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Was wird von der Vielfalt bleiben?
Ein Vortrag über Globalisierung und musikalisches Bewusstsein von Jan Reichow
tff Rudolstadt 3. Juli 2005, Bibliothek, 11.00 Uhr
Die (hier auf Musik bezogene) Frage "Was wird von der Vielfalt bleiben?" scheint eine Sorge widerzuspiegeln, die sich bei vielen Phänomenen der Globalisierung einstellt: wird nun alles niedergewalzt, wird alles simpler, werden die regionalen Unterschiede ignoriert, werden wir auf Coca-Cola und Fastfood umgepolt? Oder wird unser Leben vielleicht auch rationaler, übersichtlicher, sinnvoller? Niemand verteidigt die neapolitanische Unordnung, die rumänische Müllkippe, das indische Dauer-Provisorium, aber wirklich schlimm sind nicht mal die Schlampigkeiten, sondern die halben Errungenschaften: z.B. die jeweils landestypische Bürokratie. Die kleinen, bestechlichen Beamten, die Polizisten-und Militär-Folklore, die lebensgefährlichen Bräuche im Straßenverkehr. Es ist wenig sinnvoll, in schwer definierbaren Allgemein-Begriffen zu diskutieren oder zu reflektieren: Globalisierung gehört dazu (sie hat viele Gesichter!), Weltmusik gehört auch dazu (es gibt gar keine "Weltmusik", ihre Existenz oder bevorstehende Konsolidierung wird lediglich behauptet, vorwiegend aus strategischen Gründen oder "um schon mal dazuzugehören", wenn's losgeht); auch das Wort "Vielfalt" sollte hinterfragt werden; z.B. ist eine Vielfalt von Dämonen nicht unbedingt begrüßenswerter als ein tüchtiger christlicher Teufel, der sich ja gegebenenfalls in das Böse schlechthin auflösen könnte.
Jedoch - da fängt's schon an: ist die streng regionale Küche nicht selten eine Arme-Leute-Küche? Schweizer Raclette z.B., ein einseitiges Gericht für Bauern und Holzfäller, das man gern vergisst, wenn man im Urlaub einmal mediterrane oder südchinesische Kost genossen hat?
Der Begriff Globalisierung kann aber auch zur Rechtfertigung von überregionalen und supranationalen Machtstrukturen dienen, die lieber von Rationalisierung als von Rationalität sprechen und vielleicht nur die Beseitigung von Ecken und Kanten meinen, - "überflüssige", widerständige Kunstprodukte, Bremsklötze, überhaupt alles, was nicht "wie geölt" läuft, was Zeit verliert, was im Milieu verharrt, was sich selbst genügt usw. Um beim positiven Begriff zu bleiben: ein erster Schritt in Richtung Globalisierung geschah in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die zweifellos aber auch eine Standardisierung der Bildung und der ästhetischen Vorstellungen zur Folge hatte. Es war ein folgenschwerer Schritt, wenn auch durchaus nicht der erste. Denken wir nur an die frühere, die größte und radikalste Globalisierung, die je stattgefunden hat und bis in den letzten Winkel der abendländischen Landkarte und aller Gehirne durchgesetzt worden ist: das Christentum.
1) Nagaswaram/Tavil im Hindu-Tempel in Sri Lanka (HV+JR) 1:38 Mit Blick auf Indien kann man sogar sagen, dass eigentlich alles, was dort eine sakrale Musikkultur ausmachte, im Abendland zum Inbegriff des Teuflischen gehörte: die Rhythmusinstrumente und der Tanz, ganz zu schweigen vom heiligen Emblem des tanzenden Gottes Shiva, vom flötespielenden Gott Krishna und seinen sinnenfrohen Gespielinnen. Was man im Abendland kultivierte, war zunächst einmal eine vollkommen entkörperlichte Musik, auch eine "Entflechtung von Wort und Ton" (Blaukopf), und das Paradoxe ist, dass diese Idee einer strengen, asketischen, meditativen Musik in Indien sozusagen zur Palette der Möglichkeiten gehörte, so dass eine gedankliche Verbindung durchaus plausibel erscheint. 2) Gregorianik & Sitar mit Ens. Gilles Binchois & Nishat Khan 2:22 Diese späte Rückversicherung sollte uns nicht darüber täuschen, dass die europäische Musik damals auf eine Reise ohne Wiederkehr geschickt wurde: ein Raumschiff, das abhob und den Rest der Welt nicht mehr hören konnte, nicht mehr wahrnahm. Ein Experiment sondergleichen, mit unerhörten Ausblicken und Entdeckungen, und seit dem Moment, wo sich diese Musik mit einer Notenschrift verband, "waren Neuerungen auf dem Gebiet der schriftlich fixierten Kunstmusik bald in beliebiger Schnelligkeit hervorzubringen, zu erfinden". Und alsbald "heulte der Motor der Kunstmusikneuerungen, völlig isoliert, immer höher auf." (Peter Schleuning S. 23) Ich möchte dieses Thema mit einem logisch daraus folgenden Hinweis abschließen: nicht die Inder, Araber, Indonesier sind die Exoten, sondern wir, die Insassen des Raumschiffes. Wir haben den Zugang zu Kulturen mit einer "normalen" Entwicklung verloren. Andererseits hat die Notenschrift dazu geführt, dass man schon um 1600 ohne größere Probleme ein in Hamburg niedergeschriebenes polyphones Werk auch in Sevilla aufführen konnte. Man kann also auch hier vom Beginn einer Globalisierung sprechen, in diesem Fall bezogen auf eine durchaus zweischneidige musikalische Errungenschaft, die Notenschrift, dann den Notendruck, durchaus vergleichbar der ersten massenmedialen Kommunikationstechnik, dem Buchdruck. So wird auch verständlich, was der amerikanische Soziologe John W. Meyer schreibt: "Es wird oft bemerkt (aber ebensooft auch vergessen), daß der kulturelle Rahmen des Westens aus der Entwicklung, Ausdehnung und Säkularisierung der hauptsächlich religiösen Modelle des westlichen Christentums hervorgegangen ist - eine durchgehende kulturelle Evolution, die sich bis in die Menschenrechtsbewegung der heutigen Zeit hinein fortsetzt."Das Christentum habe als missionarische religiöse Bewegung - so sagt er in merkwürdiger Untertreibung - zwar einige bescheidene Erfolge zu verbuchen gehabt, es habe aber "durch seine Umwandlung in Wissenschaft, Recht und rationalisierte Bildung eine unvergleichlich viel größere Hegemonie erreicht..."Man müsse erkennen, "daß die rationalisierte Moderne eine universalistische und ungeheuer erfolgreiche Form des früheren religiösen und postreligiösen westlichen Systems ist."Nicht umsonst trägt die deutsche Aufsatzsammlung des Soziologen den Titel: "Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen". Wie steht es aber nun mit der Weltmusik? Schon der Begriff macht misstrauisch: müsste da nicht ein Plural erscheinen? Erleben wir das nicht gerade hier in Rudolstadt? Ich halte es für eine sehr glückliche Entscheidung, dieses Festival nicht nur mit dem Wort "World Music" zu etikettieren, sondern auch "Roots" und "Folk" programmatisch einzubeziehen, während das Wort "Pop" fehlt. Es ist selbstverständlich, dass die Pop-Musik in aller Welt zur Kenntnis genommen wird: sie hat die kommerziellen Hebel in der Hand. Es ist aber sinnvoll und kein Zeichen von Rückständigkeit, wenn sie - ohnehin allgegenwärtig - in einem Festival des Besonderen bewusst ausgeklammert wird. Aber gerade bei einigen Ideologen der Weltmusik-Szene erfährt man, dass sie nichts anderes als Pop meinen und dass sie die imperiale Geste der Pop-Moderne zutiefst verinnerlicht haben, statt sie zu hinterfragen:"Weltmusik ist der Soundtrack der Globalisierung"Solange man mit derart allgemeinen Begriffen arbeitet, hat man eigentlich nichts ausgesagt, man hat nur den Anspruch der Allgemeingültigkeit angemeldet. Und der Adressat versteht, dass bei diesem Treck um die Welt alles niedergewalzt wird, was nicht amalgamierbar ist. Die Aversion der Globalista-Experten gegen Punktuelles, gegen Traditionen bzw. "Folklore" ist groß,- darauf müsste man sich ja lästigerweise einlassen -, ihre Walze heißt HipHop oder so ähnlich. Ich zitiere: "Alte Vorstellungen von authentischer Regionalität kleben in den Köpfen. Statt nach einer lebendigen Kultur zu suchen, wie sie sich z.B. in modernen Musiken wie HipHop oder Reggae zeigt, werden Rückbezüge auf alte Traditionen diskutiert." Jede missliebige Musik kann man also mit dem Attribut der Rückständigkeit belegen und erledigen. Ob ein Mey-Spieler aus einem kurdischen Dorf ernst genommen wird, hängt nicht von seiner Ernsthaftigkeit ab, sondern von der Gnade und dem zufälligen Bildungsgrad des externen Beobachters, der allerdings niemals seine eigene musikalische Begrenztheit ins Auge fassen würde, sondern immer - wie er meint- "die Musik selbst". Er drückt dies folgendermaßen aus: "Dass man hier beim Wort Weltmusik offenbar noch immer an Folklore denkt, sagt allerdings mehr über weit verbreitete Vorurteile aus als über die Musik selbst." Es ist selbstverständlich, dass man sich bei dem Wort "Folklore" nicht auf das bezieht, was z.B. Béla Bartók auf seinen Reisen durch Rumänien darunter verstand, sondern auf die eigenen Vorurteile, die sich allenfalls an staatlich geförderter Vorzeige- und Show-Folklore gebildet haben. Bemerkenswert ist aber die Sicherheit, mit der von lebendiger Kultur, modernen Musiken und weitverbreiteten Vorurteilen die Rede ist. "Alte Vorstellungen von authentischer Regionalität" - das klingt nicht anders als wenn Rumsfeld vom "alten Europa" spricht, das sich im Gegensatz zum "neuen" als nicht gefügig und subsumierbar erwies, und diese "alten Vorstellungen kleben in den Köpfen"; das Wort "kleben" diffamiert jegliches Beharrungsvermögen, jede Beständigkeit: Kann man denn nicht nachvollziehen, wie sehr manche Leute an ihrer Heimat kleben, bevor sie sich zur Flucht entschließen? Leute, die gar nicht wissen und wissen wollen, dass allenthalben moderne Mobilität angesagt ist und in fernen Großstädten schon die Multi-Kulti-Diskotheken auf sie warten?! Heimat ist erst dann wieder akzeptiert, wenn sie ein Revival erlebt, z.B. eingebettet in die Musik einer englischen Reggae-Band: "Wer sind denn diese rührenden Bauern da in der Mitte?" Eine polnische Musikerfamilie aus der Hohen Tatra? Nichts wie hin! Das ist ja hip. Man klammert sich an die Popmusik bzw. an eine von der Mainstream-Popmusik sich absetzende Farbe, eine scheinbare Alternative zur Popmusik, die aber nach ganz ähnlichen Gesetzen funktionieren soll. Der übergreifende, zusammenfassende, kommerzielle Erfolg gilt selbstverständlich als Siegel ihrer Existenzberechtigung. Die Tilgung des Plurals scheint Programm zu sein: Auch dort und gerade dort, wo die Trackliste einer CD möglichst viele Punkte des ganzen Globus präsentiert, verkündet der Obertitel das scheinbar treuherzige generelle Anliegen: "The music of one world" und liefert als Begründung: "Es gibt eine Sprache, die weltweit verstanden wird. Musik, ganz besonders die nahe beim Herzschlag angesiedelten Rhythmen, verbindet alle Völker dieser Erde. Melodien und Harmonien mögen exotisch klingen - aber der Globus schwingt, kaum legt der Takt los. Infizierende Sambatrommeln in Brasiliens Karneval und hämmernde Techno-Beats in europäischen Discos sind Verwandte im Geiste, ihr gemeinsamer Spirit aus Spaß und Expressivität schafft magische Erlebnisse." Den Puls der Musik mit dem Herzschlag in Verbindung zu bringen, klingt plausibel, ist aber höchst fragwürdig: wir wissen, wie anpassungsfähig sich unser Herz bei Anstrengung und Aufregung verhält, während doch fast alle Tänze und überhaupt jegliche rhythmisch gegliederte Musik ein unbeirrbar gleichmäßiges Tempo bevorzugen, dessen Konstanz gerade zur Faszination gehört, zur angestrebten Stilisierung, Überhöhung des "Natürlichen". Wir wissen allerdings auch, dass der schiere Beat gerade bei den besonders rhythmuskundigen Kulturen wie den westafrikanischen mit Vorliebe gerade nicht im Vordergrund steht, sondern regelrecht verschleiert wird, es genügt ihn zu denken, und die Lebendigkeit liegt nicht im Beat, sondern im ganzen Gewebe der Rhythmen, die nur von fern mit einem durchgehenden Beat korrespondieren. Ein Trommelvirtuose aus Guinea wundert sich über die Beat-Besessenheit der Europäer, die jedoch auf seine Rhythmen überhaupt nicht zu tanzen wüssten; sie sind ja schon stolz, wenn sie einen Vierertakt nicht mehr auf 1 und 3 mitschlagen, sondern auf 2 und 4.
3) Rhythmen der Malinke Tr. 2 "Balakulania" (im Tutti) 1:43 Tja... wo ist der Beat? So kann man die Musik doch nicht als Weltmusik verkaufen. Mag sein, dass auch hier "der Globus schwingt", aber wenn wir nicht sofort mitmachen können, hat es dann etwa keinen Wert?! Wenn wir uns von einem Malinke erklären lassen müssen, wie man bis 4 zählt, nämlich folgendermaßen: 4) Rhythmen der Malinke Tr. 2 "Balakulania" (ab Anfang allmählicher Einstieg) 2:03 Übrigens: der Malinke zählt nicht, er denkt in plastischen Figuren oder Rhythmusformeln. Aber finden Sie erstmal einen Malinke, der Ihnen das erklärt, und beim nächsten Tanz liegt der Fall doch wieder anders, und beim übernächsten wieder anders, - "müssen die eigentlich so viele Tänze haben?" - Fazit: ich kann unmöglich nach einer auch nur flüchtigen Begegnung weiter behaupten: "Es gibt eine Sprache, die weltweit verstanden wird. Musik, ganz besonders die nahe beim Herzschlag angesiedelten Rhythmen, verbindet alle Völker dieser Erde." Auch die großen indischen Rhythmusspezialisten, die sehr kommunikativ sind, fühlen sich nicht dazu berufen, uns zum Tanzen zu bringen: sie bringen uns zum Staunen, wie komplex die rhythmische Welt ist. Und auch der gleichmäßige Reela-Rhythmus imitiert ursprünglich nicht den Herzschlag, sondern das "Railway"-Erlebnis, die Eisenbahn, kann aber auch der Charakteristik des Regens, eines trabenden Pferdes oder einer Dampfmaschine dienen, - vielen Dingen, nur nicht der Stimulierung eines tanzfreudigen Mitteleuropäers. 5) Zakir Hussain Teental "Reela" Tr. 3 ab 26:52 bis 29:01 2:12 Meine Empfehlung ist natürlich nicht, vor der Vielfalt zu kapitulieren und jetzt nur noch die großen Meister zu bestaunen.
Ich habe einmal erlebt, wie haitianische Trommler, ganz hervorragende Rhythmiker, bei der Nachfeier eines Festivals versuchten und es nicht fertigbrachten, mit einem bulgarischen Ensemble zusammenzuspielen. Sie packten den asymmetrischen Takt nicht, einen Siebener, Elfer oder Dreizehner. Überrascht verlegten sie sich aufs Zuhören. Ich hoffe nicht, dass ich mich hier beim Tanz&Folkfest Rudolstadt allzu unbeliebt mache, wenn ich einfach mal dafür plädiere, die Qualität einer Musik nicht nach ihrer Tanzbarkeit einzuschätzen.
Es ist ja geradezu Mode geworden, alles, wozu sich tanzen lässt, per se gut zu finden, und wenn es sich absolut nicht zum Mitbewegen eignet, wird es wohl zur Meditation gedacht sein. Das Tanz-Diktat geht so weit, dass ich schon die Forderung nach einem "tanzbaren Hörspiel" im Radio gehört habe.
Was nicht tanzbar ist, muss wohl ein Intro sein, - man wartet auf den Beat.
Wenn er ganz und gar fehlt, wird es wohl um Wellness oder Meditation gehen...
Ich spreche wieder nicht vom Tanzen, sondern auch vom Arbeiten, Lernen, Lesen, und auch aufmerksames Zuhören gehört dazu.
Das Globalista-Gerede von One World, dieser scheinheilig menschenfreundliche Anspruch auf globale Verfügungsbefugnis: man spricht nur pro forma von Menschen und Musikern, um so eindeutiger von Plattenläden, von Import-Export, und letztlich vom eigenen Studio (einer Art Kommandozentrale), vom großen Mix aller Popkulturen in einer einzigen supercoolen Sendung; das suggeriert die ultimative Weltoffenheit, wenn "die Andersartigkeit einer Kultur aufblitzt", so lese ich, und erst "dieses Aufblitzen" gebe "einen Blick über die eigene Welt hinaus frei", heißt es weiter (Rutledge a.a.O.). Mehr als ein Blitz soll es nach Möglichkeit nicht sein, denn das Unpraktische an einer wirklich fremden Musik ist, dass sie dauert und dauert: nur per CD kann man dafür sorgen, dass sie angemessen schnell vorüberblitzt. Wenn aber von diesen großen Farb-Mischungen die Rede ist, dann klingt das häufig so, als sei hier eine Riesen-Toleranz am Werk. Dabei gibt es eher Anlass zu dem Verdacht, dass die Einzelfarbe genau damit erledigt sein soll.
Gut, könnte jemand entgegnen, geschenkt, Kunstmusik ist in der Tat eine Welt für sich, die klammern wir aus, da muss man ja eine regelrechte Schulung durchlaufen. Was für ein Klotz am Bein! Das ist ja gerade der Grund, weshalb wir uns in erster Linie auf Pop-Musik beziehen und deren "spektrale" Erweiterung durch Worldmusic propagieren. Als ob nicht klar wäre, was damit gemeint ist, - World Music wird zu Pop-Musik, wenn sie von cleveren Managern vorübergehend dazu erklärt wird, wenn sie die passenden Erkennungsmerkmale zeigt, vermarktet werden kann und sich entsprechend verkauft.
Und jetzt kommt ein wichtiger Satz: das ist kein Einwand gegen den Blues, auch nicht gegen einen Pop-Song; nur: diese Überheblichkeit in Sachen Pop und sogenannter "Moderne" hat keine Grundlagen. Dies ist eine Grundlage: 6) BACH Wohltemp.Clavier I Tr. 1 Praeludium C-dur 2:15 Sie wissen, dass schon der Romantiker Charles Gounod genau dieses Praeludium als Schema eines Pop-Songs verwendet hat; Bach kannte natürlich nicht nur dieses Akkord-Schema, sondern zahllose andere. (Im Grunde schon in jedem Choral ablesbar.)
7) Raga Ahir Bhairav: Pandit Jasraj singt Alap "Mangalam" 3:00 Aus diesem Zentrum heraus entwickelt sich ALLES, selbst eine spätere, sehr heftige Bewegung durch alle Räume bleibt immer orientiert an diesem Grundklang. Wer das vorschnell als geistige Unbeweglichkeit bezeichnet, sollte sich erinnern, dass auch die dynamischsten Jungunternehmer in ihren Räumen waagerechte Fußböden, senkrechte Wände, ebene Tische und gerade Stuhlflächen bevorzugen, selbst wenn sie auf glatten Papierflächen oder flächigen Bildschirmen sehr revolutionäre Skizzen entwerfen. Es gibt auch in Rudolstadt keinen Tanzworkshop, der in einem hügelig und wellig gestalteten Raum stattfindet. Man braucht die räumliche Grundtonfläche. Trotzdem kann man daraus natürlich kein Argument gegen die abendländische Musik ableiten: sie ist wie sie ist und wie sie werden musste.
Indische Musik ist natürlich nicht die einzige große Alternative: es wäre auch erhellend, der europäischen Kunstmusik statt der indischen die indonesische Gamelan-Musik gegenüberzustellen oder etwa die großen Modelle der Mbira-Musik Zimbabwes usw. Aber das wären ein paar Kapitel für sich. Wir waren beim Bordun. Richard Wagners Oper Das Rheingold beginnt mit einem großen Grundtonklang Es-dur; der dem Meere abgelauschte Urklang dauert genau 4 Minuten 11 Sekunden und ist natürlich nicht mit seiner Funktion in der indischen Musik vergleichbar, da er sofort als Ausnahmezustand spürbar ist, wie der Urnebel am Anfang der Neunten von Beethoven oder in den Bruckner-Sinfonien: die dann folgende, harmonisch differenzierte Entfaltung gehört zum Erwartungshorizont des Zuhörers. Der indische Erwartungshorizont aber würde in sich zusammenbrechen, wenn der in 2 oder 5 Minuten aufgebaute Grundtonbereich instabil würde, wenn das Fundament in Bewegung geriete. Der weiteren Entfaltung der Melodik wäre der Boden entzogen. Sie bemerken, dass ich nicht mehr nur von der Musik rede, sondern vom Erwartungshorizont. Dies Wort ist eigentlich zu weich.
Natürlich gibt es auch Methoden, die einander nicht ausschließen, sondern vielleicht sogar ergänzen; sie laden zu einer Kombination ein oder zu einer Fusion: denken Sie nur an die Oper. (Aber das ist bereits ein umstrittener Fall: der ewige Streit um das Primat zwischen Wort und Musik, um den Rang des Bühnenbildes und der Regie.) Jedenfalls haben wir jetzt das angemessene heuristische Wort: Methode.
Ich stütze mich dabei auf eine Vorgabe, die ich zuerst 1981 entwickelt habe, dann in einem Vortrag 2004 differenziert habe und heute wieder etwas verändert habe: Methoden des Hörens, wobei ich die klassische Musikgeschichte des Abendlandes auf die Methode des Kadenzhörens reduziere. Wenn Sie die Logik der Akkordfolge einer harmonischen Kadenz verinnerlicht haben, verfügen Sie über den Schlüssel der Musik von sagen wie 1600 bis 1920, oder - wenn Sie die Popular- und Popmusik, die dabei geblieben ist, einbeziehen - bis heute.
Mir schien es deshalb richtig, diese Unterschiede zunächst zu ignorieren und das Abendland gewissermaßen auf die Kadenz zu reduzieren, um Grundeinstellungen zu finden, Methoden des Hörens, und ich vermutete ursprünglich, dass es eine ziemlich überschaubare Zahl gibt, 5 bis 8 etwa, aber bei neuerlichem Überlegen kam ich zu einer größeren Zahl, und sicherlich werden Sie meine Liste auch nicht unbedingt für erschöpfend halten. Die abendländische Kadenz werden Sie als Methode VI finden.
Ob unsere Liste nun vollständig ist oder nicht, - man muss sich darüber klar sein, dass die Methoden niemandem wie eine Palette zur Verfügung stehen, bisweilen schließt eine die andere aus. Und jede Methode lässt sich unendlich erweitern, indem sie in den Hintergrund tritt zugunsten der symbolischen Befrachtung all ihrer musikalischen Bestandteile; die Methode XI (symbolische Methode) kann also mit jeder anderen eine enge Verbindung eingehen und dabei unzählige neue Stile entstehen lassen, das kann mit dem Text zu tun haben, mit textgenerierten Gliederungen, rezitativartigen Tonfolgen, aber auch mit dem Auf und Ab der Musik selbst, mit ihren Bewegungen, Klangfarben, Figuren, Verknüpfungen, bedingten Reflexen, früh eingeübten Assoziationen. Möglicherweise ist sie ausschließlich auf der symbolische Ebene voll zu verstehen: die Töne bedeuten etwas - über ihr schieres Erklingen hinaus.
Nehmen wir Rudolstadt als Beispiel: wenn ich recht sehe, sind wir hier in diesem Jahr - rein musikalisch - mit drei Methoden ausgekommen, nämlich Nr. VI (Kadenz), Nr. II (Melodiemodell) und Nr. I (Bordun), [II + I: The Chieftains, der indische Tanz und z.T. Kardesh Türküler], - wobei es Ihnen natürlich unbenommen ist, durch die Stadt zu gehen und permanent die letzte Methode anzuwenden. Auch im Restaurant oder hier in der Bibliothek, indem Sie mir gar nicht inhaltlich folgen, sondern das Rascheln der Füße, entfernte Stimmen, die Autos von draußen, Glocken o.ä. viel interessanter finden. Ich versuche ein Fazit:
Förderung bestünde in der Auseinandersetzung mit den Fragen:
© Dr.Jan Reichow 2005 |
Textnachweise bzw. Literaturhinweise
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