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Was wird von der Vielfalt bleiben?
Ein Vortrag über Globalisierung und musikalisches Bewusstsein

von Jan Reichow
tff Rudolstadt 3. Juli 2005, Bibliothek, 11.00 Uhr

Die (hier auf Musik bezogene) Frage "Was wird von der Vielfalt bleiben?" scheint eine Sorge widerzuspiegeln, die sich bei vielen Phänomenen der Globalisierung einstellt: wird nun alles niedergewalzt, wird alles simpler, werden die regionalen Unterschiede ignoriert, werden wir auf Coca-Cola und Fastfood umgepolt? Oder wird unser Leben vielleicht auch rationaler, übersichtlicher, sinnvoller? Niemand verteidigt die neapolitanische Unordnung, die rumänische Müllkippe, das indische Dauer-Provisorium, aber wirklich schlimm sind nicht mal die Schlampigkeiten, sondern die halben Errungenschaften: z.B. die jeweils landestypische Bürokratie. Die kleinen, bestechlichen Beamten, die Polizisten-und Militär-Folklore, die lebensgefährlichen Bräuche im Straßenverkehr.

Es ist wenig sinnvoll, in schwer definierbaren Allgemein-Begriffen zu diskutieren oder zu reflektieren: Globalisierung gehört dazu (sie hat viele Gesichter!), Weltmusik gehört auch dazu (es gibt gar keine "Weltmusik", ihre Existenz oder bevorstehende Konsolidierung wird lediglich behauptet, vorwiegend aus strategischen Gründen oder "um schon mal dazuzugehören", wenn's losgeht); auch das Wort "Vielfalt" sollte hinterfragt werden; z.B. ist eine Vielfalt von Dämonen nicht unbedingt begrüßenswerter als ein tüchtiger christlicher Teufel, der sich ja gegebenenfalls in das Böse schlechthin auflösen könnte.
Und wie ist es mit dem Regionalen? Können wir davon wirklich nichts entbehren? Ist alles einmalig? In Einzelfällen ist es klar: auf hinterweltlerische Vorurteile können wir verzichten, auf Aberglauben, Spökenkiekerei und dümmliche Spruchweisheiten wie "Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Volksgenossen".
Aber das "Heimatgefühl" sollte doch bleiben, der schräge Holzanbau, in dem das Kind seine Kaninchen halten durfte, der Bach, der Teich, die Werkstatt des Bastlers, die "Pflaumen und Klöße", die nur Tante Bertha kochen konnte.

Jedoch - da fängt's schon an: ist die streng regionale Küche nicht selten eine Arme-Leute-Küche? Schweizer Raclette z.B., ein einseitiges Gericht für Bauern und Holzfäller, das man gern vergisst, wenn man im Urlaub einmal mediterrane oder südchinesische Kost genossen hat?
Das Gegenteil der regionalen Küche muss durchaus nicht Fast-Food sein, es könnte schlicht die Ausweitung des Speisezettels zu frugaler und kulinarischer Vielfalt bedeuten.
Globalisierung kann Erweiterung des Horizontes bedeuten, Übersicht, fortschreitende Rationalität, Aufklärung, Abbau der selbstverschuldeten oder staatlich gelenkten intellektuellen Unmündigkeit und ein vielseitig begründetes Weltbild.

Der Begriff Globalisierung kann aber auch zur Rechtfertigung von überregionalen und supranationalen Machtstrukturen dienen, die lieber von Rationalisierung als von Rationalität sprechen und vielleicht nur die Beseitigung von Ecken und Kanten meinen, - "überflüssige", widerständige Kunstprodukte, Bremsklötze, überhaupt alles, was nicht "wie geölt" läuft, was Zeit verliert, was im Milieu verharrt, was sich selbst genügt usw.

Um beim positiven Begriff zu bleiben: ein erster Schritt in Richtung Globalisierung geschah in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die zweifellos aber auch eine Standardisierung der Bildung und der ästhetischen Vorstellungen zur Folge hatte. Es war ein folgenschwerer Schritt, wenn auch durchaus nicht der erste.

Denken wir nur an die frühere, die größte und radikalste Globalisierung, die je stattgefunden hat und bis in den letzten Winkel der abendländischen Landkarte und aller Gehirne durchgesetzt worden ist: das Christentum.
Etwas Vergleichbares hat es z.B. in Indien, einer durch und durch von Religion geprägten Kultur, nicht gegeben, etwa ein autoritär geleitetes organisatorisches Netzwerk des Hinduismus, mit einem hinduistischen Papst in Benares, - undenkbar. Es gab und gibt unzählige Tempel, Kultstätten, Heiligtümer, - aber eben jedes für sich.
Die vereinheitlichende Organisation des Christentums, genauer der katholischen Kirche, hatte weitreichende Folgen. Unter anderem eine völlige Neuorganisation der musikalischen Systems der Christenheit, man könnte auch sagen, der menschlichen Musikalität im Herrschaftsbereich der Kirche. Es gibt zahllose Zeugnisse des Kampfes der Kirche gegen die Volksmusik, gegen den Tanz und gegen die Instrumente, die ihm zugeordnet sind. "Die Tänzer bilden einen Kreis, in dessen Mitte der Teufel sitzt."
"Wo die Auleten sind, da ist Christus nie und nimmer."
Den Aulos können wir uns gern als indische Shannai oder Nagaswaram vorstellen.

1) Nagaswaram/Tavil im Hindu-Tempel in Sri Lanka (HV+JR) 1:38

Mit Blick auf Indien kann man sogar sagen, dass eigentlich alles, was dort eine sakrale Musikkultur ausmachte, im Abendland zum Inbegriff des Teuflischen gehörte: die Rhythmusinstrumente und der Tanz, ganz zu schweigen vom heiligen Emblem des tanzenden Gottes Shiva, vom flötespielenden Gott Krishna und seinen sinnenfrohen Gespielinnen.

Was man im Abendland kultivierte, war zunächst einmal eine vollkommen entkörperlichte Musik, auch eine "Entflechtung von Wort und Ton" (Blaukopf), und das Paradoxe ist, dass diese Idee einer strengen, asketischen, meditativen Musik in Indien sozusagen zur Palette der Möglichkeiten gehörte, so dass eine gedankliche Verbindung durchaus plausibel erscheint.

2) Gregorianik & Sitar mit Ens. Gilles Binchois & Nishat Khan 2:22
Meeting of Angels Tr. 3 "Statuit ei Dominus" Amiata ARNR 1096

Diese späte Rückversicherung sollte uns nicht darüber täuschen, dass die europäische Musik damals auf eine Reise ohne Wiederkehr geschickt wurde: ein Raumschiff, das abhob und den Rest der Welt nicht mehr hören konnte, nicht mehr wahrnahm. Ein Experiment sondergleichen, mit unerhörten Ausblicken und Entdeckungen, und seit dem Moment, wo sich diese Musik mit einer Notenschrift verband, "waren Neuerungen auf dem Gebiet der schriftlich fixierten Kunstmusik bald in beliebiger Schnelligkeit hervorzubringen, zu erfinden". Und alsbald "heulte der Motor der Kunstmusikneuerungen, völlig isoliert, immer höher auf." (Peter Schleuning S. 23)

Ich möchte dieses Thema mit einem logisch daraus folgenden Hinweis abschließen: nicht die Inder, Araber, Indonesier sind die Exoten, sondern wir, die Insassen des Raumschiffes. Wir haben den Zugang zu Kulturen mit einer "normalen" Entwicklung verloren. Andererseits hat die Notenschrift dazu geführt, dass man schon um 1600 ohne größere Probleme ein in Hamburg niedergeschriebenes polyphones Werk auch in Sevilla aufführen konnte. Man kann also auch hier vom Beginn einer Globalisierung sprechen, in diesem Fall bezogen auf eine durchaus zweischneidige musikalische Errungenschaft, die Notenschrift, dann den Notendruck, durchaus vergleichbar der ersten massenmedialen Kommunikationstechnik, dem Buchdruck.

So wird auch verständlich, was der amerikanische Soziologe John W. Meyer schreibt:

"Es wird oft bemerkt (aber ebensooft auch vergessen), daß der kulturelle Rahmen des Westens aus der Entwicklung, Ausdehnung und Säkularisierung der hauptsächlich religiösen Modelle des westlichen Christentums hervorgegangen ist - eine durchgehende kulturelle Evolution, die sich bis in die Menschenrechtsbewegung der heutigen Zeit hinein fortsetzt."
(John W. Meyer S. 51 f)
Das Christentum habe als missionarische religiöse Bewegung - so sagt er in merkwürdiger Untertreibung - zwar einige bescheidene Erfolge zu verbuchen gehabt, es habe aber
"durch seine Umwandlung in Wissenschaft, Recht und rationalisierte Bildung eine unvergleichlich viel größere Hegemonie erreicht..."
(Meyer a.a.O. S.59)
Man müsse erkennen,
"daß die rationalisierte Moderne eine universalistische und ungeheuer erfolgreiche Form des früheren religiösen und postreligiösen westlichen Systems ist."
(Meyer a.a.O. S. 131)
Nicht umsonst trägt die deutsche Aufsatzsammlung des Soziologen den Titel: "Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen".



Wie steht es aber nun mit der Weltmusik? Schon der Begriff macht misstrauisch: müsste da nicht ein Plural erscheinen? Erleben wir das nicht gerade hier in Rudolstadt? Ich halte es für eine sehr glückliche Entscheidung, dieses Festival nicht nur mit dem Wort "World Music" zu etikettieren, sondern auch "Roots" und "Folk" programmatisch einzubeziehen, während das Wort "Pop" fehlt. Es ist selbstverständlich, dass die Pop-Musik in aller Welt zur Kenntnis genommen wird: sie hat die kommerziellen Hebel in der Hand. Es ist aber sinnvoll und kein Zeichen von Rückständigkeit, wenn sie - ohnehin allgegenwärtig - in einem Festival des Besonderen bewusst ausgeklammert wird.

Aber gerade bei einigen Ideologen der Weltmusik-Szene erfährt man, dass sie nichts anderes als Pop meinen und dass sie die imperiale Geste der Pop-Moderne zutiefst verinnerlicht haben, statt sie zu hinterfragen:
"Weltmusik ist der Soundtrack der Globalisierung"
(Christoph Borkowsky, nach Daniel Bax).
Solange man mit derart allgemeinen Begriffen arbeitet, hat man eigentlich nichts ausgesagt, man hat nur den Anspruch der Allgemeingültigkeit angemeldet. Und der Adressat versteht, dass bei diesem Treck um die Welt alles niedergewalzt wird, was nicht amalgamierbar ist.

Die Aversion der Globalista-Experten gegen Punktuelles, gegen Traditionen bzw. "Folklore" ist groß,- darauf müsste man sich ja lästigerweise einlassen -, ihre Walze heißt HipHop oder so ähnlich. Ich zitiere:

"Alte Vorstellungen von authentischer Regionalität kleben in den Köpfen. Statt nach einer lebendigen Kultur zu suchen, wie sie sich z.B. in modernen Musiken wie HipHop oder Reggae zeigt, werden Rückbezüge auf alte Traditionen diskutiert."
(Rutledge "globalista" S.2)

Jede missliebige Musik kann man also mit dem Attribut der Rückständigkeit belegen und erledigen. Ob ein Mey-Spieler aus einem kurdischen Dorf ernst genommen wird, hängt nicht von seiner Ernsthaftigkeit ab, sondern von der Gnade und dem zufälligen Bildungsgrad des externen Beobachters, der allerdings niemals seine eigene musikalische Begrenztheit ins Auge fassen würde, sondern immer - wie er meint- "die Musik selbst". Er drückt dies folgendermaßen aus:

"Dass man hier beim Wort Weltmusik offenbar noch immer an Folklore denkt, sagt allerdings mehr über weit verbreitete Vorurteile aus als über die Musik selbst."
(Daniel Bax)

Es ist selbstverständlich, dass man sich bei dem Wort "Folklore" nicht auf das bezieht, was z.B. Béla Bartók auf seinen Reisen durch Rumänien darunter verstand, sondern auf die eigenen Vorurteile, die sich allenfalls an staatlich geförderter Vorzeige- und Show-Folklore gebildet haben.

Bemerkenswert ist aber die Sicherheit, mit der von lebendiger Kultur, modernen Musiken und weitverbreiteten Vorurteilen die Rede ist. "Alte Vorstellungen von authentischer Regionalität" - das klingt nicht anders als wenn Rumsfeld vom "alten Europa" spricht, das sich im Gegensatz zum "neuen" als nicht gefügig und subsumierbar erwies, und diese "alten Vorstellungen kleben in den Köpfen"; das Wort "kleben" diffamiert jegliches Beharrungsvermögen, jede Beständigkeit: Kann man denn nicht nachvollziehen, wie sehr manche Leute an ihrer Heimat kleben, bevor sie sich zur Flucht entschließen? Leute, die gar nicht wissen und wissen wollen, dass allenthalben moderne Mobilität angesagt ist und in fernen Großstädten schon die Multi-Kulti-Diskotheken auf sie warten?!

Heimat ist erst dann wieder akzeptiert, wenn sie ein Revival erlebt, z.B. eingebettet in die Musik einer englischen Reggae-Band: "Wer sind denn diese rührenden Bauern da in der Mitte?" Eine polnische Musikerfamilie aus der Hohen Tatra? Nichts wie hin! Das ist ja hip.

Man klammert sich an die Popmusik bzw. an eine von der Mainstream-Popmusik sich absetzende Farbe, eine scheinbare Alternative zur Popmusik, die aber nach ganz ähnlichen Gesetzen funktionieren soll. Der übergreifende, zusammenfassende, kommerzielle Erfolg gilt selbstverständlich als Siegel ihrer Existenzberechtigung. Die Tilgung des Plurals scheint Programm zu sein: Auch dort und gerade dort, wo die Trackliste einer CD möglichst viele Punkte des ganzen Globus präsentiert, verkündet der Obertitel das scheinbar treuherzige generelle Anliegen: "The music of one world" und liefert als Begründung:

"Es gibt eine Sprache, die weltweit verstanden wird. Musik, ganz besonders die nahe beim Herzschlag angesiedelten Rhythmen, verbindet alle Völker dieser Erde. Melodien und Harmonien mögen exotisch klingen - aber der Globus schwingt, kaum legt der Takt los. Infizierende Sambatrommeln in Brasiliens Karneval und hämmernde Techno-Beats in europäischen Discos sind Verwandte im Geiste, ihr gemeinsamer Spirit aus Spaß und Expressivität schafft magische Erlebnisse."

Den Puls der Musik mit dem Herzschlag in Verbindung zu bringen, klingt plausibel, ist aber höchst fragwürdig: wir wissen, wie anpassungsfähig sich unser Herz bei Anstrengung und Aufregung verhält, während doch fast alle Tänze und überhaupt jegliche rhythmisch gegliederte Musik ein unbeirrbar gleichmäßiges Tempo bevorzugen, dessen Konstanz gerade zur Faszination gehört, zur angestrebten Stilisierung, Überhöhung des "Natürlichen".

Wir wissen allerdings auch, dass der schiere Beat gerade bei den besonders rhythmuskundigen Kulturen wie den westafrikanischen mit Vorliebe gerade nicht im Vordergrund steht, sondern regelrecht verschleiert wird, es genügt ihn zu denken, und die Lebendigkeit liegt nicht im Beat, sondern im ganzen Gewebe der Rhythmen, die nur von fern mit einem durchgehenden Beat korrespondieren.

Ein Trommelvirtuose aus Guinea wundert sich über die Beat-Besessenheit der Europäer, die jedoch auf seine Rhythmen überhaupt nicht zu tanzen wüssten; sie sind ja schon stolz, wenn sie einen Vierertakt nicht mehr auf 1 und 3 mitschlagen, sondern auf 2 und 4.
Der Simplizität dieser rhythmischen Vorstellung folgend, kommen sie - hiphop - zu dem Schluss, dass man Rhythmen der Völker, die sich wirklich darauf verstehen, in der sogenannten Weltmusik nicht brauchen kann. Man muss sie einfach nur "Folklore" nennen!

3) Rhythmen der Malinke Tr. 2 "Balakulania" (im Tutti) 1:43
"Guinea" Museum Collection Berlin CD 18 (Analysen: Johannes Beer)

Tja... wo ist der Beat? So kann man die Musik doch nicht als Weltmusik verkaufen. Mag sein, dass auch hier "der Globus schwingt", aber wenn wir nicht sofort mitmachen können, hat es dann etwa keinen Wert?! Wenn wir uns von einem Malinke erklären lassen müssen, wie man bis 4 zählt, nämlich folgendermaßen:

4) Rhythmen der Malinke Tr. 2 "Balakulania" (ab Anfang allmählicher Einstieg) 2:03

Übrigens: der Malinke zählt nicht, er denkt in plastischen Figuren oder Rhythmusformeln. Aber finden Sie erstmal einen Malinke, der Ihnen das erklärt, und beim nächsten Tanz liegt der Fall doch wieder anders, und beim übernächsten wieder anders, - "müssen die eigentlich so viele Tänze haben?" - Fazit: ich kann unmöglich nach einer auch nur flüchtigen Begegnung weiter behaupten: "Es gibt eine Sprache, die weltweit verstanden wird. Musik, ganz besonders die nahe beim Herzschlag angesiedelten Rhythmen, verbindet alle Völker dieser Erde."

Auch die großen indischen Rhythmusspezialisten, die sehr kommunikativ sind, fühlen sich nicht dazu berufen, uns zum Tanzen zu bringen: sie bringen uns zum Staunen, wie komplex die rhythmische Welt ist. Und auch der gleichmäßige Reela-Rhythmus imitiert ursprünglich nicht den Herzschlag, sondern das "Railway"-Erlebnis, die Eisenbahn, kann aber auch der Charakteristik des Regens, eines trabenden Pferdes oder einer Dampfmaschine dienen, - vielen Dingen, nur nicht der Stimulierung eines tanzfreudigen Mitteleuropäers.

5) Zakir Hussain Teental "Reela" Tr. 3 ab 26:52 bis 29:01 2:12
Tabla & Sarangi VIRTUOSO Z.Hussain & Sultan Khan Chhanda Dhara SNCD 70495

Meine Empfehlung ist natürlich nicht, vor der Vielfalt zu kapitulieren und jetzt nur noch die großen Meister zu bestaunen.
Aber man muss auch nicht bei jeder guten Sache die Forderung erheben: Ich will einbezogen sein, warum kann der mir nicht auch ein Trömmelchen geben, ich will mich einbringen. Wenigstens tanzen...
Nein! "Hört doch einfach mal zu!"

Ich habe einmal erlebt, wie haitianische Trommler, ganz hervorragende Rhythmiker, bei der Nachfeier eines Festivals versuchten und es nicht fertigbrachten, mit einem bulgarischen Ensemble zusammenzuspielen. Sie packten den asymmetrischen Takt nicht, einen Siebener, Elfer oder Dreizehner. Überrascht verlegten sie sich aufs Zuhören.

Ich hoffe nicht, dass ich mich hier beim Tanz&Folkfest Rudolstadt allzu unbeliebt mache, wenn ich einfach mal dafür plädiere, die Qualität einer Musik nicht nach ihrer Tanzbarkeit einzuschätzen. Es ist ja geradezu Mode geworden, alles, wozu sich tanzen lässt, per se gut zu finden, und wenn es sich absolut nicht zum Mitbewegen eignet, wird es wohl zur Meditation gedacht sein. Das Tanz-Diktat geht so weit, dass ich schon die Forderung nach einem "tanzbaren Hörspiel" im Radio gehört habe.
Es wird noch dazu kommen, dass man von uns verlangt, getanzte Gespräche zu führen. Oder einen Vortrag zu tanzen ... (ich suche schon mal eine gute Choreographin!).

Was nicht tanzbar ist, muss wohl ein Intro sein, - man wartet auf den Beat. Wenn er ganz und gar fehlt, wird es wohl um Wellness oder Meditation gehen...
Meditation ist allerdings auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Oder gar Entspannung; danach verlangen immer mehr Leute, die nur verspannt sind, die sich aber nie angespannt haben.
In Heimbach in der Eifel gibt es ein wunderbares Kammermusik-Festival, das nicht mit dem Nebeneffekt Wellness und Entspannung lockt: ganz frech nennt es sich: "Spannungen".
Entspannung ist gut, man muss aber eben auch fragen: wozu? Sicher nicht um am Ende vollends zu sterben, sondern um sich anschließend wieder sinnvoll anzuspannen, nicht wahr? Irgendwann ist man ja auch gut ausgeschlafen, besser als "gut" geht nicht, dann muss man also etwas tun, eventuell sogar unter Anspannung all seiner Kräfte. Bis zur Erschöpfung.

Ich spreche wieder nicht vom Tanzen, sondern auch vom Arbeiten, Lernen, Lesen, und auch aufmerksames Zuhören gehört dazu.
Im Ernst:
gerade in diesem Punkt möchte ich für die Respektierung der Vielfalt plädieren: denn nicht nur die Bewegung, auch das Sitzen ist eine großartige Erfindung, - lesen, nachdenken, Musik hören... Schweigen ist gut, reden ist auch gut, je nach Inhalt. (Silber & Gold: Sie wissen - eine regional begrenzte Spruchweisheit!)
Spazieren gehen, laufen, klettern, schwimmen, liegen, schlafen, träumen... alles gut. Schlecht sind lediglich die finalen Tätigkeiten wie z.B. Autofahren in drei Sekunden von 100 auf Null, Bungeespringen ohne Gummi, Drachenfliegen ohne Gurte.



Das Globalista-Gerede von One World, dieser scheinheilig menschenfreundliche Anspruch auf globale Verfügungsbefugnis: man spricht nur pro forma von Menschen und Musikern, um so eindeutiger von Plattenläden, von Import-Export, und letztlich vom eigenen Studio (einer Art Kommandozentrale), vom großen Mix aller Popkulturen in einer einzigen supercoolen Sendung; das suggeriert die ultimative Weltoffenheit, wenn "die Andersartigkeit einer Kultur aufblitzt", so lese ich, und erst "dieses Aufblitzen" gebe "einen Blick über die eigene Welt hinaus frei", heißt es weiter (Rutledge a.a.O.). Mehr als ein Blitz soll es nach Möglichkeit nicht sein, denn das Unpraktische an einer wirklich fremden Musik ist, dass sie dauert und dauert: nur per CD kann man dafür sorgen, dass sie angemessen schnell vorüberblitzt.

Wenn aber von diesen großen Farb-Mischungen die Rede ist, dann klingt das häufig so, als sei hier eine Riesen-Toleranz am Werk. Dabei gibt es eher Anlass zu dem Verdacht, dass die Einzelfarbe genau damit erledigt sein soll.
Während sich die Einzelfarbe bei näherem Hinschauen in der Realität zumeist als Spektrum erweisen würde. Indien ist nicht die Farbe der Sitar, der Tampura, der 100 Schlaginstrumente, der 1000 Ragas, - die indische Musik ist ein Kosmos.
Und ich spreche nur von der Kunstmusik. Nicht von den zahllosen Volksmusiken.



Gut, könnte jemand entgegnen, geschenkt, Kunstmusik ist in der Tat eine Welt für sich, die klammern wir aus, da muss man ja eine regelrechte Schulung durchlaufen. Was für ein Klotz am Bein! Das ist ja gerade der Grund, weshalb wir uns in erster Linie auf Pop-Musik beziehen und deren "spektrale" Erweiterung durch Worldmusic propagieren.

Als ob nicht klar wäre, was damit gemeint ist, - World Music wird zu Pop-Musik, wenn sie von cleveren Managern vorübergehend dazu erklärt wird, wenn sie die passenden Erkennungsmerkmale zeigt, vermarktet werden kann und sich entsprechend verkauft.
Aber - wo auch immer - sie schwebt nicht in einem separaten Raum, ihre Werkzeuge und Mittel stammen aus den alten Fabriken und Laboratorien der Klassik.
Popmusik hat einmal ihre Grundlagen aus der Klassik entnommen, sie weiß es nur nicht mehr. Ich höre da keinen Akkord, keinen Akkordwechsel, den ich nicht aus der europäischen Klassik kennte. Auch die Blues-Harmonik natürlich, das standardisierte Akkord-Schema einer bestimmten Liedform. Da gibt es - sagen wir - bei Konstantin Wecker - nichts, was man nicht schon in jedem kleinen Bach-Praeludium, in jeder Beethoven-Sonate fände.

Und jetzt kommt ein wichtiger Satz: das ist kein Einwand gegen den Blues, auch nicht gegen einen Pop-Song; nur: diese Überheblichkeit in Sachen Pop und sogenannter "Moderne" hat keine Grundlagen. Dies ist eine Grundlage:

6) BACH Wohltemp.Clavier I Tr. 1 Praeludium C-dur 2:15
"The Well-Tempered Clavier" Evgeni Koroliov, Klavier TACET 93

Sie wissen, dass schon der Romantiker Charles Gounod genau dieses Praeludium als Schema eines Pop-Songs verwendet hat; Bach kannte natürlich nicht nur dieses Akkord-Schema, sondern zahllose andere. (Im Grunde schon in jedem Choral ablesbar.)
Wenn ich aber etwas benennen sollte, was wirklich ganz anders ist, das GANZ ANDERE, so wäre es dieses: (Und es handelt sich auch um Kunstmusik).

7) Raga Ahir Bhairav: Pandit Jasraj singt Alap "Mangalam" 3:00
Worship by music PANDIT JASRAJ Chhanda Dhara SNCD 70491

Aus diesem Zentrum heraus entwickelt sich ALLES, selbst eine spätere, sehr heftige Bewegung durch alle Räume bleibt immer orientiert an diesem Grundklang. Wer das vorschnell als geistige Unbeweglichkeit bezeichnet, sollte sich erinnern, dass auch die dynamischsten Jungunternehmer in ihren Räumen waagerechte Fußböden, senkrechte Wände, ebene Tische und gerade Stuhlflächen bevorzugen, selbst wenn sie auf glatten Papierflächen oder flächigen Bildschirmen sehr revolutionäre Skizzen entwerfen. Es gibt auch in Rudolstadt keinen Tanzworkshop, der in einem hügelig und wellig gestalteten Raum stattfindet. Man braucht die räumliche Grundtonfläche.

Trotzdem kann man daraus natürlich kein Argument gegen die abendländische Musik ableiten: sie ist wie sie ist und wie sie werden musste.
Sie erinnert sich sogar dunkel an Musik mit Grundtonfläche: vom Standpunkt der Kunstmusik allerdings ländlich, rückständig, in den Mitteln beschränkt. Sie kennen den Dudelsack, die Drehleier und die ganze, ebenfalls bunte europäische Bordunszene.

Indische Musik ist natürlich nicht die einzige große Alternative: es wäre auch erhellend, der europäischen Kunstmusik statt der indischen die indonesische Gamelan-Musik gegenüberzustellen oder etwa die großen Modelle der Mbira-Musik Zimbabwes usw. Aber das wären ein paar Kapitel für sich. Wir waren beim Bordun.

Richard Wagners Oper Das Rheingold beginnt mit einem großen Grundtonklang Es-dur; der dem Meere abgelauschte Urklang dauert genau 4 Minuten 11 Sekunden und ist natürlich nicht mit seiner Funktion in der indischen Musik vergleichbar, da er sofort als Ausnahmezustand spürbar ist, wie der Urnebel am Anfang der Neunten von Beethoven oder in den Bruckner-Sinfonien: die dann folgende, harmonisch differenzierte Entfaltung gehört zum Erwartungshorizont des Zuhörers.

Der indische Erwartungshorizont aber würde in sich zusammenbrechen, wenn der in 2 oder 5 Minuten aufgebaute Grundtonbereich instabil würde, wenn das Fundament in Bewegung geriete. Der weiteren Entfaltung der Melodik wäre der Boden entzogen.

Sie bemerken, dass ich nicht mehr nur von der Musik rede, sondern vom Erwartungshorizont. Dies Wort ist eigentlich zu weich.
Wenn Sie sich entscheiden, eine Dorade zu grillen, werden Sie nicht versuchen, Ihren kulinarischen Erwartungshorizont dadurch zu erweitern, dass Sie den Fisch außerdem noch dünsten. Die eine Methode schließt die andere aus. Nur eine von zwei Methoden ist anwendbar. Vielleicht kommt jemand auf die Idee einer Fusion; es ist rein theoretisch immer naheliegend, aus zwei guten Sachen eine noch bessere neue machen zu wollen.
Aber in Methodenfragen gilt das nicht unbedingt: sobald ich fliegen kann, sollte ich meine Laufbewegungen einstellen. Wenn ich ein Bild betrachte, muss ich nicht die Ohren spitzen. Es hat keinen Sinn, die Kunst des Segelns zu beherrschen, wenn man sich auf eine Wüstenwanderung begibt. Bei einer Gipfelbesteigung hilft es nicht, wenn man sehr gut schwimmen kann.

Natürlich gibt es auch Methoden, die einander nicht ausschließen, sondern vielleicht sogar ergänzen; sie laden zu einer Kombination ein oder zu einer Fusion: denken Sie nur an die Oper. (Aber das ist bereits ein umstrittener Fall: der ewige Streit um das Primat zwischen Wort und Musik, um den Rang des Bühnenbildes und der Regie.)

Jedenfalls haben wir jetzt das angemessene heuristische Wort: Methode.
Und damit ändert sich automatisch unsere Blickrichtung: wir betrachten nicht die unzähligen Fischarten und wägen ihre Eigenarten gegeneinander ab, sondern wir schauen auf uns und unser Sensorium: wie wollen wir uns den Geschmack der Nahrung erschließen?
Wir betrachten also nicht länger die Vielfalt der Musiken, denen wir ausgesetzt sind; die den Anspruch erheben, verstanden zu werden; die uns ratlos machen, sondern wir fragen nach den Voraussetzungen bei den Menschen, bei uns, nach der Grundausrüstung, die notwendig ist, um die jeweiligen Musiken überhaupt wahrzunehmen.

Ich stütze mich dabei auf eine Vorgabe, die ich zuerst 1981 entwickelt habe, dann in einem Vortrag 2004 differenziert habe und heute wieder etwas verändert habe: Methoden des Hörens, wobei ich die klassische Musikgeschichte des Abendlandes auf die Methode des Kadenzhörens reduziere. Wenn Sie die Logik der Akkordfolge einer harmonischen Kadenz verinnerlicht haben, verfügen Sie über den Schlüssel der Musik von sagen wie 1600 bis 1920, oder - wenn Sie die Popular- und Popmusik, die dabei geblieben ist, einbeziehen - bis heute.
Womit ich nicht leugne, dass es riesige Stil-Unterschiede gibt; dennoch - ohne diese Voraussetzung, die Vertrautheit mit der Kadenz-Methode, hat man keine Chance, die Stil-Unterschiede und die sich wandelnde symbolische Befrachtung der musikalischen Vorgänge sinnvoll zu aufzufassen.

Mir schien es deshalb richtig, diese Unterschiede zunächst zu ignorieren und das Abendland gewissermaßen auf die Kadenz zu reduzieren, um Grundeinstellungen zu finden, Methoden des Hörens, und ich vermutete ursprünglich, dass es eine ziemlich überschaubare Zahl gibt, 5 bis 8 etwa, aber bei neuerlichem Überlegen kam ich zu einer größeren Zahl, und sicherlich werden Sie meine Liste auch nicht unbedingt für erschöpfend halten. Die abendländische Kadenz werden Sie als Methode VI finden.

  1. Man versichert sich eines durchgehenden Borduntons, um die Melodien präzise einordnen und verorten zu können, und empfindet ihn als so selbstverständlich und hilfreich, wie eine Tänzerin die Ebenmäßigkeit des Bodens. (Bordunmusik, Indien)

  2. Man löst die Melodien vom Bordun, konzentriert sich auf Melodiemodelle, lineare Muster von Tonfolgen, die in sich hierarchisch geordnet sind (modale Musik), Wiederholungen, Reihungen o.ä. (arabische Musik, Iran, Nordafrika) Die Musik zählt ihre Vorgaben auf, überhaupt: sie erzählt... (etwa nach dem Muster des epischen Vortrags)

  3. Oder man konzentriert sich - vielleicht mit magischem Hintergrund - auf Klänge, man entdeckt Echo- und Höhlenresonanzen, man hält Töne aus, man ruft durch Masken, man schlägt Glocken.

  4. Man lenkt den Focus des Hörens auf und in den Einzelton, entdeckt das ("geisterhafte" ?) Angebot der Obertonreihe (Tibetische Mönche, Khöömi-Gesang in Zentralasien, Maultrommel, Musikbogen in Afrika)
    8) Stuttgart 4 Tuva Maultrommel + Khöömi 2:16
    Oleg Kuular: Chomus and Chöömej / Tuvinian Singer & Musicians / World Network 55.838
  5. Man lenkt den Focus des Hörens auf die entdeckten Klangsäulen (sardische, korsische, georgische Chöre)
    9) Stuttgart 5 Sardinien "Voches" 0:36
    Cara cantu ser bella / tenore de orosei / voches de sardinna (1) / Basic Edition / Winter & Winter / W&W 910 021-2
    a) Man gibt den verschiedenen Stimmen eine gewisse Freiheit, lässt sie in unterschiedliche Richtungen wandern, von Säule zu Säule (Polyphonie), beobachtet eine horizontal-vertikale Organisation (Mittelalter, Georgien, Nuristan, Pygmäen).
    b) Oder man lässt mehrere Säulen alternieren: z.B. 2 oder 3 Musikbögen im Wechsel; man überträgt die gehörten alternierenden Tonfolgen auf ein anderes Instrument: so ist die verblüffende Verwandtschaft der Mbiramuster mit harmonischen "Kadenzen" zu verstehen. (Zimbabwe)
    10) Stuttgart 6 Chipendani + Mbira CD I Tr. 9 + 10 1:34
    CD zum Buch: Klaus-Peter Brenner: Chipendani und Mbira / Musikinstrumente, nicht-begriffliche Mathematik und die Evolution der harmonischen Progressionen in der Musik der Shona in Zimbabwe CD I Bsp. 9: Abstrakte Demonstration der prinzipiellen Realisierbarkeit der 12-gliedrigen Standard-Progression auf zwei im Quartabstand zueinander gestimmten, alternierend und teilweise überlappend gespielten zvipendani (Plur. von Chipendani = Musikbogen). Direkt anschließend CD I Bsp. 10: Nyamaropa. Mbira (... .)-Stück. Getrennt-kanalige Aufnahme mit Kontaktmikrophonen. Experimentelle Aufnahme (Brenner).
  6. Man entwickelt ein System des akkordischen Zusammenhangs: eine harmonische Kadenz, die man nunmehr als ("Choral"- ) Struktur in jeglicher Musik wahrnehmen kann. (Europa)

  7. Man spürt die Reibung eng zusammenliegender, gleichzeitig gesungener Töne und entwickelt ein mikrotonales Sensorium (bulgarische Diaphonie), dazu gehört Bordunarbeit und das physische Erlebnis der sich "schneidenden" Stimmen.
    11) Stuttgart 7 Bulgarien Tr. 4 und 9 2:30
    "Kukuvitsa po dva dvora kuka" (Ein Kuckuck singt auf zwei Feldern) Frauenensemble aus Pernik, Zentral-West-Bulgarien 1976 /
    "Nevenki pletenki"Frauen-Ensemble aus Resilovo, Zentral-West-Bulgarien / Bulgarie / Traditions vocales / OCORA Radio France C 600009

  8. Man beobachtet das Sich-Zusammenfügen, Ineinandergreifen verschiedener bewegter Muster (s.a. V: Zimbabwe, auch: Bali, Hoquetus) und - aus dem Variieren der Muster resultierend - das Erscheinen von inhärenten Melodien und Ruf-Motiven (u.a. Kamerun, Tansania). Perkussionsgewebe, Balafon-Zyklen und Bläser-Ensembles.

  9. Man bezieht sich - kommunizierend - auf die Stimmen der Natur (Sibirien, Tuva); man komponiert "am Wasser sitzend" (Kaluli in Papua-Niugini), man verwendet das Tonmaterial der Vögel, die laut Mythologie unsere Ahnen sind; man lässt Melodien so übereinanderlappen wie die Schichten des Urwaldes, "lift-up-over-sounding" (Steven Feld). Texte als "Landkarten", symbolische Verankerung.

  10. Das zu Hörende wird in schriftliche Form gegossen, damit es in den wichtigsten Details unverändert ins akustische Leben zurückgerufen werden kann. Die Schrift gewinnt einen eigenen Status. Auch die Wechselwirkung zwischen Schrift und klingender Interpretation wird problematisiert. Man sieht das Hörbare auch vor dem inneren Auge.
    Objektivierung des Unfassbaren. Effektivere schriftliche Organisation der schwer greifbaren Mehrstimmigkeit. Ausbildung eines symbolischen Vokabulars. Das wirkt zurück:
    Die Musik wird entsprechend "zugerichtet".
    Musikalische Kunstwerke werden plastischen und architektonischen vergleichbar.
    Der Gedanke akustischer Bautätigkeit ist naheliegend, man erschafft Hör-Architektur. (Dufay "Nuper rosarum flores", 1436, Dom von Florenz)

    Andererseits wird der prozessuale Charakter hervorgekehrt.
    Eigenart der Schrift: den linearen Verlauf hervorzukehren (wie ein geschriebenes Epos oder Drama); auch: Komplexeres zu schreiben, als man simultan denken kann. Latente Forderung der Notenschrift: Innerlich zu hören, was da geschrieben steht.
    Loslösung der Musik vom realen Klang wird denkbar.
    "Opus perfectum et absolutum".
    Die Vergleichbarkeit der Werke, ihre Analysierbarkeit, beschleunigt die Veränderung (jedes neue Werk überbietet ein vorheriges).

  11. Das symbolische Hören: Es bilden sich Konventionen aus, wie etwas zu verstehen sei. Die Affektenlehre des Barock, die Rasa-Theorie der indischen Musik, (die Sonaten-Form, die Fuge,) Wagners Leitmotive, Programm-Musik... sogenannte "absolute Musik".

  12. Kritische Hör-Methode der Moderne (Negationen): Es entsteht Überdruss, man versucht das Gegenteil (nach den "sinfonischen Riesenschlangen" zurück zum Concerto grosso! Vom Bühnenweihfestspiel zur Kammeroper!) C-dur-Dreiklang = Banalität der gängigen Münze (in Alban Bergs "Wozzeck").

  13. Denkbar wäre auch eine Methode des Hörens, die eine physische Beeinflussung des Ohres bzw. des Kopfes voraussetzt: z.B. durch Drogen.
    Schumanns Versuche mit Trunkenheit: "Wenn ich betrunken bin oder mich gebrochen habe, so war am anderen Tage die Fantasie schwebender und erhöhter. Während der Trunkenheit kann ich nichts machen, aber nach ihr."
    (Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit / Laaber 1982 / S. 280)
    Wieder einen anderen Aspekt hätten wir in der afrikanischen Musik zu berücksichtigen, die in einem Maße bewegungs- und körperbezogen ist, dass schon der Begriff "Methode des Hörens" unzulässig eng wirkt.
    Andererseits diskutieren wir afrikanische Musik, weil ihre Strukturen bereits interessant genug sind und auch unabhängig vom Tanz als sinnvoll erlebt werden können.
    Unübersehbar: dieser Bewegungsaspekt spielt auch bei jedem westlichen Instrumentalisten eine große Rolle. Letztlich müssen wir wohl die allgemeine physische Situation nicht ernsthaft in unsere Überlegungen einbeziehen. Wir gehen von einem ganz prosaischen Zusammenspiel der alltäglichen individuellen geistigen und körperlichen Kräfte aus, und nicht von Wundern, blitzartigen Erleuchtungen, Rauschzuständen, Derwisch-Drehungen, Trancetänzen u.ä. aus.

  14. Dies wäre eine Hörmethode, mit der wir das tagtäglich angewendete Hören, das gewissermaßen permanent einen Filter verwendet, modifizieren: der Filter wird außer Kraft gesetzt zugunsten eines "unbefangene", bloßen Hörens. Alles ist als ästhetisches Phänomen gleich wichtig; wir üben das registrierende Wahrnehmen der puren Klangereignisse und Geräusche, ob sie nun als Musik gemeint sind oder nicht.
    Es soll von unserer Entscheidung oder der Suggestion eines Künstlers abhängen, ob wir die "Klangkunst" als Kunst- oder als Klangereignis hören: John Cage hat diese Methode angeregt, Christian Wolff hat sie definiert, Murray Schafer detailliert ausgearbeitet:
    "Es wird kein Unterschied zwischen den Klängen des 'Werks' und Tönen überhaupt gemacht - Tönen, die dem Werk vorausgehen, es begleiten oder ihm folgen. Kunst - Musik - und Natur werden nicht als getrennt gedacht."
    (Christian Wolff: Über Form / in: Kommentare zur Neuen Musik / Dumont Köln bzw. Wien 1955-1960 S. 166)



Ob unsere Liste nun vollständig ist oder nicht, - man muss sich darüber klar sein, dass die Methoden niemandem wie eine Palette zur Verfügung stehen, bisweilen schließt eine die andere aus. Und jede Methode lässt sich unendlich erweitern, indem sie in den Hintergrund tritt zugunsten der symbolischen Befrachtung all ihrer musikalischen Bestandteile; die Methode XI (symbolische Methode) kann also mit jeder anderen eine enge Verbindung eingehen und dabei unzählige neue Stile entstehen lassen, das kann mit dem Text zu tun haben, mit textgenerierten Gliederungen, rezitativartigen Tonfolgen, aber auch mit dem Auf und Ab der Musik selbst, mit ihren Bewegungen, Klangfarben, Figuren, Verknüpfungen, bedingten Reflexen, früh eingeübten Assoziationen.

Möglicherweise ist sie ausschließlich auf der symbolische Ebene voll zu verstehen: die Töne bedeuten etwas - über ihr schieres Erklingen hinaus.
Wer den 2. Satz der Eroica nicht als Trauermarsch erkennt, verfehlt einen wesentlichen Aspekt. Wer dem Spiel der chinesischen Zither Qin lauscht, ohne in den Sinn dieser Musik eingeweiht zu sein, wird nichts Wesentliches hören.
Man könnte darüber diskutieren, ob es wirklich Universalien gibt, ob diese nicht so allgemein zu fassen wären, dass sie alles und nichts aussagen, oder ob die Zuschreibungen nur kulturbedingt funktionieren, also eingeübt werden müssen.



Nehmen wir Rudolstadt als Beispiel: wenn ich recht sehe, sind wir hier in diesem Jahr - rein musikalisch - mit drei Methoden ausgekommen, nämlich Nr. VI (Kadenz), Nr. II (Melodiemodell) und Nr. I (Bordun), [II + I: The Chieftains, der indische Tanz und z.T. Kardesh Türküler], - wobei es Ihnen natürlich unbenommen ist, durch die Stadt zu gehen und permanent die letzte Methode anzuwenden. Auch im Restaurant oder hier in der Bibliothek, indem Sie mir gar nicht inhaltlich folgen, sondern das Rascheln der Füße, entfernte Stimmen, die Autos von draußen, Glocken o.ä. viel interessanter finden.



Ich versuche ein Fazit:
Die 14 Methoden des Hörens waren nie gleichmäßig über den Globus und die Menschheit verteilt; es wäre weltfremd, eine gleichmäßige Berücksichtigung - etwa bei einem Festival wie diesem - zu erwarten.
Aber es ist musikfremd und sogar weltfremd, den einfachen Beat und die nur oberflächlich wechselnden Ansagen (das Angesagtsein) der Popmusik als Richtschnur für Musik überhaupt zu betrachten. Es ist gar zu simpel, seine Ideologie aus einem willkürlichen, kommerziell gemeinten Angebot und im übrigen aus der Luft zu greifen.
Es geht überhaupt nicht um ideologische Prinzipien - um keine Forderung, sondern allenfalls um die Förderung eines erweiterten musikalischen Bewusstseins.
(Warum sollte ich dem, der mit Beethoven oder den Beatles glücklich ist, mit der Forderung kommen: Erweitere doch bitte mal Dein Bewusstsein! Ich kann nur jemandem, der besonders weltoffen oder neugierig oder lediglich unzufrieden ist, neue Angebote machen. Im übrigen würde ich in puncto Beethoven sofort zugeben: ja, das ist tatsächlich eine ganze Welt für sich, in puncto Beatles zu bedenken geben: das ist ganz einfallsreich gemacht, - aber keine Welt.)

Förderung bestünde in der Auseinandersetzung mit den Fragen:
Was gibt es überhaupt, was gab es, welche Bedeutung hatte es, und welche könnte es für uns haben, welche Voraussetzungen müssten gegeben sein, welche Lernprozesse gehören dazu?
Das ist aber keine Forderung an ein Festival wie dieses, das eine riesige Auswahl anbietet, aber natürlich auch vorweg kanalisierte Erwartungen bedienen muss, sondern an die Wissenschaft, an Schulen und Ausbildungs-stätten: gebt nichts verloren, weder die globale noch die historische Vielfalt.
Es wachsen immer wieder Menschen heran, die alles prüfen wollen und ein Recht darauf haben, die Wahrheit zu erfahren und volle Übersicht zu bekommen, - nicht nur einfältige Versicherungen über die Weltgeltung von Hiphop, Rap und Beat.
Womit ja manch einer schnurstracks in die Methode 13 getrieben werden könnte, etwa unter Zuhilfenahme einer Flasche guten Weins, --- die allerdings auch in völliger Stille eine erfreuliche Wirkung entfalten würde.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

© Dr.Jan Reichow 2005

Textnachweise bzw. Literaturhinweise

  • Gerold Baier: Rhythmus / Tanz in Körper und Gehirn / Reinbek bei Hamburg 2001 / ISBN 3 499 60822 7
  • Daniel Bax: Peripherie klingt gut / Weltmusik Stadtrevue Kölnmagazin SR Archiv
  • Kurt Blaukopf: Musik im Wandel der Gesellschaft / München 1982
  • Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit / Laaber 1982
  • Klaus-Peter Brenner: Chipendani und Mbira / Musikinstrumente, nicht-begriffliche Mathematik und die Evolution der harmonischen Progressionen in der Musik der Shona in Zimbabwe / Göttingen 1997
  • Reinhold Hammerstein:Die Musik der Engel / Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters / Bern und München 1962
  • Reinhold Hammerstein: Diabolus in musica / Studien zur Ikonographie der Musik im Mittelalter / Bern und München 1974
  • John W. Meyer: Weltkultur / Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen / Edition Zweite Moderne / Frankfurt am Main 2005 / ISBN 3-518-41651-0
  • Jan Reichow: Offbeatklatscher! Fremdenversteher! Wie aus Musikwelten Weltmusik wird / Vortrag 16.04.03 im Institut für neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt
    gedruckt in: Welt@Musik / Musik interkulturell / Publikationen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt Band 44 / Schott, Mainz 2004 ISBN: 3-7957-1834-1
    online [ hier ]
  • Jan Reichow: Methoden des Hörens / in: Weltmusik 2, herausgegeben von Peter Ausländer und Johannes Fritsch / Feedback Studio Verlag Köln 1982
  • Jan Reichow: : Neuer Vortrag "Methoden des Hörens" 10. Juli 2004 innerhalb des Workshops "Globalisierung und die Freiheit der Künste" 9.-11. Juli 04 in Stuttgart, Theater am Pragsattel
    (Veröffentlichung in Vorbereitung)
  • Peter Schleuning: Das 18. Jahrhundert - Der Bürger erhebt sich / Reinbek bei Hamburg 1984 (S. 22 ff : 9. Jahrhundert: Die Kunstmusik beginnt)
  • Michael Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters / Schrift - Zeit- Raum / Stuttgart und Weimar 1994 / ISBN 3-476-00998-X
  • Christian Wolff: Über Form / in: Kommentare zur Neuen Musik / Dumont Köln bzw. Wien 1955-1960
  • CD Rhythmen der Malinke Guinea / Museum Collection Berlin CD18 / 1991 / Ausgezeichnetes Booklet über Trommelrhythmen der Malinke-Hamana von Johannes Beer
  • CD globalista Import-Export / Trikont US-0304 / München 2002 / LC 04270 / Booklettext von Jay Rutledge
  • CD the music of one world / OW 2003 / distrib. Sony Music / 1999 / LC 00970 / Booklettext von (ungenannt)



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