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SWR2 "Musik aktuell"
Frederick Delius ist ein relativ unbekannter Komponist, vielmehr: er ist es geworden: noch um 1900 sah das ganz anders aus, fast hätte man ihn irgendwo neben Debussy, Pfitzner, Strauß eingeordnet und entsprechend in die Konzertprogramme aufgenommen. Aber irgendwann entstand wohl die brennende Frage: Ist er ein eigentlich britischer Komponist? Nein, er war zwar in England geboren, seine Eltern stammten jedoch aus einer Bielefelder Kaufmannsfamilie, er hatte in Leipzig studiert, war mit Edvard Grieg und Christian Sinding und anderen Skandinaviern befreundet, lebte in Paris, wurde im Dritten Reich als Brite gebrandmarkt, und fühlte dezidiert unbritisch. Zudem sah er sich selbst als Genie (S.161 f), ja, als "Künstler-Übermenschen", der sich nicht um Selbstverständlichkeiten wie den eigenen Ruhm kümmern müsse, dafür hatte "das Schicksal" zu sorgen. Es ist eine interessante Frage, ob er - wäre er seit 1900 kontinuierlich aufgeführt worden - tatsächlich einen Platz neben Strauss und Mahler, oder sagen wir: Edvard Elgar und Gustav Holst hätte einnehmen können.
Das neue Buch der verdienstvollen Reihe Musik-Konzepte wird - 74 Jahre nach dem Tod des Komponisten wohl nicht die Rolle spielen können, die 55 Jahre nach Mahlers Tod das Adorno-Buch spielte.
Er hat Nietzsches Zarathustra als Vorlage für eine Art säkulare Messe genommen. Jedoch: "Schwimmen, so der späte Nietzsche, sei der eigentümliche Bewegungsmodus, dem der Hörer Wagner'scher Musik ausgeliefert sei, statt dass sie ihn zum Tanzen reize. Was aber fiel Frederick Delius zu Nietzsche und Tanz ein? Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg." (S.108 f) Worin wiederum - nach Nietzsche - nun aber auch "nichts von Grazie" und erst recht "kein Tanz" enthalten sei. Über das heute vielleicht bekannteste Delius-Werk, die Oper, die er nach Kellers Novelle "Romeo und Julia auf dem Dorfe" geschrieben hat, erfahren wir allerhand Negatives: z.B. dramatische Probleme und ein ungeschicktes Libretto (S.149): Noch wichtiger ist, dass Delius das Libretto der gesamten Oper fast völlig von den gesellschaftlichen Umständen bereinigte, die in der Novelle nicht nur präzise geschildert, sondern auch für das Verständnis der Protagonisten nötig sind. Hinsichtlich der Musiksprache ist davon die Rede, dass "das unverbundene Nebeneinanderstellen von Dur- und Moll-Akkorden oft exotisch" wirke, überhaupt stelle "Delius gerne Akkorde als reine Farben nebeneinander, was seine Zeitgenossen dem 'Koloristiker' nicht nur positiv auslegten", Vergleiche mit Richard Strauss allerdings seien interessanterweise "öfters zum Nachteil des Komponisten der Salome und der Elektra ausgefallen", was sogleich durch eine nachfolgende Bemerkung wettgemacht wird: Die Ähnlichkeit sei jedoch nur oberflächlich, wenn man von einigen allerdings prominenten Melodien absehe, die deutlich an Strauss'sche
Tondichtungen erinnern.
"Nicht sein lyrisches Idyll, sondern die von Delius so geschmähte Elektra erwies sich auf die Dauer als das überlebensfähige Werk."Vielen Dank für den Hinweis! Ein anderer Aufsatz beginnt mit den Sätzen: "An Delius' Musik wurde immer wieder kritisiert, sie sei formal zu frei. In dieser Studie soll versucht werden, dieses Argument zu entkräften, indem der Aspekt des 'Rhapsodischen' (...) in den Mittelpunkt gerückt wird." (S.179)Ich kann mir die Kritik gar nicht vorstellen, dass etwas "formal zu frei" sei, es sei denn, sie komme von einem musikalisch Gehbehinderten, der verständlicherweise ohne Krücken und Geländer nicht zurechtkommt. Eine wirre Form, oder eine beliebig zusammengestückelte, würde allerdings auch durch den Begriff des Rhapsodischen nicht gerettet. Warum man aber auf ein ästhetisches Konzept der Vielstimmigkeit zurückgreifen muss, das der russische Philosoph Michail Bachtin am Werk Dostojewskys entwickelt hat, bleibt - mir jedenfalls - verborgen. Dabei hat einer der Autoren dieses Bandes, Guido Heldt, bereits im Lexikon MGG ganz treffend gesagt, worin die Herausforderung durch Delius besteht: nämlich, "seine Musik einzubinden in ein Netz europäischer Bezüge, das wiederum einzusetzen wäre in ein differenzierteres, weniger auf die vermeintlich zentralen Entwicklungen reduziertes Bild der Musikgeschichte zwischen 1880 und 1930, als es die Musikwissenschaft bislang zu schreiben vermocht - oder versucht - hat." (MGG neu, Personenteil, Artikel Delius Sp. 753).Andererseits hat die Musikwissenschaft heute vielleicht auch ganz andere Aufgaben, als dieses europa-interne Netz enger und enger zu knüpfen, bis auch noch der kleinste Fisch in seinem Nährwert untersucht werden kann. Was mich irritiert, ist der spürbare Mangel an Begeisterung unter Experten.
Musik-Konzepte 141/142
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