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SWR2 "Musik aktuell"
darin (6:51) Buchbesprechung
Komponisten im Exil (Zehentreiter) von Jan Reichow
Sendung 15. August 2008, 15.05 - 16:00 Uhr
Skript des Beitrags / Moderation: Jan Reichow
Redaktion der Sendung: Dr. Lotte Thaler


Der Titel des Buches ist korrekt, aber nicht gerade originell: "Komponisten im Exil". Das klingt in meinen Ohren nach einer etwas abgeklapperten Konzertserie, und der Untertitel "16 Künstlerschicksale des 20. Jahrhunderts" irritiert mich zunächst durch die Zahl 16, - in der Tat könnten es ebensogut 15 oder 21 sein -, aber dann vor allem durch das Wort "Künstlerschicksale". Warum denn nicht einfach "Lebensläufe im 20. Jahrhundert"?

1927 veröffentlichte Emil Ludwig "Vier Bildnisse" - gewidmet Rembrandt, Beethoven, Weber, Balzac -, und er überschrieb das Ganze: "Kunst und Schicksal". Zweifellos eine pathetische Kombination, wenn auch ganz aus dem Geist jener Zeit. Aber heute?
Zwar findet man auch in dem posthum herausgebrachten Schönberg-Buch von Alexander L. Ringer gleich am Anfang die Überschrift: "Ein österreichisch-jüdisches Künstlerschicksal", und doch verhindert das kleine Wort "jüdisch" jeden falsch-romantischen Zungenschlag.

Schwer vorstellbar, dass Strawinsky, Hanns Eisler oder Iannis Xenakis sich jemals im emphatischen Sinne "Künstler" genannt hätten.
"Als 'homo faber', als 'Erfinder von Musik', hält es Strawinsky ausdrücklich mit Tschaikowsky, der sich als Ziel setzte, in seinem Beruf genau das zu sein, was die größten Musiker gewesen seien: Handwerker..."
(Willi Schuh im Vorwort zu "Igor Strawinsky", Mainz 1957, S. 7).
Natürlich könnte man den Titel als Marginalie behandeln, vielleicht stammt er vom Verlag und hat mit Marketingüberlegungen zu tun. Eben. Ich kritisiere ihn, weil man diesem Buch besonders viele motivierte Leser wünschen möchte. Der Herausgeber Ferdinand Zehentreiter hat selbst die Essays über Arnold Schönberg und Hanns Eisler beigetragen, außerdem den besonders lesenswerten Kopfbeitrag: "Der Clash zwischen totalitären Regimen und avantgardistischer Kunst als Signum des 20. Jahrhunderts".
Wenn man geglaubt hat, es sei im Prinzip immer das gleiche, - schon Beethoven und Schubert hätten unter der Realität eines Polizeistaates gelitten -, so wird man alsbald eines besseren belehrt: im vergangenen Jahrhundert sind Formen der Machtausübung entstanden,
"die die Menschheit vorher noch nicht gekannt hatte. Die 'totale Mobilisierung' der Bevölkerung, der Zugriff auf die privatesten Regungen, die Versuche vollständiger Gedankenkontrolle sowie die Ausschaltung jeglicher Form der Opposition als Grundlagen der Macht waren zuvor in dieser Form nicht vorstellbar gewesen." (S. 11)

Dazu gehörte - unter Hitler und Stalin - ein ideologischer Totalanspruch mit entsprechenden Folgen für die Kulturpolitik. Die systemtragende Bedeutung der Propaganda machte die Kunst in jedem Fall per se zum Politikum. Und zwar:
sowohl aus der Perspektive von oben wie auch von unten, ob jemand wollte oder nicht.

Arnold Schönberg, der seine Musik von Haus aus welthistorisch und kosmopolitisch sah, wurde brutal darauf gestoßen, dass er in erster Linie Jude war, - eine Rolle, deren Zumutung er geradezu dramatisch kompensierte: er sann allen Ernstes darauf, die Musik vollständig zu opfern und als Führer des Judentums in Aktion zu treten.
Während es zu den eher peinlichen Details der Strawinsky-Biographie gehört, dass er sich im faschistischen Italien vorübergehend recht wohl fühlte und sich gern an Mussolinis Seite sah. Diesem politischen "retour à l'ordre", so der Autor Christoph Flamm, entsprachen durchaus die gängigen neoklassizistischen Ausdrucksformen in Kunst und Musik.
Aber dieses geniale kompositorische Chamäleon namens Strawinsky ist ohnehin ein Sonderfall in diesem Buch der Exile: obwohl Russe durch und durch, fand er sich im Ausland keineswegs entwurzelt, er "fühlte sich überall heimisch und in den romanischen Ländern mehr als irgendwo anders". (So sein ältester Sohn Théodore, S. 183.)

Ein völlig anderer Fall war Stefan Wolpe, der sich trotz bittersten persönlichen Ungemachs nicht der Verzweiflung überließ, sondern zeitlebens - ob im Exil oder wo auch immer - Widerstand leistete:
"eine extrovertierte, sozial engagierte, streitlustige, progressiv denkende Persönlichkeit", die "aus der Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen immer wieder neue Energien schöpfte". (S. 121)

Oder György Ligeti, der unter abenteuerlichen Umständen die Grenze in den Westen überquert hatte: mit nichts als dem Hemd auf dem Leibe und mit einer Aktentasche, in der sich neben Zahnbürste und Zahnpasta nichts befand außer seinem ersten Streichquartett und allerhand Skizzen. Was er daheim zurückließ war, wie er sagte, "eine vollständige, sowjetische Hoffnungslosigkeit." (S. 221)
Und dass er, im Westen angelangt, zuallererst nach Köln strebte, war einer Radiosendung geschuldet, die er 1956 während des Ungarnaufstandes in Budapest gehört hatte: Stockhausens "Gesang der Jünglinge".
"Es muss eine Erfahrung von schier apokalyptischer Intensität gewesen sein, inmitten der Kämpfe und der Gefahr ein Werk zu hören, in dem sprachliche Semantik immer nur dann hörbar wird, wenn engelsgleiche Knabenstimmen das Lob Gottes singen".
So die Autorin Julia Spinola. (S. 223) Aber es wäre ganz falsch sich vorzustellen, dass alle Musiker im Exil aufblühten, sie waren ja - bei aller Gastlichkeit oder Toleranz - nicht unbedingt willkommen. Detlef Gojowy sagt es, bezogen auf die USA, unumwunden: Während des gesamten 19. Jahrhunderts hatte man dort unter europäischer Prädominanz gelitten:
"Gültige Musik kam aus Europa, einschließlich Notenpapier und Dirigenten. (...) Und nun, [hinein] in den allmählichen Prozess der amerikanischen Selbstfindung seit den 20er Jahren, platzt die europäische Katastrophe des Nationalsozialismus und zwingt die besten führenden Musiker in die Vereinigten Staaten, um Lehrstühle zu besetzen und das Konzertleben zu beherrschen. Man achtete sie, aber liebte sie wenig - Béla Bartók starb unter diesen Umständen in Krankheit und Isolation. Die einzigen Komponisten, die in New York seinen letzten Weg begleiteten, waren Edgar Varése und Arthur Lourié." (S. 208)

Das Buch "Komponisten im Exil" ist - ein wenig buchhalterisch - in fünf Hauptkapitel unterteilt: Die Flucht aus der Sowjetunion (1), die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland (2), später, die Flucht aus den besetzten Ländern (3), - also nach der Expansion Nazideutschlands -, und dann eine doppelte Emigration (4): Etwa von Russland nach Westeuropa und von Westeuropa nach Amerika (am Beispiel Strawinskys und Arthur Louriés).
Schließlich die Nachkriegszeit: Große Blöcke und kleine Diktaturen (5), mit den Beispielen Ligeti, Panufnik, Isang Yun und Yannis Xenakis.

Es sind Beispiele, und dem Herausgeber ist klar, dass es sich nur um eine Auswahl handelt, - dass man wichtige Namen vermissen könnte: Kurt Weill, Ernst Toch, Bohuslav Martinú, Erich Itor-Kahn usw.; andererseits gehören gerade die Lebensläufe des letzten Kapitels zu den interessantesten: Xenakis floh 1947 aus dem von England besetzten Griechenland, er stand am existentiellen Nullpunkt. Bei Le Corbusier in Paris kam er unter, entwickelte sich zum bautechnischen Zeichner, Mathematiker und Architekten, trennte sich von seinem Arbeitgeber, um sich ganz dem Komponieren zu widmen und wurde so zu dem visionären Musik-Konstrukteur, dessen Ideen und klingende Gebilde bis heute nachwirken.
Auf der anderen Seite Isang Yun, der im deutschen Exil die alte Kultur Koreas entdeckte und zugleich eine eigenartige Sympathie für das nordkoreanische Regime an den Tag legte. Am Ende aber, nach der Entführung durch die südkoreanische Geheimpolizei, diplomatischem Hickhack und seiner Befreiung, befremdete er durch die wunderliche Besinnung auf die klassisch-romantische, westliche Musiktradition: er verliert bei uns an avantgardistischer Glaubwürdigkeit, während das moderne, gewandelte Korea Isang Yuns Konzentration auf die fernöstlichen Wurzeln, die den Westen beeindruckt hatte, als wenig tiefgehend empfindet. So sitzt man posthum zwischen allen Stühlen.

Es ist der ständige Perspektivwechsel, unwillkürlich begleitet von einem beklommenen Blick in die Zukunft, der dieses Buch über Lebensläufe des vorigen Jahrhunderts heute so bedeutsam und aktuell wirken lässt.

Eine faszinierende Lektüre!

Cover Komponisten im Exil (Hg. Zehentreiter), Henschel Verlag 2008


Ferdinand Zehentreiter: Komponisten im Exil
16 Künstlerschicksale des 20. Jahrhunderts
Henschel Verlag Berlin 2008
ISBN: 978-3-89487-532-9

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