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SWR2 "Musik aktuell"
darin (6:51) Buchbesprechung
Europäische Romantik in der Musik (Miller, Dahlhaus) von Jan Reichow
Sendung 22. August 2008, 15.05 - 16:00 Uhr
Skript des Beitrags / Moderation: Jan Reichow
Redaktion der Sendung: Dr. Lotte Thaler, Alfred Marquart (Moderation)


Wie soll man einem Werk gerecht werden, das 50 Jahre europäischer Musikgeschichte auf 1200 Seiten behandelt, in relativ kleiner Schrift?
Von E.T.A.Hoffmann zu Richard Wagner. Europäische Romantik in der Musik. Es wiegt gut 2 kg, ist also nicht gerade als Bettlektüre einsetzbar, aber es ist im übrigen eigentlich keine schwere Lektüre, eher eine aufregende: allenthalben in diesem Buch erlebt man Überraschungen: die Genauigkeit des Hinschauens zwingt uns, alle Pauschalurteile zu revidieren.

Ein Beispiel:
Wir erinnern uns, wie häufig wir bei Haydn, Mozart oder gar Beethoven gesagt haben: "Das ist ja schon reinste Romantik!" Und auch die Formel WE-BE-SCHU, die den Todesjahren Webers, Beethovens und Schuberts gilt, nämlich 1826 - 27 - 28, machte uns sicher, dass die Epochen völlig ineinander verschränkt sind. Sind sie ja auch, allerdings zuweilen anders als wir vermuten. Schon das oft zitierte Beethoven-Urteil über den Freischütz lässt fälschlich vermuten, da gebe es auch eine Affinität von Seiten des Jüngeren. Weber hatte schon um 1810 geäußert, er hasse alles, was den Stempel der Nachahmung trage und im übrigen sei er zu sehr in seinen Ansichten von Beethoven verschieden, als dass er je mit ihm hätte zusammen treffen können. (S.365) Wörtlich:
"Die feurige, ja beinahe unglaubliche Erfindungsgabe, die ihn beseelt, ist von einer solchen Verwirrung in Anordnung seiner Ideen begleitet, daß nur seine früheren Compositionen mich ansprechen, die letzteren hingegen mir nur ein verworrenes Chaos, ein unverständliches Ringen nach Neuheit sind, aus denen einzelne himmlische Genieblitze hervorleuchten, wie groß er sein könnte, wenn er seine üppige Phantasie zügeln wollte."
Tatsächlich ist bei Weber eher eine bruchlose Weiterführung der vorklassischen, Mannheimer Musikauffassung zu konstatieren, vorbei am späten Mozart und an Beethoven.

Hochinteressant wiederum, dass ausgerechnet dem genialen Melodiker Carl Maria von Weber viel später "Zerrissenheit" zum Vorwurf gemacht wird und zwar nicht nur von fachfremder Seite wie Grillparzer oder Hegel, sondern auch von Richard Wagner, eine Zerrissenheit, die aus der Stückelung dramatisch prägnanter, aber musikalisch ungenügend verbundener Partikel resultiert. (S.908)
Im übrigen wird die Oper "Euryanthe" in diesem Buch - im Vergleich zum Freischütz - als das wesentlichere Werk Webers behandelt.
Und allgemein wird man auf Fährten geführt, die manche Gestalten des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt rücken, die wir vielleicht bisher sträflich vernachlässigt haben, wenn es um musikalische Romantik geht: allen voran Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, aber auch nicht zu verachten sein Widerpart Gaspare Spontini.

Dann natürlich Rossini, aber vielleicht noch mehr Meyerbeer, dessen Oper "Die Hugenotten" hier als Jahrhundertwerk behandelt wird. Ein Riesenkapitel ist Hector Berlioz gewidmet, insbesondere seinem Mammut-Drama "Roméo et Juliette", das zumeist in einer auf ein Minimum zusammengestutzten Form zu hören ist; in Wahrheit hatte Berlioz an keinem geringereren Werk als der Neunten von Beethoven Maß genommen, wenn er sie auch vielleicht erst vom Hörensagen kannte. Seine "Symphonie fantastique" war ohne Beethovens Eroica und Pastorale kaum denkbar, was ihren Eigenwert keineswegs mindert.

Des weiteren gibt Mendelssohns "Erste Walpurgisnacht" ein großes Thema ab in diesem Buch, dann Franz Liszts "Bergsymphonie", überhaupt die nachhaltige dialektische Auseinandersetzung zwischen programmatischen Ideen und einer angeblich rein musikalisch konzipierten Sonatenform. Und natürlich immer wieder Wagner, - die Wagner-Kapitel gehen hauptsächlich auf Carl Dahlhaus zurück, der ja schon 1989 verstorben ist; es wurden also frühere Arbeiten von ihm eingefügt. Die brillanten Ausführungen zum Thema "Wagners Berlioz-Kritik und die Ästhetik des Häßlichen" sind wortwörtlich seinem Buch über "Klassische und romantische Musikästhetik" aus dem Jahre 1988 entnommen.
Um es nicht zu verschweigen: die Dahlhaus-Kapitel sind mühsamer zu lesen, während der Hauptautor des vorliegenden Werkes Norbert Miller ein begnadeter Erzähler ist, der einen von Beginn an in seinen Bann zu schlagen versteht: ja, schon mit der Überschrift der Einleitung: "Johann Friedrich Reichardt und die preußischen Anfänge der Romantik"! Hätten Sie das gedacht? Berlin als Wiege der Romantik, und der Preußenkönig, der Alte Fritz, als ihr Schirmherr?

Aber denken wir nur an seinen bedeutendsten Schützling, Philipp Emanuel Bach, der mit seinen Sonaten und Konzerten die eigene Expressivität bis an die Grenzen des damals Zumutbaren vorantrieb. Es ist völlig plausibel, und Miller beschreibt, wie sich damals gerade "in der lebhaft bewegten Einöde Berlins" eine romantische Musikästhetik entwickeln konnte, - "nur auf dem Boden einer protestantisch vorgeprägten, aufklärerisch räsonierenden und, im Formalen wie im Ausdrucksstreben, traditionalistischen Kultur", getrennt von der Wiener Klassik. (S.4)
Dieses Werk bietet eine unglaubliche Fundgrube an Details, es ist sogar ein Genuss, die 170 Seiten des Anmerkungsteils gesondert durchzustöbern. Oder, in der Mitte des Bandes die kostbare Serie der Bühnenbilder und Illustrationen von Schinkel bis Delacroix zu studieren.

Es ist ein Steinbruch des Wissens, ein Labyrinth der Einzelheiten, aber nicht ohne einen goldenen Ariadnefaden: man muss nur das Inhaltsverzeichnis überfliegen oder den 1000 Überschriften nachgehen, die Seite für Seite als Kopfzeile gegeben sind, schließlich sehr gründlich das letzte Kapitel lesen: über das Motivgeflecht der Symphonie und den romantischen "Wechsel der Töne" (S.1033). Man bekommt Lust, sich alsbald praktisch an einzelne historische Meilensteine der romantischen Musik heranzuwagen, ohne sich den Weg durch Wagner verstellen zu lassen. Berlioz zum Beispiel. "Roméo et Juliette", ungekürzt.

Nur einen Namen habe ich in diesem Riesenpanorama der Romantik von 1800 bis 1850 vermisst, und er hätte die Waagschale gewiss wieder zugunsten Wiens gesenkt: Schubert. Nur 8mal genannt auf 1200 Seiten, - eigentlich unbegreiflich.
Aber vielleicht würde er in einem dritten Band, der von 1850 bis - sagen wir -1920 reichen dürfte, dank Bruckner und Mahler zu einer Schlüsselfigur des 19. Jahrhunderts avancieren.

Titelseite Dahlhaus / Miller, Europaeische Romantik in der Musik




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