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Tumult und Grazie - Über Georg Friedrich Händel (Karl-Heinz Ott) SWR 2 Buchbesprechung
Sendung "Musik aktuell"
17. April 2009, 15.05 bis 16.00 Uhr

darin 9'20
Skript des Beitrags / Moderation: Jan Reichow
Redaktion: Dr. Lotte Thaler, Burkhard Egdorf




"Tumult und Grazie - Über Georg Friedrich Händel" (Karl-Heinz Ott)

Die Überschrift hat mich sofort überzeugt: ja, "Tumult und Grazie" - das gehört zu den Formeln, mit denen man eine gewohnte Erscheinung schlagartig in ungewohntes Licht tauchen kann. Weiter hinten im Buch nutzt sich die Wirkung ab, etwa in Kapitelüberschriften wie: "Barock und Wirrwarr" - "Pomp und Pifa" - nun gut.

Aber das erste Kapitel scheint einzulösen, was der Titel verspricht: wie kommt es überhaupt zu einem neuen Händelbild - die Ära der neuen alten Aufführungspraxis hat es gebracht, und Karl-Heinz Ott scheint sie mit unbedenklichem Schwung zu reflektieren. Das trägt den Leser vorwärts, und es dauert eine Weile, - bis sich die Stolperstellen häufen.

Wenn man sich für französische Barockmusik interessiert - und warum nicht? warum nur für Händel? - irritiert es, wenn François Couperin als ein Komponist bezeichnet wird, der bis heute "Klavierschülern gelegentlich über den Weg läuft" (S.41); dazu passt es, wenn die irgendwie zahlreichen "fanfarenartige[n] Werke" von Lully hervorgehoben werden, als sei dessen "Freiluftmusik" bemerkenswerter als seine genialen Opern. Und folgerichtig explodiert hier zum ersten Mal ein kurzer Hauptsatz in zahllose Anhängsel, ich zitiere:

"Bei größeren Festlichkeiten wie Bällen, Balletten und Empfängen wurden die Kammermusiker allerdings durch die Mitglieder der Grande Écurie verstärkt, wobei es aber auch innerhalb der Kammermusiker nochmals zwei Gruppierungen gab, deren kleinere La petite bande genannt wurde und einen Teil jener größeren mit der Bezeichnung La grande bande bildete, welche wiederum aus jenen berühmten Vingt-quatre Violons du Roi bestand, die nichts weniger als subalterne Hofmusikanten waren, sondern allesamt einen Degen trugen, keine Steuern zahlen mussten und sich wie Aristokraten fühlen durften." (S.41f)

Nun? Haben Sie's verstanden? Welche Musiker welcher Gruppierung genau waren nichts weniger als subalterne Hofmusikanten? Nichts gegen lange Sätze, also solche mit langem Atem, - aber hier kommen sie aus der saloppen Sprechweise dessen, der kein Ende finden kann und durch name dropping imponieren will. Die eilig niedergeschriebene Form vertrüge durchaus korrigierende Eingriffe, da muss nicht auf einer einzigen Seite zweimal stehen, dass irgendetwas "reichlich wenig" sagt (S.226); allerdings bin ich soeben auch bei dem Wort "zweimal" zusammengezuckt, weil ich mindestens zehnmal in dem Buch der Ausdrucksweise begegnet bin, wenn das eine nicht der Fall sei, dann das andere "schon zweimal nicht". Ganz zu schweigen von der ewigen Wiederkehr des Wortes "verdrillt", das zuweilen Bach klarer gegen Händel absetzen soll, oder der einmaligen Begegnung mit dem Wort "Rezitativ-da-capo-Arien-Klapparatismus".

Die Befürchtung, "dass mehrstündige englische Gesänge etwas Dumpfes bekommen könnten", vermag hier Hand in Hand zu gehen mit dem Hinweis, es zeige sich in "jedem blind herausgegriffenen englischen Satz", dass es sich dabei um zahllose I-Laute handelt, die in der Musik etwas Enges, Gequältes und Kreischiges besitzen können. (S.232)
Und - wie gesagt - nach Stunden wohl plötzlich auch etwas Dumpfes.

Insbesondere der Sprung durch die Epochen geschieht, so hat man den Eindruck, nach Lust und Laune: "ein gewisser Immanuel Kant" darf herhalten, wenn es sich um die Genussfeindlichkeit einer händelfremden Einstellung handelt, wenig später auch schon Hegel mit dem von ihm prognostizierten Ende der Kunst, oder auch - hier plötzlich ganz genau - "der 1957 geborene französische Pianist Pierre-Laurent Aimard" mit einer harmlosen Bemerkung über Lully und Skrjabin, und dann wird als ästhetischer Joker ausgerechnet der Kölner Kardinal Meisner aus dem Ärmel gezogen, sogar mit einem gewissen Wohlwollen, das sich provokativ gibt, - das ist kein quasi spontaner Gag, nein, es gibt eine geschlagene Seite her. (S.239 f)

Und immer wieder gegen Adorno, als seien dessen 35 Seitenhiebe auf Händel wirklich so diskutabel, dass Barockmusikkenner sich jetzt erst wieder wohler fühlen könnten.
Dabei ist es absurd, Adornos Bevorzugung Bachs einer christlichen Sinnenfeindschaft zuzuschreiben; vielmehr faszinierten ihn die musikalischen Techniken, die sich ganz im Sinne einer fortschreitenden Rationalität nach Max Weber deuten ließen. Ebenso absurd ist es aber, Bach selbst auf die Kreuzstabkantate festzunageln, wie es Karl-Heinz Ott tut. Ich zitiere:
"Bei Bach kann Adorno wenigstens ein ostinates memento mori und die damit zusammenhängende lutherische Weltverachtung entdecken. Händels Musik dagegen kennt eine Sanftmut und ein Jubilieren, die ihresgleichen suchen." (S.245)
Das ist barer Unsinn, sowohl was Adorno als auch Bach und Luther angeht. Kann man die Strömung des Pietismus, mehr als 100 Jahre nach Luther entstanden, typisch lutherisch nennen?
Hat Bach nicht auch Händels prächtigsten Ja-sage-Musiken mindestens Adäquates an die Seite gestellt? Nehmen wir nur das Weihnachtsoratorium, Kantaten wie "Jauchzet Gott in allen Landen" und -zig andere, die Ouvertüren, die Suiten, die Brandenburgischen Konzerte.

Nichts gegen Händel, aber irgendwann erwacht die Neigung, ihn gegen seine Liebhaber zu verteidigen. Warum so lähmend viele Worte über die verbreitete barocke Praxis, fertige Stücke aus eigener und fremder Feder in neue Werke einzubauen? Muss man da wirklich Munition suchen bei den Brüdern Goncourt, Marcel Proust, Sainte-Beuve und anderen Nicht-Komponisten späterer Jahrhunderte? Im Händel-Artikel des leicht zugänglichen MGG-Lexikons ist das sogenannte Parodie-Problem ganz erschöpfend aus Sicht der Händelschen Epoche und der unmittelbar folgenden Zeit des Genie- und Originalitätskults dargestellt.

Es ist vielleicht eine Kleinigkeit, mal eben von Bachs Choral "O Haupt voll Blut und Wunden" zu sprechen, wenn man die Melodie meint (S.276); aber nicht er hat ihn aus Hasslers altem Liebeslied im Parodieverfahren hergestellt, schon lange vor Bach war die ehemals beschwingte Melodie zum Sterbe-Choral egalisiert worden.
Man könnte sagen: sei's drum, wir wollen doch nicht zu pedantisch sein, wenn die große Linie stimmt. Mich stört es nicht, wenn im Zug einer durchaus bedenkenswerten Tendenz zum Mechanischen die Drehorgel genannt wird, ein technisches Gerät mit einem aufwändigen Steuersystem. Es ist auch richtig, dass dieses Gerät u.a. als Leierkasten bezeichnet und von einem Leierkastenmann gespielt wurde. Grundfalsch ist es aber, einen solchen Leierkastenmann - wie es hier geschieht - mit Schuberts "Leiermann" gleichzusetzen: die leeren Bordunquinten im letzten Lied der "Winterreise" deuten unmissverständlich auf die mit einem Rad "gestrichene" Drehleier, das traurige Relikt einer versunkenen Zeit.
Interessanter wäre es gewesen, an dieser Stelle über die Orgelwalzen eines gewissen Mr.Colt zu sprechen, die ein erstaunliches Händel-Repertoire für alle Zeiten festgehalten haben! Fazit: "Die Tempi waren meist sehr schnell, ja zum Teil atemberaubend".
Woher ich das habe? Aus dem ersten Kapitel eines Buches, das ein Händelfreund dieser Kategorie wohl nicht anrühren würde: es heißt "Bach-Interpretation" von Paul Badura-Skoda.

Mit all den Schnitzern versöhnen mich die im Schnellverfahren angerissenen Barock-Theorien durchaus nicht, die Sprünge von Leibniz zu Descartes und Wölfflin, von Sigmund Freud zu Gilles Deleuze oder Jacques Lacan, über Benedetto Croce und Hugo Friedrich schon wieder zu Lacan und dann zu Nietzsche, und noch einmal zu Lacan und zu Philippe Ariès, zu den Psychiatern um Charcot, den libidinösen Verzückungen der Theresa von Avila, und dass der Bruder von Lacan ebenfalls Mönch war, von dem übrigens Marie Balmary in ihrem 2005 erschienenen Buch erzähle. Und die habe von jenem erfahren, es gehe um ein Wir-Mysterium, das gar nicht zu erklären sei; und wenn man ein Ich und ein Du zusammenzähle, habe das "schon zweimal nichts damit zu tun"! (S.281)

Der Ton des Buches ist zum einen Teil ranschmeißerisch, zum anderen insiderisch. Ich erwähnte vorhin das sogenannte "name dropping", mit dem man sich in Gesellschaft Respekt verschafft, aber niemanden wirklich was mitlernen lässt.
Würden Sie z.B. auf einer Party beiläufig das Wort "onomatopoetisch" verwenden? - Aber nachfragen vielleicht auch nicht, - obwohl es keine Schande wäre, das Gespräch auf Lautmalerei zu lenken, auf das "Quaken" der Frösche oder das "Tirilieren" der Vögel und die Umsetzung der lautmalenden Worte in Musik. Zutiefst erklärungsbedürftig bleibt aber der Satz, dass es bei Händel "musikalisch-onomatopoetische Sonnenauf- und Sonnenuntergänge" (S.290) gibt; denn sie vollziehen sich in der Natur doch relativ lautlos.
Und in diesem Sinne verabschiede ich mich ganz onomatopoetisch von diesem Buch, indem ich schweige.





Karl-Heinz Ott:
Tumult und Grazie - Über Georg Friedrich Händel
Hoffmann und Campe / Hamburg 2008
ISBN 978-3-455-50091-2

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