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SWR 2 Buchbesprechung (Autor: Jan Reichow)
Thema: Die Kunst des Übens von Michael Wessel
Beitrag (9'), gesprochen von J.R., innerhalb der Sendung "Musik aktuell"
Gesamtmoderation: Lotte Thaler
Sendetermin: 28. März 2008, 15:05 bis 16:00 Uhr
Redaktion: Dr. Lotte Thaler


Was heißt Üben?
Wer denkt da nicht an Fingerübungen und Tonleitern?
Nichts davon in diesem Buch von Michael Wessel. Kompakte 450 Seiten, und immer auf der Höhe des Problems!
Wieviel Tage braucht man eigentlich, um dieses Buch zu lesen und zu verstehen, muss man die einzelnen Kapitel nicht regelrecht durchdenken und rein verbal - üben?
Ich rechne mal 30 Tage, wenn man außerdem noch Zeit haben will, die täglichen Übungen am Instrument zu absolvieren. Aber wenn man dann auch noch im Zusammenhang mit Debussy auf Marcel Proust gestoßen wird, Seite 391 ff, - nur mal angenommen: man fängt Feuer und legt sich die 10 Bände zu: "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", - wo bleibt da die kostbare Zeit des Übens?
Müsste man mit Proust nicht zwangsläufig anfangen, zunächst mal leben zu üben?

Für Michael Wessel keine Frage: Da steht es auf S. 370:

" Indem ich mich täglich in den Dienst einer mir anfangs fremden Sache stelle, indem ich mich täglich in der Disziplinierung meiner Leidenschaften und der Erkenntnis meiner Empfindungen und Gefühle übe, übe ich im Spiel auch für den Ernstfall der äußeren, sozialen Wirklichkeit. Am Medium meines Instrumentes entwickle ich Tugenden, deren erfolgreiches Wachstum ich nirgendwo sonst so unmittelbar kontrollieren könnte. "
(Leise Zweifel melden sich: gibt es nicht auch unsympathische Musiker? Aber dann kommt der entscheidende Satz:)
" Üben hat Bezug zum Leben, Üben ist eine Referenz ans Leben. "

Also: In diesem Buch geht es um erfüllte Zeit, nicht um hohles Wiederholen, sondern um "Die Kunst des Übens", es ist ein "Wegweiser zu inspiriertem Üben und Interpretieren". Aber eins fehlt im Titel: es ist ein Buch für Klavierspieler, darüber könnte der Hinweis auf die Beiträge des Geigers Ulf Hölscher, der Sängerin Juliane Banse oder der Klarinettistin Sabine Meyer leicht hinwegtäuschen.

Wenn man bedenkt, wieviel Zeit ein Geiger z.B. damit verbringt, sich einen brillanten Springbogen zuzulegen, Intonationsprobleme bei Doppelgriffen oder in hohen Lagen zu bewältigen, ein wandlungsfähiges Vibrato zu entwickeln usw., bevor er sich mit Gewinn den großen Werken zuwenden kann, - soll man ihm dann auch noch raten, sich wochenlang damit zu beschäftigen, wie der Klavierspieler, den er ohnehin immer zu laut findet, durch kluges Üben lernt, das gis-moll-Präludium aus dem 2. Band des Wohltemperierten Klaviers, Mozarts c-moll-Fantasie, Chopins sog. "Revolutionsetüde" oder das Debussy-Prélude "Brouillards" inspiriert zu interpretieren?

Wahrscheinlich hat man tatsächlich den größten Nutzen von diesem Buch, wenn man genau diese 4 Werke parallel zur Lektüre durcharbeitet.

Und so sehr es Geigern oder Sängern auch nützen könnte, Hunderte von eingestreuten oder vorausgeschickten Bemerkungen zu kennen und für das eigene Üben anderer Werke zu beherzigen, - es würde an seelische Grausamkeit grenzen, ihnen diesen Umweg über das Klavier zuzumuten.

Also gut, - es ist ein Buch für Pianisten. Und zwar für solche, die auch imstande sind, die Hände von den Tasten zu nehmen und nachzudenken. Die vielleicht sogar Adorno gelesen haben und über Jürgen Uhdes Werk "Denken und spielen" nicht an den eigenen Fähigkeiten irre geworden sind.

Noch etwas muss man mögen: die Aufteilung aller Probleme in Dialoge, oft durchaus flapsige, jugendbewegte, studentisch-forsche, was ja auch erfrischend sein kann. Etwa wenn Student A von einem Geschwindigkeitsrekord bei Zacharias spricht: "Kein Wunder, dass er bei jeder Gelegenheit agogisch das Beinchen heben muss, wenn er noch Zeit für die Gestaltung haben will" oder Glenn Goulds Version einer Mozart-Stelle als "Gipfel an Banalität und Lächerlichkeit" bezeichnet, worauf Student B entgegnet: "Vielleicht ist es das, was Teddy von den Interpreten verlangt: Kritik am Kunstwerk zu üben." Student A: "Hör bloß auf!"

Teddy spricht zuweilen auch persönlich mit, und der genaue Nachweis des Zitates fehlt nicht: zu finden also bei Theodor W. Adorno.
Auch Jürgen oder Siegfried oder Didi beteiligen sich unmittelbar am Gespräch, das sind dann Jürgen Uhde, Siegfried Borris und Donald Davidson in wörtlichen Zitaten usw., selbst vor Jahrhunderten verstorbene Meister mischen sich ein.

Sobald man aber einmal diese Irritationen überwunden hat, verwandelt sich das Buch eine wahre Fundgrube von Einsichten, Denkanstößen, Übe-Konzepten, wo auch immer man es aufschlägt. Und immer wieder erlebt man die Attraktivität und auch - im wörtlichen Sinn - die Fragwürdigkeit der verschiedenen Methoden: das Tagebuch des Assistenten, der Bach übt, klingt anders als das des Bücherwurms, der Mozart übt, das Tagebuch des Champions, der Chopin übt, anders als das des Didaktikers, der Debussy übt, - aber jeder hat etwas zu geben: während der sogenannte Bücherwurm sich mit mentalem Lernen befasst, mit dem Zerschneiden des Werkes in übersichtliche Teilchen und mit deren allmählicher Zusammensetzung, auch rückwärts (!), beschäftigt sich der Champion mit der Suche nach organischen Spielbewegungen, mit Sprungtechniken, Absichtslosigkeit beim Treffen, mit der Sonderrolle des Daumens, der "Zickzacktechnik" und vielem anderen.

Und der Didaktiker bewertet diese beiden Methoden: die eine bestehe darauf, dass Üben
" Bewusstwerdung und Bewusstmachen bedeute; alles was im Stück verborgen sei, müsse ein Interpret verstehen lernen und sich bewusst machen. Der Champion hingegen glaub[t]e nicht an die Macht des Bewusstseins. Wesentliche Teile des Spiels, 'am besten alles', müssten beim Üben so weit automatisiert werden, dass man sich beim Vorspiel vollständig auf sein funktionierendes Unterbewusstsein verlassen könne. Zwar ist mir der sportive Geist des Champions (überhaupt die Geistlosigkeit, mit der er Musik ausübt) ferner als der reflektierende des Bücherwurms, doch glaube ich, dass der Champion eher weiß, welchen glückvollen Zustand ich meine. "
(S. 373)
Von diesem Zustand hatte der Didaktiker in dem Kapitel "'Fließend' üben" gesprochen; er meint, der Unterschied sei,
"dass er (der Champion) ihn erst ganz am Ende seines Übens als Belohnung kassieren kann, während ich ihn auch während des Übens bewusst durch absolute Versenkung herzustellen versuche."
(S. 373)

Doch all dies wird konkret bis in die Verästelungen des Notentextes verfolgt, bis zu Fragen des Pedals bei Mozart, der musikalisch-rhetorischen Figuren bei Bach, der klassischen und romantischen Bogenziehung usw.

Und das wichtigste: wenn man ausgiebig in diesem Buch gelesen hat, wächst ein unwiderstehliches Bedürfnis, nämlich: sich ans Klavier zu setzen und zu üben. Und wenn einem dies verschlossen ist, sei es, man singt, man spielt Klarinette, man geigt, oder nichts von allem, man ist Laie: könnte es wohl sein, dass man einzelne Klavieraufnahmen aus dem CD-Regal nimmt und mit größter Aufmerksamkeit hört. Wäre das nicht ein schönes Ergebnis?

Eins hat mich allerdings gewundert: In diesem gewaltigen Kompendium, das von Wissen und Zitatfreudigkeit überquillt, habe ich ein paar Namen vermisst, die zum Üben durchaus Sachkundiges beigetragen haben: z.B. Alfred Cortots "Grundbegriffe der Klaviertechnik", Czeslaw Mareks "Lehre des Klavierspiels", auch ein schönes Buch von Seymour Bernstein "Mit eigenen Händen - Selbstverwirklichung durch kreatives Klavierüben", übrigens: durchaus keine esoterische Übung, ebensowenig wie das folgende von Martin Gellrich: "Üben mit Lis(z)t", wobei in das Wort "List" ein eingeklammertes z eingefügt ist, Untertitel: "Wiederentdeckte Geheimnisse aus der Werkstatt der Klaviervirtuosen".

Überflüssig geworden sind diese Werke durchaus nicht, aber wenn Sie keins davon besitzen, würde ich Ihnen raten, mit dem hier besprochenen zu beginnen:

Michael Wessel: "Die Kunst des Übens, Wegweiser zu inspiriertem Üben und Interpretieren, mit zehn Interviews namhafter Interpreten zum Thema."
Und am besten fangen Sie ganz hinten an, mit den hochinteressanten Ausführungen des Klavierduos Stenzl.
Da heißt es z.B.:
"So sehr ich am Anfang des Interviews für künstlerische Vorstellungen plädiert habe, so sehr muss ich doch betonen, dass das 'Sportliche', die rein körperliche Seite des Spiels, das Trainieren von Muskeln und Fingern usw. ein unglaublich wichtiger Bestandteil unserer Arbeit ist. Ich halte viel davon, das zu trennen."

Tja, - nach der Lektüre des Buches hätte man damit bestimmt nicht mehr gerechnet...

Michael Wessel, Die Kunst des Übens, cover scan

  • "Die Kunst des Übens" erschien im Verlag Florian Noetzel, hat 452 Seiten und kostet 35 Euro.
    ISBN 3-7959-0887-6



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