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SWR 2 Alexander Zemlinsky: Lyrische Symphonie Skript der Sendung
(Nachweis aller Musikbeispiele siehe Lizenzliste im Anhang des Sendungstextes)
Wenn Sie bei der "Lyrischen Symphonie" von Alexander Zemlinsky an Gustav Mahlers "Lied von der Erde" denken, das 1909 - zwei Jahre vor Mahlers Tod - entstand, so ist das durchaus im Sinne des Komponisten: Zemlinsky hat selbst auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Und so wie Mahler Verse chinesischen Ursprungs verwendete, hielt sich Zemlinsky an einen indisch-bengalischen Dichter, Rabindranath Tagore, der in Europa höchstes Ansehen genoss, ja, geradezu eine Indien-Euphorie auslöste, nachdem er 1913 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte. Im Jahre 1921 unternahm er eine vielbeachtete Europareise; er selbst berichtete von einer riesigen Veranstaltung in Darmstadt: da waren im Park des Großherzogs von Hessen Menschen aus ganz Deutschland versammelt, die dem indischen Meister atemlos lauschten und ihm schließlich Fragen zum Buddhismus und zur Zukunft der Zivilisation stellten, Graf Keyserling übersetzte. Die Reise führte schließlich auch nach Prag, wo Zemlinsky als Dirigent und Komponist wirkte. Er könnte durch den leibhaftigen Besuch des "mystischen Heiligen aus dem Osten" die entscheidende Anregung bekommen haben, eine Auswahl aus dessen Gedichten zusammenzustellen: es waren sieben Liebesgedichte, die er abwechselnd einer Männer- und einer Frauenstimme zuteilte und zwar so, dass sich eine sinnvolle gedankliche Entwicklung ergibt, ein motivisch-thematisch außerordentlich intensiv und expressiv ausgestalteter Dialog. Zwei Gedichte von der Sehnsucht, zwei Gedichte von der Erfüllung der Liebe, und drei Gedichte von Loslösung, Befreiung und Abschied. Es endet nicht in Resignation, sondern in einem tiefen, indisch-asketisch getönten Seelenfrieden.Während das erste Lied mit den Worten anhebt "Ich bin friedlos, ich bin durstig nach fernen Dingen", entfaltet das zweite eine quirlig-reizende Gegenwelt der missglückten Nähe: Stellen Sie sich ein heillos verliebtes Mädchens vor, das auf die Vorbeifahrt der fürstlichen Kutsche wartet: "Mutter, der junge Prinz muss an unserer Türe vorbeikommen" - sie kann an nichts anderes denken und möchte um jeden Preis seine Aufmerksamkeit erregen. Nach einer Minute kristallisiert sich ein besonders schöner musikalischer Gedanke heraus: "Ich weiß wohl, er wird nicht ein einz'ges Mal zu meinem Fenster aufblicken." 1) Zemlinsky (Conlon) Tr. 2 ab 1:12 bis 1:25 Die Sängerin ist Soile Isokoski.
2) Zemlinsky (Conlon) Tr. 2 ab 2:01 bis 2:10 Beim nächsten Mal erscheint der Gedanke allein im Orchester, sozusagen als Antwort auf die Frage: "Warum schaust du mich so verwundert an, Mutter?"
3) Zemlinsky (Conlon) Tr. 2 ab 3:29 bis 3:53Das Mädchen hat ihm, als er vorüberfuhr, eine Rubinenkette in den Weg geworfen: sie hinterließ nur eine rote Spur im Staube. Der junge Prinz hat nichts bemerkt. 4) Zemlinsky (Conlon) Tr. 2 ab 4:45 bis 6:15 (Track-Ende), Tr. 3 bis etwa 0:50 (Beruhigung) Wollen Sie diese irisierenden, stillen Akkorde im Gedächtnis bewahren? - wir kommen gleich darauf zurück. Doch noch etwas zu dem Mädchen, das auf den jungen Prinzen wartet: sie wartet in großer Unruhe, bewegt sich in grazilen Figuren hierher und dorthin, das Orchester assistiert mit frohem Gewisper, - ein raffiniertes Geflecht von Motiven: 5) Zemlinsky (Conlon) Tr. 2 Anfang bis 0:17 (mit 1. Gesangszeile) Die Stimme von Soile Isokoski.
6) Zemlinsky (Beaumont) Tr. 2 Anfang bis 0:17 (mit 1. Gesangszeile) Die Stimme von Turid Karlsen.
7) Zemlinsky (Conlon) Tr. 2 0:26 bis 0:44 Oder wiederum in einer anderen Aufnahme: 8) Zemlinsky (Beaumont) Tr. 2 0:26 bis 0:44 Sie sehen wie unterschiedlich ein und derselbe Notentext klingen kann!
9) Zemlinsky (Conlon) Tr. 3 1:26 bis 1:48 Und gleich noch einmal in der weniger sentimentalen Wiedergabe durch Håkan Hagegård: 10) Zemlinsky (Chailly) Tr. 3 1:31 bis 1:56 Gegen Ende des Liedes wird das Motiv mit stiller Eindringlichkeit wiederkehren:
11) Zemlinsky (Chailly) Tr. 3 ab 4:24 hoch bis 6:08 (Ende) Auch das vierte Lied - wieder von der Frauenstimme gesungen - entfaltet Aspekte erfüllter Liebe:
das rhythmische Motiv "Befrei mich", stürmt durch alle Höhen und Tiefen des Orchesters. "Befrei mich - von den Banden deiner Süße, Lieb!" Der Sänger ist Bo Skovhus. 12) Zemlinsky (Conlon) Tr. 5 ganz "Befrei mich" 2:00 Bo Skovhus sang. Liest man die Verse von Rabindranath Tagore, ohne die Musik zu kennen, würde man heute vielleicht von einer etwas schwerblütigen Gedankenlyrik reden, deren Bilderwelt nicht gerade durch Exotik fasziniert; vielleicht liegt es an der Übersetzung, also daran, dass Tagore gerade keinen Hans Bethge als Vermittler gefunden hat. Um so erstaunlicher, was für eine ausdrucksstarke Musik diese Verse bei Zemlinsky entfesseln.Nehmen wir etwa die pure Text-Aussage des eben gehörten Gesanges: Von den Banden deiner Süße ist die Rede, was später näher erklärt wird: "ich bin ... eingefangen in die Umarmungen deiner Zärtlichkeit". Der "Wein der Küsse" wird zugleich wie ein Nebel von schwerem Weihrauch empfunden, der das Herz erstickt. Es fehlt also an Luft, doch im Text heißt es: "Öffne die Türe, mach Platz für das Morgenlicht." Und was er sonst noch von der Geliebten verlangt, ist mit keinem Kommentar plausibel zu machen: sie soll ihn von ihrem Zauber befreien und ihm dann auch noch den Mut verleihen, ihr sein befreites Herz darzubieten. Wie das?Hören Sie die Musik! Es geht! Und mit welchem Überschwang! Die Befreiung wird einen tieferen Sinn haben. Kein Zweifel! Die nächsten Lieder werden es zeigen. Hier ist das hinreißende Stück noch einmal in der Fassung mit Håkan Hagegård: 13) Zemlinsky (Chailly) Tr. 5 ganz "Befrei mich" 2:06Wenn gegen Ende des nächsten Liedes ein feierliches Thema aufgegriffen wird, das Sie in dieser Einführung noch nicht gehört haben - es erklingt fanfarenhaft ganz am Anfang der Lyrischen Symphonie -, dann springt auch dieses Befreiungsthema wieder auf die Bühne, - eine Antwort auf die Worte: "Träume lassen sich nicht einfangen, meine gierigen Hände drücken Leere an mein Herz und es zermürbt meine Brust." 14) Tr. 6 ab 2:25 ("...meine gierigen Hände") bis ca. 4:00 (blenden ab 3:37)Mit dem Blick auf die Wiederkehr dieser Themen sind wir noch nicht ganz am Ende des Werkes angelangt: es mündet in eine Region überirdischer Ruhe. Aber das erste der beiden Themen, die Sie gerade gehört haben, schlägt sehr deutlich die Brücke zurück zum ersten Satz, von dem Alexander Zemlinsky selbst gesagt hat: "Im Vorspiel und 1. Gesang ist die Grundstimmung der ganzen Symphonie gegeben." Und was er hervorhebt, ist der tiefernste, sehnsüchtige, doch unsinnliche Ton, der das Werk durchziehe. Wenn ich Ihnen aber gestehe, dass meine erste Assoziation lange Zeit die eines historischen Monumentalfilmes war, Pompejus, Kleopatra oder dergleichen, so haben Sie auch den Grund, weshalb wir unsern Überblick mit dem zweiten Satz begonnen haben: es ist eben kein alter Film, es ist ein vielschichtiges musikalisch-emotionales Tableau, das in der Lyrischen Symphonie von Alexander Zemlinsky entwickelt wird: in wenigen Minuten wird sich für Sie ein unsichtbarer Vorhang öffnen, es wird live etwas anders klingen als jetzt, aber in jedem Fall - wie von Zemlinsky gewünscht - "tiefernst" und "sehnsüchtig", jedoch - anders als er damals meinte - ganz gewiss auch: sehr sinnlich. "Ich bin durstig, ich bin durstig nach fernen Dingen", so beginnt das erste Lied, "meine Seele schweift in Sehnsucht, den Saum der dunklen Weite zu berühren. O großes Jenseits, o ungestümes Rufen deiner Flöte."15) Zemlinsky (Chailly) Tr. 1 Anfang bis 0:53 Lizenzliste
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