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SWR2 essay
[Autor]
Nein, kein Esoteriker war es, der das Exerzitium des inneren Ohres empfahl, sondern immer wieder Theodor W. Adorno, der konkret komponierende und klavierspielende Denker, von dem das Wort "adäquates Hören" stammt, der das stumme Lesen von Musik und die bloße Imagination des realen Klanges empfahl! Das innere Ohr als maßgebliche Instanz, nicht nur zur Übung, sondern als Indiz und Ausweis musikalischen Expertentums, der plumpen Realität des Klangs immer [zwei Ohrenlängen] voraus. Gerade Adorno hat aber auch mit Eifer Komponisten verteidigt, die sich nachweisbar irrten und in der Realität nicht mehr präzise wahrnahmen, was sie in der Idealität so genau gehört hatten. [Sprecher][Autor] Ob es nun stimmt oder nicht: man erzählt, der alte Joseph Haydn habe eine Aufführung seiner "Schöpfung" erlebt und sei beim Hören der Stelle "Und es ward Licht" in Ohnmacht gefallen. Wir können aber sicher sein, dass er beim Niederschreiben der Stelle völlig klaren Verstandes blieb, obwohl er die C-dur-Klangwirkung präzise imaginierte. Kein Wunder, - selbst Leute, denen Adorno jedes Expertentum abspräche, würden sich z.B. bei der bloßen Vorstellung eines immensen Donnerschlags oder eines explodierenden Klangkörpers keineswegs schützend die Ohren zuhalten. Imagination ist jedoch zweifellos eine evolutionäre Errungenschaft, die gar nicht hoch genug zu veranschlagen ist: Die Fähigkeit, abwesende Dinge - sagen wir: Feinde, Beutetiere oder Trampelpfade im Wald - plastisch vor das innere Auge zu rufen, sie probeweise zu einzuschätzen, bedeutete eine evolutionsgeschichtliche Wende im Gehirn des Menschen. Möglicherweise hatte sich alle Kommunikation bis dahin nur auf unmittelbar sichtbare oder hörbare Dinge bezogen. Aber die Loslösung ist nachweislich datierbar, zumindest einzukreisen: sie liegt vor den Höhlenzeichnungen von Lascaux, die möglicherweise zur gleichen Epoche wie die Sprachentwicklung des Menschen gehören. Die Fähigkeit, abwesende Dinge durch Lautgebilde, durch Benennung, herbeizuzaubern, eine Imago ins Auge zu fassen, sie zum Gegenstand der Betrachtung und des Planens machen zu können, muss einen ungeheuren Schub ausgelöst haben. Mit einer Gesellschaft, die imstande war, verschiedene Möglichkeiten imaginativ durchzuspielen, zu reflektieren, begann der moderne Mensch. Die Philosophin Susanne K. Langer hat diesen Übergang zum symbolischen Denken suggestiv beschrieben: [Sprecherin][Autor] Unversehens fügt sich auch die Musik in diese frühmenschliche oder wie man sagt: auf eine Epoche "vor Adam" bezogene Vision: [Sprecherin][Autor] Was Susanne K. Langer 1942 schrieb, deckt sich erstaunlich mit den Darstellungen heutiger Evolutionsbiologen, die "den Großen Sprung" des Menschen vor 40.000 Jahren beschreiben; vor allem die "Neuerung im Gebrauch der 'Sprachsoftware'," wie Richard Dawkins formuliert. [Sprecher][Autor] Und selbst von der flüchtigsten aller Künste gibt es nun Zeugnisse, Musikinstrumente, beispielsweise Flöten aus Knochen. Die Philosophin Susanne K. Langer hatte sicherlich nicht unrecht zu vermuten: Sie sangen! Ob sie auch leise vor sich hin summten oder sogar in der Lage waren, sich stumm an Tonfolgen zu erinnern, die sie im Innern weiterklingen hörten, von denen sie womöglich gar besessen waren, - wir wissen es nicht, aber es ist leicht vorstellbar. Solche von der greif- und sichtbaren Welt abgelösten Formeln gewinnen eine eigene Macht. Musik 1 "Barjo aela" - "Segen". Musik der Hamar aus Süd-Äthiopien[Autor] Was hat Adorno mit dem Großen Sprung vor 40.000 Jahren zu tun? Es ist die Neigung, die vielleicht schon damals angelegt wurde, die bloße Imagination eines Klangs für edler zu halten als seine krude Realität, - auf die Gefahr hin, ein zähes idealistisches (oder auch nur esoterisches) Missverständnis zu befestigen, dass diese Welt der Imagination die reine und wahre sei (heute würde man vielleicht von "Parallelwelt" sprechen). Und dass die Musik, als die am wenigsten stoffgebundene Kunst, dort ihre Heimat habe und dorthin zurück oder hinauf geleite. Wie Schubert (mit den Worten des Freundes Schober) sagt: "in eine beßre Welt entrückt"... Was Beethoven meint, "wenn der Geist zu ihm spricht", oder wenn er sagt: [Sprecherin][Autor] so im Dedikationsbrief zur Klavier-Sonate op. 109. Er notierte auch: [Sprecherin][Autor] Und ein Blick nach Indien sei gestattet, - der Sänger Pandit Jasraj (und zahlreiche Aussagen indischer Musiker ließen sich anfügen) sieht uns mit der Musik auf dem richtigen Wege: O-Ton Pandit Jasraj, Interview 4.5.1993[Autor] Der aus Wien stammende Musikästhetiker Viktor Zuckerkandl, dessen Leben in etwa parallel zu dem Adornos verlief, - beide emigrierten 1938 bzw. 39 in die USA, beide hatten dort Kontakt zu Thomas Mann, und doch kommt der eine im Werk des anderen an keiner Stelle vor -, Zuckerkandl veröffentlichte 1963 das Buch "Die Wirklichkeit der Musik", und es gibt wohl kein zweites musikästhetisches Werk, in dem das Phänomen des Raumes - neben dem Phänomen der Zeit - einen so breiten Raum einnimmt. Wohlgemerkt: es ist nicht vom physikalischen Raum die Rede - wenn wir z.B. an eine Abhandlung wie die über "Beethovens Konzerträume" denken - , auch nicht allgemein von Raumakustik (MGG), sondern von dem, was in Hugo Riemanns Ästhetik im Jahre 1900 mit genau 3 Sätzen behandelt wird: [Sprecher] Musik 2 Felix Mendelssohn Bartholdy: Oktett op.20 Allegro moderato, ma con fuoco[Autor] Das Oben und Unten, das Hinauf und Hinab, nichts leuchtet unmittelbarer ein; die Frage ist nur: bilden wir eine Analogie zum äußeren Raum mit seinen Kräfteverhältnissen oder spielen sich die Ereignisse ab (und auf) in einem musikalischen Raum eigener Gesetzmäßigkeit? Der Dirigent Sergiu Celibidache sagte in seinen Mainzer Vorlesungen: [Sprecher][Autor] Und dieser besondere Raum? Ist er nun nachweisbar oder nicht? Die Musikpsychologie wählt eine Ausdrucksweise, die ein Türchen offenhält: [Sprecherin][Autor] "...stellt sich das Erlebnis eines Tonraumes ein" - so hieß es: ist er nun vorhanden oder halluzinieren wir ihn? (vgl. Zuckerkandls Titel: "Wirklichkeit der Musik") Und wenn wir "akustische Informationen kognitiv strukturieren", - verbinden wir sie tatsächlich mit einer Übersetzung in visuell anschauliche Eindrücke? Handelt es sich um eine "Übersetzung" oder nicht vielmehr um eine unmittelbare Partizipation an der Bewegung im Tonraum? Helga de la Motte, aus deren Handbuch der Musikpsychologie wir eben zitiert haben, fügt später noch einen anderen Aspekt hinzu: [Sprecherin][Autor] Das ist schön gesagt und erinnert an das, was Zuckerkandl schreibt, am Ende seines Buches, das die Wirklichkeit der Musik behandelt, aber kaum irgendwo eine bestimmte Musik, sagen wir von Beethoven oder Strawinsky, die "wir uns in den [musikalischen] Raum hineindenken". In seiner abschließenden Reflexion jedoch können wir leicht erkennen, worin er anders denkt, auch anders als Adorno und der von ihm geprägte musikalische Zeitgeist von ehedem. Stichwort: Tonsystem. Zuckerkandl fragt: [Sprecher][Autor] und antwortet: [Sprecher][Autor] Zuckerkandl weiß sehr wohl, dass in den Kulturen der Welt viele Tonsysteme nebeneinander bestehen. Und man könnte in der Tat darüber streiten, ob irgendwo in der Welt jemals ein Tonsystem wirklich entdeckt oder vielmehr doch - mehr oder weniger - erfunden wurde. Jedenfalls sind die Versuche mancher Komponisten, ihr System sozusagen in der Natur selbst zu verankern, wie es z.B. Paul Hindemith in seiner Unterweisung im Tonsatz versucht hat, mehr als zweifelhaft. Wenn jedoch John Cage die Fenster öffnet und auf die Geräusche des Tages verweist, als sei dies bereits die Musik, die der wirklich Lauschende nur als solche wahrnehmen müsse, so darf man heute, nach intensiver Öffnung der Ohren, ebenfalls prinzipielle Zweifel anmelden. Klang-Kunst leistet nicht dasselbe wie Ton-Kunst, - womit ihr eine besondere Leistung keineswegs abgesprochen sei. Was verloren geht, ist der musikalische Raum. Nicht der physikalische Raum. Worin aber liegt nun der Unterschied? Das ist gar nicht so leicht zu erfassen, obwohl das Problem unmittelbar vor Ohren liegt. Musik 3a Tuva:[Autor] Meist wird das Richtungshören (auch) im Saal überschätzt. Es hat jedenfalls nichts zu tun mit dem räumlichen Hören, von dem hier die Rede sein soll, es hat mehr mit Geräuschen zu tun, bei denen es lebenswichtig sein kann, sie im physischen Raum zu lokalisieren. Eine "Art sehen mit den Ohren", so nennt es Zuckerkandl (a.a.O. S.263), und er fragt: [Sprecher][Autor] Der Mann im Publikum, der fortwährend seiner Nachbarin ins Ohr zischelt, sitzt wahrscheinlich genau 2 Reihen vor Ihnen und 2 Plätze seitwärts; der lang gehaltene Oboenton jedoch, mit dem der nächste Satz beginnt, ist überall im Raum, obwohl Sie natürlich genau wissen, an welcher Stelle des Orchester seine Quelle sitzt. [Sprecher][Autor] Wie ist das zu verstehen? Wir sehen z.B., dass die Dame, die Oboe spielt, eine dunkelgrüne Seidenbluse trägt. Die Farbe ist dort, sie begegnet uns dort im Raume, an einer bestimmten Stelle des Raumes. Der Ton jedoch, der dort erzeugt wird, begegnet uns aus dem ganzen Raume, er erreicht uns von außen, kommt von außen her; er ist nicht "dahinten", wie die Farbe der Bluse. Wir neigen dazu, diese beiden Raumvorstellungen gedanklich zu vermischen, - um so reizvoller ist es, sie begrifflich klar zu scheiden: Zuckerkandl sieht den entscheidenden Schritt vom Seh- in den Hörraum wie einen Übergang aus einem statischen in ein fließendes Medium. Er zitiert den ungarischen Psychologen Géza Révész: [Sprecher][Autor] Der durch den Schall lebendig gewordene Raum, - wiederholt Zuckerkandl mit Emphase: man könne es geradezu so sagen, dass nicht der Ton sich im Raum ereigne, - es sei zunächst vielmehr der Raum, der durch den Ton zum Ereignis werde. Jedenfalls wenn man den Unterschied von Seh- und Hörraum auf die Spitze treiben wolle. [Sprecher][Autor] Was nichts zu tun hat mit der - immerhin möglichen - Statik der Musik oder dem Grad ihrer dynamischen Bewegung. Musik 4 Monteverdi: Madrigal "Hor che'l ciel e la terra" Anfang[Autor] Wir haben gehört vom ortlosen Raum der Musik und vom fließenden Raum, den das Ohr erfährt. Der Raum hat also eine Richtung, die Zuckerkandl mit den Worten "Von...her" kennzeichnet, was nicht bedeutet "von da oder dort her" sondern "von allseits aus der Tiefe her", womit nicht eine Richtung im Raum, sondern eine, nein, die Richtung des Raumes gemeint ist. [Sprecher][Autor] Das ist nicht leicht zu verstehen, - immer wieder wurden die Grenzen des Auges und des Ohres gegeneinander abgesteckt, auch bei Adorno, meist mit Nachsicht gegenüber dem archaisch-unbedarften Ohr, das sich ja nicht einmal verschließen kann. Die Ohren-Ehrenrettung durch den Esoteriker Berendt war gar keine, sondern nur ein Täuschungsmanöver zum Nachteil der visuellen Klarheit. Mit beiden darf man Zuckerkandl nicht verwechseln: Wenn die Erschließung des Raumes durch das Ohr mit einem "von...her" gekennzeichnet werden kann, so kann man vom Auge sagen, dass es die Raumtiefe in Richtung "von mir weg" erlebt. Es denkt in Distanzen und in Distanzierung. [Sprecher][Autor] Und dann kommt irgendwann der Satz, gewissermaßen der Lehrsatz für ein Regelwerk des Hörens, mit dem - nebenbei - auch das Gerede von der Musik als reiner Zeitkunst in die Schranken gewiesen wird: [Sprecher][Autor] Partizipation klingt verdächtig nach Mystik, nach Lévy-Bruhls prälogischer, mystischer Teilnahme, nach "wildem Denken" usw.; es hat aber allenfalls mit Robert Musils tagheller Mystik zu tun, die allein schon darin liegt, dass wir dem Erlebnis des Hörens auf einer nicht alltäglichen Ebene begegnen. Das ist von niemandem klarer gesehen worden als von Victor Zuckerkandl: [Sprecher] Musik 5 Japan Shakuhachi-Flöte "Kokû"[Autor] Die weitere Arbeit besteht nun darin, sorgfältig die "Ordnung des Hörraums" zu erkunden. Wohlgemerkt, nicht die Ordnung bestimmter Hörwerke, den Organismus eines indischen Ragas, einer Beethoven-Sonate oder einer Bach-Fuge, obwohl die Betrachtung einer Ordnung des Hörraums auch all dies in ein neues Licht rückt. Wir lassen es hier außer acht, ebenso die Frage, in welchem Maße der Hörraum unserer Musik von der Notenschrift geprägt ist, während wesentliche Bereiche etwa der afrikanischen Musik nicht ohne Kenntnis der Bewegungsmuster zugänglich sind. Es geht um elementare Dinge: Der Dreiklang z.B., oder die Oktave und das, was sie aussagen, gehören zu den bemerkenswertesten Phänomenen des Hörraumes, selbst wenn sie in keiner menschlichen Musikkultur eine wesentliche Rolle spielen würden. Die Oktave behielte den Wert einer Oktave, auch wenn niemand mehr davon Gebrauch machen würde, so wie die Farbe Rot ihren Farbwert im Lichtspektrum behält, auch wenn die meisten Säugetiere (außer den Primaten) ihn gar nicht wahrnehmen können. Der (Dur-)Dreiklang steht an bevorzugter Stelle der Obertonreihe, auch wenn unser System vielleicht kompliziertere, entferntere Verhältnisse in den Mittelpunkt des Denkens gerückt hat. Zu beachten wäre jedoch, ob unsere Überlegungen nicht auch für Dreiklänge wie B-E-A oder C-Gis-H gelten, die den Ausgangspunkt für Schönbergs "Moses und Aron" bilden. Für Zuckerkandl liegt im Dreiklang ein Beweis, dass räumliche Ordnung - dem verbreiteten Vorurteil entgegen - nicht allein im Nebeneinander zu fassen ist, obwohl dies im physikalisch-geometrischen Raum die Regel ist. Vergleichen Sie nacheinander gespielte Töne mit nebeneinanderliegenden Farben, Blau und Gelb zum Beispiel: so bald man sie am gleichen Ort übereinanderlegt, erzeugen die beiden Farben eine neue, nämlich Grün, in der die beiden anderen für das Auge spurlos aufgegangen sind; die Töne aber ergeben - als Ergebnis ihres Zusammenklingens - nicht einen Mischton, etwa einen Ton in der Mitte zwischen den sich verbindenden, sondern sie bilden einen qualitativ anderen Zusammenklang, etwas Neues, Ganzes, in dem sie jedoch nicht spurlos untergehen, sondern in ihrer Besonderheit hörbar bleiben. So wie in einem Quadrat die vier Geraden, aus deren Zusammensetzung es gebildet wird, erhalten bleiben, ohne dass an der Integrität der einen geometrischen Figur zu rütteln wäre. Das gleiche gilt für ein Dreieck, - der Physiker Ernst Mach stellte die scharfsinnige Frage, die wie eine Nonsens-Frage klingt: "Warum bilden drei Töne einen Dreiklang und nicht ein Dreieck?" Und Zuckerkandl, dessen Zwischenüberlegungen wir hier allerdings auslassen, antwortet: [Sprecher][Autor] Zugleich erinnert er an die bereits entwickelte Vorstellung von Raum als einem ortlos-fließenden Raum, der eher als Zuständlichkeit denn als Ensemble von Orten zu denken ist, und er sieht nun Sehraum und Hörraum deutlich voneinander geschieden, und zwar in den folgenden Begriffs-Paaren: [Sprecher] Musik 6 J.S.Bach: Violine Solosonate I Adagio[Autor] "Der Dreiklang und - die Tonleiter in tausend Gestalten als Herz unserer Musik: merkwürdigerweise ergibt sich erst aus der Betrachtung der Tonleiter, ob auf- oder absteigend, das tiefe Erstaunen über das "Wunder der Oktave" (August Halm), das schließlich zu einer Theorie oder, sagen wir, zum Problem der Perspektive innerhalb der Struktur des Hörraums führt." (Zuckerkandl S.306ff). [Sprecher][Autor] Schließlich - nach ausführlichen, in jedem Detail bedenkenswerten Reflexionen - kommt Zuckerkandl beiläufig wieder zu dem Punkt, von dem wir ausgegangen sind: Sollten wir den physischen-physikalischen Raum ignorieren, vielleicht sogar die Augen schließen, um der Musik in die Koordinaten ihres Raumes zu folgen? Er zitiert das Verdikt Strawinskys: [Sprecher][Autor] Das klingt fast afrikanisch. In der Tat würde ein Essay über afrikanische Musik ganz andere Schwerpunkte setzen müssen. Hier verlassen wir allerdings ohnehin Zuckerkandls Thema der "Wirklichkeit der Musik" in ihrem bloß tönenden Sinn und müssen uns mit konkreten Werken ebenso wie mit denen, die sie praktisch ins Werk setzen, befassen. Wir verfehlen afrikanische Musik, wenn wir sie nicht als ein System von Bewegungsmustern erkennen. Der Afrikanist und Musikethnologe Gerhard Kubik sagt: [Sprecherin][Autor] Aber wir sprechen hier nicht von den verschiedenen Ausdrucksformen der menschlichen Musikalität, ihren Bindungen und Bedingungen: Über Jahrhunderte war es im Westen der Sprachcharakter und die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik (Schmitz), neben der reinen Struktur der Musik also der rhetorische Aufbau, die Logik, die Grammatik, zugleich rühmte man ihr expressives Vermögen, das jedoch zunehmend jenseits oder oberhalb der Sprache angesiedelt schien; sie näherte sich metaphysischen Vorstellungen, ohne dass sich ihre Strukturen vom alten Modell des Organismus und letztlich des konsistenten, allwissend verständigen Subjektes lösen musste. Musik hatte etwas Besonderes zu bedeuten, und der hörende Mensch versuchte es sich hörend anzuverwandeln, sich ihm hörend anzuverwandeln. Heute haben wir unser Spektrum erweitert, verändert, nachdem wir beobachtet haben, wie gerade Komponisten wie Strawinsky die Position des klassisch-romantischen Subjekts aushebelten, wie in der seriellen Musik subjektlose, mit rationalem Kalkül erstellte Klanggebilde favorisiert wurden. Oder dass eine "ich-freie" Gemeinschaftsmusik wie die des Gamelan auf Bali sich zwanglos mit der Schichtenlehre Heinrich Schenkers verbinden lässt, bis in die Differenzierung ihres fremden Tonsatzes als Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund, eine Theorie, die bisher geradezu essentiell mit unserer klassisch-romantischen Tonalität verbunden schien. (Tenzer S. 140f und S.354f) Musik 7 Bali: Gong Kebyar "Oleg Tambulilingan"[Autor] In der Begegnung mit anderen Musiksystemen wären die Zeit- und Raumbegriffe, die wir in der westlichen Klassik erfahren, zweifellos noch zu überdenken. Eins aber können wir festhalten, gerade nach Strawinskys despektierlichen Worten über die geschlossenen Augen: dass der musikalische Raum sich nur in der Aufmerksamkeit entfaltet, in der Öffnung, in der Teilnahme, - von "Partizipation" war die Rede -, die Haltung der kritischen Distanz passt nicht zur Musik: Sie kann bei der Auswahl dessen, was man an sich heranlässt, eine Rolle spielen, umgekehrt kann sie auch dafür sorgen, dass die Musik zu einem angenehmen Hintergrundgeräusch absinkt, zur klingenden Tapete. Sobald ich mich ihr aber zuwende, ist der zusätzliche, verborgene Aspekt des Raumes da, der nicht deckungsgleich ist mit dem physikalischen Raum, aber auch keinesfalls als dessen Gegensatz aufgefasst werden kann, im Sinne einer anderen oder gar besseren Welt. Immateriell ist sie allerdings, - aber: [Sprecher][Autor] sagt Zuckerkandl und warnt davor, dies als einen Rückfall in vorwissenschaftliches Denken misszuverstehen. [Sprecher][Autor] Mit Regression haben seine Überlegungen zur Wirklichkeit nichts zu tun; davon ist Zuckerkandl mit Recht überzeugt, und er weiß sich in Übereinstimmung mit der avancierten Wissenschaft. [Sprecher][Autor] Wie schon erwähnt, haben diese Gedankengänge nichts mit mystischer Schwärmerei zu tun; wir haben das Wort von der "taghellen Mystik" des Dichters Robert Musil in Erinnerung gerufen, der sich ebenfalls in einem vergleichbaren Grenzbereich bewegte. Und diese Einsichten lagen in der Luft: Rainer Maria Rilke, der in seinen späten Jahren durchaus kein Jenseitiges als gedankliche Zuflucht gelten ließ, er war es, der den Begriff "Weltinnenraum" prägte, einen Begriff, der sich mühelos mit Zuckerkandls Verschränkung des Außen mit dem Innen zur Deckung bringen lässt. Anders als bei Musil gibt es aber bei Rilke auch eine ahnungsvolle Beziehung zur Musik, in der er Kräfte wahrnimmt, wie sie Zuckerkandl am Beispiel des Magnetismus erläutert hat. [Sprecherin][Autor] Zuckerkandl dagegen sagt: [Sprecher][Autor] Der Raum, in dem sie wirklich Gestalt annimmt, ist für ihn nicht in erster Linie der Aufführungsraum, noch weniger aber das verborgene Innere des Menschen. Die beiden Welten, die der Körper und die der Töne, die Welt des physischen und des rein dynamischen Geschehens, ruhen in Wirklichkeit auf den gleichen Grundlagen. Die Wand, die von den Tönen durchstoßen wird, trennt also nicht zwei Welten, das heißt zwei Stufen der Realität, sondern zwei gleich reale, einander durchdringende Seinsweisen ein und derselben Welt, der Welt nämlich, die unseren Sinnen begegnet. [Sprecher][Autor] Musik als unerhörte Erkenntnisquelle! In einem der jüngsten Bücher zur Philosophie der Musik, in dem es allerdings in erster Linie um musikalische Werke, nicht um deren klangliche Rahmenbedingungen geht, lese ich mit Verwunderung die Schlussbemerkung über den Nachvollzug musikalischer Werke, über den Sinn des zweckfreien Spiels und die Freude am Gelingen dieses Nachvollzuges. Da öffnet sich plötzlich der Blick über die Musik hinaus: Hat sich eine solche Haltung, "die Bereitschaft zu diesen Nachvollzügen", einmal etabliert, - so heißt es da -, so muß sie nicht an die Gegenstände (Musikstücke) gebunden bleiben, an denen sie sich entwickelt hat. Wir zitieren wörtlich: [Sprecher][Autor] So steht es da, am Ende des Buches "Musikalischer Sinn", herausgegeben von Alexander Becker und Matthias Vogel. Erfahrungen, die sich verbal weit hinauswagen, wenn auch nicht so weit wie die Verse des Dichters: [Sprecherin][Autor] Um zum Anfang dieser Sendung zurückzukehren: Es bleibt eine kulturell wesentliche Erfahrung, wenn 100 oder sogar 1000 Menschen um uns herum mehr oder weniger stillhalten, - allesamt der Musik zugewandt, alle bereit, deren Raum, der Äußeres und Inneres umfasst, entstehen zu lassen, - und diese Situation begünstigt ein adäquates Hören vielleicht mehr als die quasi private, absolut störungsfreie Annäherung unterm Kopfhörer, der die Außenwelt vollkommen auszuschließen scheint, -scheinbar zugunsten der absoluten Konzentration, während man in Wahrheit jetzt mit der zusätzlichen Arbeit belastet ist, das Außen mitdenken zu müssen, das Orchester und den physikalischen Raum zu imaginieren. Die Ideologie, dass die nach innen gekehrte Denkhaltung die einzig richtige sei, ist so falsch wie die, der nichts geheuer erscheint, als was sich greifen und präzise beschreiben lässt. Mit Worten gelingt es sehr unbestimmt, was die Musik mit wenigen Tönen zu umreißen vermag: [Sprecherin] Musik 8 Japan: Shakuhachi-Flöte "Shika-no-tone" - "Distant calls of deer" | ||
Zitierte und erwähnte Literatur
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Nachweis der Musik (Lizenzliste)
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