatte Steve Reich doch igendwie recht, wenn er auf Separierung bestand? Das Publikum schlägt sich leicht auf die Seite derer, die auf einer weniger hohen Ebene sitzen und - wie man so sagt - das Herz auf dem rechten Fleck zu haben scheinen. Bei Rhythmus sowieso! Was allerdings nicht heißt, dass die Verständigung auf dieser Basis automatisch problemloser ist. Interessant ist ja das Phänomen, dass tanzfreudige westliche Zuhörer zu afrikanischen Rhythmen meistens falsch tanzen, weil sie die EINS nicht korrekt wahrnehmen. Während ein westafrikanischer Meistertrommler, der auf seiner Tournee durchaus die typisch westlichen Errungenschaften zu schätzen weiß, bei der studentischen Tanzparty verwundert den Kopf schüttelt über die simple Beatversessenheit der Europäer, ihre Grundschlagmanie, - die wir keinen Augenblick in Frage stellen, weil wir das für Rhythmus halten, zumal wir doch allesamt vorwiegend im 4/4-Takt, in einer Marsch-, Fox- und Beatkultur sozialisiert wurden. Und noch weniger wundert es, dass afrikanische Weltstars wie Youssou N'dour oder Baaba Maal sich dem schwächer entwickelten westlichen Rhythmusempfinden anpassen und für uns eine etwas andere Musik machen als für den Markt daheim. Wer entscheidet nun über die senegalesische Musik: der transkulturell beflügelte Weltmarkt oder der heimatliche Markt, der heimatnah bedient werden will, zugleich aber auch am Exporterfolg der Stars ganz gern partizipieren möchte? Ich muss noch eine Geschichte wiedergeben, die ich nicht selbst erlebt habe, die mir aber so erzählt wurde, dass ich mir gut einen Reim darauf machen konnte: Eine deutsche Rockband wurde per Goethe-Institut auf Afrika-Tour geschickt, in deren Verlauf auch verschiedenste musikalische Begegnungen eingebaut waren. Interkulturelle Begegnungen. Da die Band über einen hervorragenden Schlagzeuger verfügte, kam auch die Idee auf, ihn irgendwo mal mit einem afrikanischen Meistertrommler um die Wette spielen zu lassen. "Und was soll ich Dir sagen", berichtete mein Augen- und Ohrenzeuge, "das wurde ein klarer Sieg des Europäers!" Ich weiß, der Mann war unkritisch, man hätte die Jury untersuchen müssen, nach den Kriterien fragen sollen, nach der Zusammensetzung des Publikums. Vor allem aber eins bedenken müssen: der Afrikaner sieht keinen Sinn darin, zu machen, was er will, eine phantastische Unberechenbarkeit, virtuose Kabinettstückchen und konvulsivische Ausbrüche zu inszenieren; er bleibt in seiner Welt strenger und wunderbarer rhythmischer Regeln, in denen er sich kraftvoll darstellen und "echauffieren" kann, aber keinesfalls den wildgewordenen Revoluzzer geben kann. Sein Sieg hätte gar nicht bemerkt werden können, außer von Insidern. Die eingeschworenen Insider sind aber bei all diesen Begegnungen nun mal in der Minderzahl. Meine eigene erste "transkulturelle" Erfahrung mit Neuer Musik war übrigens ein Komponist, der sich Ende der 60er Jahre dafür interessierte, dass ich über arabische Musik promovieren wollte und sie gerade in mühseliger Arbeit transkribierte. Er wollte sich darauf irgendwie kreativ einlassen, doch meine libanesischen Qasiden-Melodien im Maqam Sikah, - d.h. solche mit den Rahmentönen C und G, aber mit dem Grundton genau zwischen den Klaviertasten ES und E -, klangen ihm zu wenig arabisch, vielleicht auch wegen dieses einen Tones schlicht zu unsauber, daher änderte er kurzerhand einige Sekundschritte in übermäßige Sekunden, für meine Begriffe genau so, wie es dem dümmsten Orientalismus-Klischee entsprach. Aber wie hätte ich auf Authentizität pochen können, da es gar nicht um ein glaubwürdiges Zitat der arabischen Musik ging (es stand auch nichts davon in der Titelei des Werkes), sondern darum, irgendeinen ungewöhnlichen Melodieverlauf zu realisieren, der nicht mit den gängigen Modellen verwechselt werden konnte. Das Gegenteil haben wir im folgenden Fall: eine Komponistin von heute braucht ein Wiegenlied, aber nicht eins, das jeder kennt, und das man außerhalb der echten Situation vielleicht nur hausbacken und betulich finden würde. Also nicht etwa "Schlaf Kindchen schlaf", das zudem über eine Oktave geht und dem Baby Sext- und Septsprünge zumutet. Man braucht etwas Einfacheres, Universales, sehr wenig Töne. Ich kenne eins, ein Drei-Ton-Gebilde aus West-Afghanistan, gesungen von einem Vater, leise und zärtlich, Segenswünsche. 1) Herati Lullaby (mit Abdul Wahab Madadi) Herati Lullaby (Provisorische Notation JR)
Also: eine zweiteilige Melodie, am Ende der ersten Halbzeile offen gehalten, am Ende der zweiten sich schließend; aber schon bereit zur neuen Öffnung und Schließung, unendlich wiederholbar. Mit wechselndem Text, der auch nach Bedarf wiederholbar ist, bis das Kind eingeschlafen ist. Und nun hören Sie dieselbe Melodie in einer Komposition von Carola Bauckholt: ist es noch dasselbe Lied? (Im Sinne der GEMA zweifellos.) Aber niemand weiß, dass die Töne von afghanischer Seite beglaubigt sind, dass also genau diese Tonfolge von einer benennbaren Gesellschaft (Großregion der Grenzstadt Herat, Pashtu-Bevölkerung) abgesegnet ist. Und niemanden interessiert das, sie könnte auch für diesen Zweck von Carola Bauckholt erfunden sein. Ausschnitt aus "Emil will nicht schlafen..." von Carola Bauckholt
(2009/2010)
Zudem ist das Lied jetzt einem kompositorisch-szenischen Kontext angepasst, der zwar auch mit dem Einschlafen eines Kindes zu tun hat. Aber eher mit den Einschlafschwierigkeiten. Oder nur mit den akustischen Begleiterscheinungen, wobei die Komik billigend in Kauf genommen wird. "Emil will nicht schlafen". Das "Alla-huhu" ist leicht aus dem Takt geschoben, ist in ein hoch komplexes Umfeld geraten aus Lauten und Tönen, imitiertem Babygeschrei und Zuspruch der Mutter. Man kann sich die amüsierten, ironischen oder irritierten Bemerkungen im Publikum leicht vorstellen. Aber niemand wird auf die Idee kommen zu sagen: diese Melodie kann doch gar nicht Eigentum der Komponistin sein! Auch die angedeutete Situation ist es ja nicht. Ihre Idee ist es nur, die Alltäglichkeit mit größter Sorgfalt auf die Bühne zu setzen. Mit einer solchen Sorgfalt, dass man von "Altmeisterlichkeit" reden könnte... 2) Carola Bauckholt "Emil will nicht schlafen" (2010) ab 5:31 Vielleicht ist es das Ziel solcher Musik, durch eine mit scheinbarer Absichtslosigkeit provozierende Selbstverständlichkeit gerade nicht Schlüsselszenen der Weltliteratur, späte Verse von Hölderlin oder Weisheiten Laotses zu verarbeiten, Hintergründiges dabei zu denken zu geben, sondern das Allerprivateste, auch: Allerbelangloseste in das Unerhörteste, Ungewöhnlichste, nämlich ein technisch-handwerkliches "Weltniveau" zu transponieren. Zufällig habe ich noch ein anderes Wiegenlied zur Hand, ich war überrascht, als es zum Vorschein kam, und ich habe gerätselt, warum es mir im Kern bekannt schien. Es erinnerte mich von ferne an das Volkslied "Scarborough Fair"?
Oder war es dann doch das alte "Dies irae" mit rhythmischen Erinnerungsfetzen aus "Es ist ein Schnitter, heißt der Tod". Unmöglich eigentlich, - in einem Wiegenlied. Oder: für Erwachsene gerade nicht unmöglich. Es ist ja auch der Siciliano-Pastoralen-Rhythmus, den die Hirten im Weihnachtsoratorium an der Krippe anschlagen.
3) Jörg Widmann Étude VI (Wiegenlied für Salome) Tr. 3 11:06 bis 12:27 Ein frecher Komponisten-Kollege in Berlin, der sich fortwährend mit der GEMA anlegt, nennt solche handwerklich unangreifbare und phantastisch neue Kunst spöttisch "staatstragend" (s. Internet: Kreidler - GEMA-Problem). Ist vielleicht ein melodischer Gedanke als Fluchtpunkt des musikalischen Geschehens bereits das Sakrileg, das man sich bei einem radikalen Avantgardeverständnis sowieso nicht leisten darf? Oder ist es ein unverbindliches Petrefakt? Ein Zitat? Was ist eine Melodie? Ist Melodie überhaupt ein universales musikalisches Konzept? Haben alle Völker und Kulturen der Welt austauschfähige Melodien, deren Verwendung sie notfalls gemapflichtig machen könnten, sofern sich jemand als Komponist zu erkennen gäbe oder ein paar Töne hinzusetzte? (Ich hörte von einem Film von Martin Scorsese, in dem er Afrika zu einem steinreichen Erdteil machte, vorausgesetzt, alle Musikproduzenten, die je afrikanische Leihgaben verwendet haben, würden entsprechend zur Kasse gebeten.) Das wird in dem Augenblick zur Kardinalfrage, wenn es um die Aneignung ethnischen Materials geht: was ist denn dort das Material? Eine Melodie? Spielt dieses Konzept "Melodie", dessen Verschwinden wir in unserer klassischen Moderne (um 1960) doch hier und da beklagt haben, überhaupt eine so weitreichende Rolle, wie die GEMA suggeriert? Die Vietnam-Kennerin Gisa Jähnichen meint dazu: Der Begriff Melodie im Sinne einer seriell fortschreitenden Folge von relativ stabilen Frequenzen hat in etlichen Kulturen eine ziemlich andere Bedeutung als in Mitteleuropa. (...) Man kennt die abstrakte (mitteleuropäische) Art von Melodie, sie ist jedoch in Vietnam nicht ausreichend für die ästhetische Beschreibung einer Gebrauchsqualität im Sinne von "schön", "ausgewogen", "misslungen". Das liegt daran, dass den traditionellen Musikgebildeten die blanken stabilen Frequenzen so entsetzlich langweilig erscheinen. Man fasst dort bestimmte relative Frequenzgruppen in bestimmten Kategorien zusammen, eine jede dieser Kategorien hat bestimmte Eigenschaften z.B. langsames aufsteigend abschließendes Vibrato, von der Unterquarte angeschliffener Liegeton mit abschließender Umspielung usw. - so würden wir es beschreiben müssen, da uns ein solches komplexes Denken unbekannt ist - [zumal diese modalen Qualitäten] nicht analytisch benannt werden, da sie ja implizit sind. Jeder Modus verfügt über eine bestimmte Menge dieser unterschiedlichen Kategorien, die wiederum auf unterschiedliche Tonhöhenniveaus fallen können. Daher sind gleichlautende Tonhöhen in unterschiedlichen Modi völlig unterschiedlich zu verstehen und nicht vergleichbar. Sie sehen, wo das Problem liegt: schon der Begriff Melodie ist völlig inkulturiert. (Mailmitteilung 2009)
Vielleicht erinnert dieser Begriff ein wenig an das, was Isang Yun einst über koreanische Tonauffassung vermitteln wollte, deren Prinzip bekanntlich erst in Deutschland für ihn kreative Bedeutung annahm. Nach seiner endgültigen Rückkehr in die Heimat verlegte er sich in irritierender Weise auf eine romantische (also traditionell europäische) Schreibweise. Wäre sie - unter irgendeinem Aspekt - als transkulturelle Option denkbar? Oder nur in Korea - also intrakulturell? Ich muss Ihnen hier kein Beispiel aus Vietnam vorspielen um zu beweisen, dass die Differenzierungen, auf die es in der sogenannten "Musik der Elite" ankommt, für uns gar nicht wahrnehmbar sind; es gibt keinen Weg sie zu ästhimieren, ohne dass ein ausgiebiges Studium voranginge. Es ist nun einmal nicht nur eine ethnische Farbe. (Ebensowenig wie die vietnamesische Sprache ein Vokalfarbenspiel ist, das gar nicht verstanden werden will). Ein von uns gesetzter Kontext aber, der durch seine pure Beschaffenheit bereits signalisierte, dass es auf die eigentlichen Feinheiten gar nicht ankommt, der aber doch Originalmusik durch Sampling einfügen würde: Könnten die vietnamesischen Elitemusiker aufbegehren gegen die Verwendung ihres unverkennbar elitären Materials, wenn sie doch wissen, dass es gar nicht verstanden werden kann? Da wir so global denken: Könnten wir uns womöglich für einen Augenblick mal vorstellen, es gehöre bei uns zur Elitebildung, möglichst alle Stile der Welt zu erkennen und spontan ihren je eigenen Kontext zu imaginieren? Wäre das wünschenswert?
Aber noch einmal in die Praxis! Was geht in Ihnen vor, wenn Sie die folgende Melodie hören? Handelt es sich um eine identifizierbare ethnische Tonfolge? Möglicherweise geschützt? Oder ist es vor allem eine Klangfarbe? Eine ethnische Klangfarbe, mit deren Verwendung bereits die Ausbeutung beginnt? 4) Maximilian Hendler op.114 "S'io ti fiameggio nel caldo d'amore" 0:52 Vielleicht meint dieser Klang ein imaginatives Mittelalter.
5) Maximilian Hendler op.114 "S'io ti fiameggio nel caldo d'amore" Forts. ab 0:53 bis 2:40 , Es ist ein Text aus Dantes "Divina Commedia", Paradiso, V. Gesang.
6) Maximilian Hendler op.114 "S'io ti fiameggio nel caldo d'amore" Forts. ab 8:13Ich zitiere aus einem Gerichtsurteil: Eine so genannte freie Bearbeitung liegt vor, wenn der Eindruck des Originals gegenüber demjenigen der neuen Werke "verblasst". In diesem Fall lässt das Urheberrecht eine Nutzung unabhängig vom Einverständnis des Schöpfers des Ausgangswerkes zu. [ Quelle: www.it-rechtsinfo.de/urteile/ ... /Freie-Bearbeitung-erfordert-kein-Einverstaendnis-des-Schoepfers.html ]
Das klang nun recht hypothetisch, ich behaupte aber, genau im Sinne des zitierten Urteils, dass es - bei diesem Stand der technischen oder musikalischen Bearbeitung (Aneignung?) - im Grunde egal ist, ob man von einem vorgegebenen fait culturel ausgeht oder ob man es selbst konstruiert. Ich brauche hier keinen Exkurs zur Geschichte der Bearbeitung zu versuchen, von Bach bis Liszt, von Busonis Auffassung des Begriffs "Transkription", seiner eigenen Aufarbeitung der "Indianerlieder", die er in der Sammlung von Natalie Curtis fand, bis zu Webern, der sagte: "Wir hören in einer Bearbeitung dasselbe, aber auf eine andere Art und Weise und dadurch entdecken wir vielleicht verschiedene Schichten oder Aspekte, die uns bisher unbekannt waren." Oder bis heute zur Praxis des Manuel Hidalgo, von dem behauptet wird, dass er genau dies auf verblüffende Art und Weise schafft; während er selbst zugibt, dass seine Bearbeitungen 99,9% Beethoven SIND. Und seine Fürsprecher schließen apologetisch folgende Frage an: "Warum nicht in unseren manchmal bis zum Überdruss modernen Zeiten im klassischen Stil (nach)komponieren?" Er hat Glück, weil Beethoven schon lange genug tot ist und niemand gegen diese Ausbeutung der ausgestorbenen Spezies "Genie" affirmativ Partei ergreifen mag, - aber die Argumente, die man hier hört, könnten aus einer längst vergangenen Zeit stammen. "Neue Einfachheit" sagte man damals. Ich möchte hier den "Fall Kevin Volans" etwas aufrollen, zum einen, weil ich nicht nachvollziehen kann, dass er je ein "Fall" war, zum anderen, weil ich nicht glaube, dass sein Umgang mit einem fremden Material heute dieselbe Beurteilung erfahren würde wie damals. Zur Erinnerung: er ist 1949 in Pietermaritzburg in Südafrika geboren, ein weißer, klavierspielender Südafrikaner, ein Liszt-Interpret, der sich für die Musik der Schwarzen interessiert, Studium in Johannesburg, - Mitte der 70er Jahre studiert und "dient" er bei Stockhausen in Köln, ab 1979 beginnt er mit Aufnahmeserien in Südafrika, er befasst sich intensiv mit der Musik der Zulus, auch der Shona im benachbarten Zimbabwe (dieser Name für Süd-Rhodesien gilt erst seit der Unabhängigkeit 1980), beschäftigt sich mit deren Instrumenten, mit dem Forschungsstand, der durch Namen wie Andrew Tracey und Paul Berliner bezeichnet ist.
Auch wenn der Komponist sich sehr eng an original-afrikanische Vorbilder hielt und sogar selbst in der Lage war, sie mit Hilfe afrikanischer Instrumente darzustellen, wählte er grundsätzlich europäische Instrumente, weil er keine Erneuerung der afrikanischen Musik beabsichtigte, vielmehr der westlichen Musik: Er wollte, dass die perfekte innere Organisation der afrikanischen Musik im Westen als eine menschliche Möglichkeit wahrgenommen wird, ohne dass sie als exotistische Anbiederung missverstanden werden konnte. Im Fall des Stückes "Mbira" hatte er statt der zwei einheimischen Lamellophone, genannt Mbira dza vadzimu, zwei italienische Barockcembali vorgesehen, aber nicht - wie üblich - in "alter" Stimmung, sondern in "afrikanischer" Stimmung.
Vor Ihnen liegt das Bild "Die Brücke im Regen" in zwei Versionen, links japanisch, rechts Vincent van Gogh. Es ist also - wie man sieht - gar nicht von ihm, sondern von Hiroshige ... oder vielleicht doch - bei soviel Eigensinn - doch auch von van Gogh?
Japanischen Künstlern (...) war die westliche, perspektivische Darstellung zwar spätestens seit Mitte der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannt. Eingesetzt wurde diese Technik jedoch nur in bestimmten Zusammenhängen, z. B. um den Eindruck von Fremdartigkeit zu erwecken bzw. die Fremdartigkeit selbst darzustellen - oder bestimmte [tagespolitisch brisante] Szenen in eine scheinbar ferne und fremde Welt zu entrücken. Der Bedeutungswechsel ist wesentlich! (Wikipedia) Natürlich hatte auch das Werk von Volans von Anfang an eine politische Bedeutung: ein weißer Südafrikaner, der in Zeiten noch ungebrochener Apartheid ausgerechnet die schwarze Kultur als musikalische Essenz seiner Heimat präsentiert, der zudem deren Prinzip dem der westlichen Musikkultur entgegenstellt, auch - und gerade - der Avantgarde, die sich allerdings auch der hier überlieferten Kultur entgegengestellt hatte. Er aber überbot die auch dort gewollte Entwicklungslosigkeit, die Abkehr von den geheiligten Prinzipien der motivisch-thematischen "Arbeit" bzw. den seriellen Nachfolgetechniken. Er selber sprach später im Rückblick auf diese Zeit von einem "südafrikanischen Virus", den er in die westlichen Techniken einbrachte. Allerdings gab es ein Problem, man hörte es nicht sofort und kritisierte es erst immer schärfer, als sein musikalisches U-Boot immer erfolgreicher kursierte. Die CD "African Pieces" des Kronos-Quartetts wurde die meistverkaufte Quartett- oder sogar Kammermusik-CD, die es je gab. [NOTEN "Mbira" 1984 auf den Tisch !!!]
![]() Kevin Volans, aus: "Mbira"
Das Problem im Fall des Stückes "Mbira" für 2 Cembali und Rassel: Möglicherweise stammte kaum eine Note darin von Volans, nicht einmal die Notation trug eindeutig "seine" Handschrift. Sie sah aus wie die Transkriptionen des Wissenschaftlers Andrew Tracey, aber das fiel erst in die Augen, als der Notentext vorlag, in der Newer Music Edition, auf kostbarem Papier und mit einem unübersehbaren Vermerk: Copyright Newer Music Edition. Natürlich fiel uns das nicht in die Augen, da wir Andrew Tracey's Arbeit erst durch Kevin Volans kennenlernten, der von ihr begeistert war: uns z.B. dessen Fibel "How to play Mbira" empfahl, [Original auf den Tisch!!!]
![]() Andrew Tracey, Nyamaropa Übung aber ebenso oder vielleicht noch mehr durch das Buch von Paul Berliner: "The Soul of Mbira". Von dem man später gesagt hat, es sei die beste ethnographische Arbeit, die je über eine afrikanische Musik geschrieben wurde. Ein vollkommener Klassiker. (John Chernoff). 7) Kevin Volans "Mbira" (Ausschnitt) Eine Anmerkung zum Abstand dieser Musik vom ethnischen Original: dieses hätte auf völlig andere Weise befremdet als die Cembalo-Version: vor allem das Mitscheppern und -klirren geräuschhafter Materialien hätte sich in den Vordergrund gedrängt, auch das raue, leicht jodelnde Mitsingen. 8) Authentische Mbira-Musik mit Gesang "Serevende" Mhuri Yekwa Muchena, Im Jahre 1984 also haben wir dieses "Mbira"-Opus von Kevin Volans für den WDR aufgenommen, mit den zwei altitalienischen Cembali und Rassel, in derselben Aufnahmesitzung wurde auch noch eine Beispielsammlung von Mbira-Techniken mit "wirklichen" Mbiras, gedacht für eine Radiosendung: die ebenfalls mitwirkende Deborah James hatte ein fabelhaftes Manuskript "The Soul of Mbira" mitgebracht. Die Radiosendung wurde in Universitätsseminaren als Einführung in die Mbiramusik verwendet (Wolfgang Bender Uni Mainz).
Ich erwähne das um hervorzuheben, dass es uns immer wieder um die Vermittlung der authentischen afrikanischen Musik ging. Was konnte man gegen die Transformation einzuwenden haben? Was sind die Einwände, die immerhin so zwingend waren, dass Kevin Volans am Ende sein Copyright zurückzog: das Werk gehörte ihm nicht mehr. Unabwendbar war offenbar das moralische Urteil: er hatte anderen etwas weggenommen. Es war keine Kritik an dem zu geringen Eigenanteil am Notentext, ein Faktum, das ja zweifellos beabsichtigt und mit der Absichtslosigkeit der Neuen Musik zu tun hatte, Realisierung eines gewollten Nichtwollens. Ich zitiere aus einer Arbeit von Gerd Grupe, das ist ein relativ später Stand, nämlich der von 2006/2007, die darin erwähnte Stellungnahme von Keith Goddard lag schon 10 Jahre zurück. (Gerd Grupe: "Cultural Grey-Out" oder "Many Diverse Musics"? Musikkulturen der Welt
[Zitat Gerd Grupe:]
in: Zeiten der Globalisierung S. 21 f) Grupe_-_Cultural_Grey-Out__2007_.pdf Fallbeispiel 4: Kevin Volans und die mbira-Musik
Goddard bezeichnet dieses Verhalten als "plundering and exploitation of cultures for selfaggrandisement" (ebenda) (also als Plünderung und Ausbeutung anderer Kulturen mit dem Ziel der Selbsterhöhung).
Das besagte Stück
[so fährt Grupe fort]
ist auf der CD Zimbabwe (Network/WDR) zu hören. Bei dem erwähnten Andrew Tracey handelt es sich um einen der besten Kenner dieser Musik, der darüber in Fachzeitschriften wie African Music publiziert hat. (Schreibt Grupe; in der Anmerkung zu diesem Satz fügt er hinzu: "Es wäre interessant einmal zu ermitteln, wer beispielsweise in Nigeria die Werke einheimischer, westlich geschulter Komponisten wie Akin Euba u.a. hört." ) Es handelt sich hier um eine Konstellation, bei der ein kulturexterner Komponist traditionelles Material einer anderen Kultur adaptiert - um es freundlich auszudrücken. Dies war in diesem konkreten Fall offenbar deswegen leicht möglich, weil Volans in Südafrika direkten Zugang zu ethnomusikologischen Quellen eines dort tätigen renommierten Forschers hatte. Abgesehen von seinen moralisierenden Mutmaßungen - hat Gerd Grupe offenbar nicht die konkreten Hinweise gelesen, die in der Original-Partitur zu finden sind (Übersetzung & Nummerierung von mir, JR) und entgegen seiner Mutmaßung sehr wohl die Abhängigkeit der Partitur von bestimmten Quellen frank und frei einräumen:
Aber auch wenn Grupe diese Hinweise gelesen hätte, würden sie seinem Verständnis nach wohl wenig an dem juristischen oder moralischen Fehlverhalten des Komponisten ändern, und selbstverständlich ist nicht zu leugnen, dass Volans das Copyright letztlich sich selbst bzw. seinem Verlag zugeschrieben hat, wie es eben die Praxis ist, wenn man im westlichen System Fuß fassen will und muss. Hatte Tracey ein Copyright auf seine Notation? Das wäre jedenfalls unüblich, da es sich nicht um Aufführungsmaterial handelte. Hätte Volans eine andere, eigene Transkription des traditionellen Stückes verwenden sollen oder dürfen, nachdem er es einmal mit Hilfe der Tracey'schen Analysen richtig verstanden hatte? Hätte er so clever sein müssen zu verleugnen, dass er den Zugang zur traditionellen Shona-Musik durch Tracey und einige andere Wissenschaftler bekommen hat? Oder wäre es im Prinzip das gleiche gewesen? Hätte er die fremde, bzw. ihm inzwischen durchaus vertraute Musik grundsätzlich nicht adaptieren dürfen, auch nicht mit eigenen Variationen versehen? Das Problem ist mehrfach und auf verschiedenen Ebenen behandelt worden, ich will es hier nicht abschließend beurteilen. Ich mag es aber auch nicht akzeptieren, dass das Stück "Mbira", eine wichtige Station auf dem Weg eines südafrikanischen Komponisten, von der Bildfläche verschwunden sein soll, nur weil es zu wenig eigene Noten enthält, während es zweifellos eine Idee und eine Wirkung entfaltet hat und hätte, die es ohne diese einmalige Konstellation zwischen den Welten nie gegeben hätte. Im Jahre 2008 erschien in Johannesburg eine neue Arbeit, die Dissertation von Thomas Mathew Pooley mit dem Titel "Composition in Crisis: Case Studies in South African Art Music 1980-2006"; das zweite von fünf Kapiteln darin ist überschrieben: "The 'revolutionary': Kevin Volans's 'African Paraphrases'".
Anders als Gerd Grupe findet Pooley immer wieder Worte, die dem Komponisten menschliche Integrität bescheinigen: Hier wird nicht das ehrliche Engagement für die musikalische Ästhetik und die Werte der afrikanischen Kulturen in Abrede gestellt.An anderer Stelle:This is not to deny his sincere engagement with the musical aesthetics and values of African cultures in the 'African Paraphrases'. "Trotz der guten Absichten des Komponisten" Aber was steht auf der andern Seite dieses Wörtchens "despite"? Dort steht des Komponisten Tendenz, von "westlicher Musik" zu sprechen, wenn er eine bestimmte westliche Kunstmusiktradition meint, und die afrikanische Musik mit "traditioneller Musik" zu identifizieren und die gleichfalls vorhandene populäre Musik auszuschließen, "because of its 'Westernized' state." (Pooley S. 40) Das ist also eine ganz andere Ebene, und so zu argumentieren ist gewissermaßen Pflichtübung geworden, seit der aus Ghana stammende Musikethnologe Kofi Agawu gewissermaßen als Stimme Afrikas und der nicht-westlichen Welt gehört wird. Die Strategie, europäische Praktiken zu entkomplizieren, um stattdessen die Besonderheit ("uniqueness") Afrikas zu vermitteln, beraube Afrika (ironischerweise) der vollen Partizipation an globalen kritischen Akten und ist gerade so konzipiert, "um Afrika aus dem Zentrum herauszuhalten" (Agawu 2003: chapter 7). Wohlgemerkt: Agawu bezieht sich nicht auf Volans, aber - so Pooley - man kann die Vereinfachung der westlichen Musik und die Infiltration eines afrikanischen Computer Virus in ähnlichem Licht sehen. Volans benutze die Transkriptionen, um eine Spannung zwischen Afrika und dem Westen darzustellen und anzureichern mit einer Sehnsucht nach einfacher, bedingungsloser Freude, wie er sie in der westlichen Kunstmusik des späten Serialismus so sehr vermisste.
Man muss diese Einwände wohl ernst nehmen, obwohl damit praktisch jede Initiative gelähmt ist. Geht es nicht in erster und letzter Linie um die konkrete MUSIK?
Ein paar Worte jedoch noch zum ökonomischen Faktor dieser interkulturellen Aktivitäten, die man ja auch als transkulturell bedeutsam im Sinne von Wolfgang Welsch hätte sehen können. Stattdessen wurde von Macht, Herrschaft und impliziten Werturteilen gesprochen. Fehlt noch das Geld.
"In Anbetracht des Erfolgs und der Popularität, deren sich die Musik von Volans erfreute, und in Anbetracht der Tatsache, dass ihm all dies finanziellen Gewinn einbrachte, erhebt sich die Frage, wie sind die Original-Komponisten (Interpreten) ausgebeutet worden?""Considering the success and popularity Volans' music has enjoyed and the fact that it has brought him monetary gain; the question arises, how have the original composers (performers) been exploited?" |
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