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SWR 2 Musik aktuell / Freitag 20. Februar 2009
15.05 u. 16.00 Uhr / Beitrag ca. 8 Minuten
"Eine unvollständige Geschichte der Begräbnis-Violine" (Rohan Kriwaczek)
Buchbesprechung von Jan Reichow
Redaktion: Dr. Lotte Thaler, Martin Hagen (Moderation)

Skript Version 1 (ohne Musik) 7:34 Version 2 (mit Musik) 9:55



Meine Damen und Herren, was haben die Komponisten Guglielmo Baldini und Otto Jägermeier gemeinsam?
Beide sind Ihnen unbekannt?
Schlagen Sie doch nur im Riemann oder MGG-Lexikon nach: der eine ist um 1540 in Ferrara geboren, der andere 1879 in München, von ihrer Lebensgeschichte wird einiges preisgegeben, Werke werden aufgezählt und charakterisiert, aber gemeinsam haben die beiden, - dass sie nie existiert haben. Es sind Enten, oder auch sogenannte U-Boote der Musikgeschichte.

Über den Komponisten P.D.Q.Bach, das angeblich 21. Kind von Johann Sebastian Bach, weiß inzwischen jeder Bescheid, es gibt ja sogar eine immer wieder neu aufgelegte und bereits im Titel "definitiv" oder "endgültig" genannte Biographie mit beigefügter CD und Diskographie. Es gibt auch immer wieder Autoren (wie z.B. Richard E. Efrati), die ernsthaft aus der Kleinen Chronik der Anna Magdalena Bach zitieren; denn authentischer als über die 1930 von Esther Meinell geschaffene Autobiographie von Bachs Frau kann man an den Meister ja wohl gar nicht herankommen.

Vergessen wir nicht den geigenden Amerikaner Arthur M. Abell und seine "Gespräche mit berühmten Komponisten", unter ihnen Brahms im Jahre 1896: ein samt und sonders erlogenes Buch, aus dem wir erfahren, dass der Meister - wie auch all die anderen Komponisten - zumindest in seinen letzten Monaten sehr, sehr fromm war; wir gehen sicher nicht fehl in der Annahme, dass er hier lediglich missionarischen Zwecken dienstbar gemacht werden sollte; ein gutes Werk, - ein allzugutes, denn vorsichtshalber soll sich Brahms ein 50jähriges Stillschweigen über sein heimliches Glaubensbekenntnis ausbedungen haben.

Mit alldem hat das Buch, das es hier zu besprechen gilt, überhaupt nichts zu tun. Es ist eine bibliophile Kostbarkeit, liebevoll in der Schrift Italian Old Style gesetzt und auf holz- und säurefreies, mattgeglättetes LuxoCream-Bücherpapier gedruckt, mein Exemplar trägt die Nummer 3771, ein Band der renommierten Reihe "Die andere Bibliothek", begründet von Hans Magnus Enzensberger. Es handelt sich um "Eine unvollständige Geschichte der Begräbnis-Violine" von Rohan Kriwaczek. Unvollständig wohl deshalb, weil sie erst mühsam ans Licht gezogen werden musste, und zwar gegen den erbitterten Widerstand des Vatikans, der auch für die großen Trauerviolinsäuberungsaktionen des frühen 19. Jahrhunderts verantwortlich gewesen ist. Der musikliebende deutsche Papst könnte prädestiniert sein, dieser großen deutsch-englischen Tradition endlich die Absolution zu erteilen. Da er im Moment keine anderen Sorgen hat, schlagen wir vor, ihm baldmöglichst die entsprechende Internetseite zu öffnen: Rohan minus k dot co dot und schließlich uk für United Kingdom, also:
http://www.rohan-k.co.uk

Im Mittelpunkt steht jedenfalls ein Violin-Meister namens Hieronimus Gratchenfleiß, der als Vierzehnjähriger im Jahre 1750 Schüler des G.K.Bach geworden sein soll, so heißt es da, "einem weniger begabten Vetter des berühmten Johann Sebastian". Dieser Vetter wurde in der internationalen Bachforschung, der nun wirklich auch das fernste Bachsche Familienmitglied nicht entkommt, bisher nicht registriert; dem Vernehmen nach könnte aber auch die Bachforschung längst vom Vatikan unterwandert sein, wie mir der Bach-Papst Christoph Wölfflein auf Nachfrage zumindest nicht ableugnen wollte.

Wunderbarerweise wird auch (S. 117) ein Beweis vorgelegt, dass schon Mozart in der Rolle eines Trauergeigers gewirkt hat, vielmehr eines Trauerbratschers, und zwar gleich dreimal im Mai 1791: Graf von Zinzendorf, der dies bezeuge, soll in sein Tagebuch notiert haben: "Mozart ist wahrhaftig ein Genie". Auf die Quittung der Honorarzahlung, immerhin zehn Dukaten, (was etwa 1000.- EUR entspricht), habe Mozart geschrieben: "Zuviel für das, was ich leistete, zu wenig für das, was ich leisten könnte." Der bescheidene Künstler glaubte offenbar, zu wenig geleistet zu haben, obwohl der Zeitzeuge von dem "wundervollsten Klagegesang" sprach, "der je einer Viola entsprang".
Zum Leidwesen des Autors Rohan Kriwaczek sind diese Bratschen-Stücke verloren gegangen, er hegt jedoch die Hoffnung, "dass sie sich womöglich eines Tages in der geheimen Bibliothek des Vatikans finden lassen werden." (S. 119)
Ich habe etwas recherchiert: im Mai 1791 stand Mozart sehr unter Druck, weil er die "Zauberflöte" termingerecht abliefern musste, - vermutlich hat er eine Papageno-Melodie zweckentfremdet, vielleicht ist sie ihm auch unter der Predigt eingefallen.

Mozart: Zauberflöte Tr.22 ab 3:07 Papageno "Nun wohlan, es bleibt dabei, weil mich nichts zurücke hält, lebe wohl, du falsche Welt!"

Paganini: Caprice Nr. 6 g-moll Tr. 6 Anfang bis 0:18, dann unter Text
Mozart muss sich geschämt haben, rückfällig geworden zu sein, zumal als Bratscher, - hatte er doch schon am 2. September 1778 an seinen Vater geschrieben:
"Nur eins bitte ich mir zu salzbourg aus, und das ist: das ich nicht mehr bey der violin bin, wie ich sonst war - keinen Geiger gebe ich nicht mehr ab; beym clavier will ich dirigirn..."
(Musik weg)
Da konnte er noch nicht ahnen, dass selbst ein Jahrhundertvirtuose wie Paganini dereinst die Rolle des Trauergeigers nicht verschmähen wird. Dass Beethoven und Chopin ihre berühmten Trauermärsche bei der Trauerzunft abkupfern werden. Meine Damen und Herren, was mich wundert angesichts dieses Buches, ist der mutige Notenanhang.

Bei den angeblich aus alter Zeit, z.B. aus der sogenannten "Hildesheimer Truhe" stammenden Werken von Herrn Gratchenfleiß und anderen handelt es sich offensichtlich um so jämmerlich zusammengebastelte Kompositionen, dass sie auch harthörigen oder gar verstorbenen Menschen nicht zugemutet werden dürften, um so weniger den trauernden Hinterbliebenen.

Gewiss, ein Rezensent des Buches hat geschrieben: "Man muss die Musik, von der hier die Rede ist, gar nicht wirklich hören wollen: Die traurigste Musik der Welt spielt doch in unserer Einbildung." (FAZ Holger Noltze)
Was mich aber wundert, ist die Tatsache, dass die Rezensenten sich doch immer noch ein Türchen offen halten, z.B. folgendermaßen:
"Kritiker, die das ganze Unterfangen für einen rabenschwarzen practical joke halten, liegen allerdings ebenso falsch wie diejenigen, die der aufwändigen Spurensuche im Dickicht der historischen Eventualitäten mit indigniertem Dünkel gegenüberstehen. Die Geschichte der Begräbnisvioline ist zu schön, um sie nicht zu erfinden." (literaturkritik.de Frank Müller)

Nun, ich bin keineswegs indigniert, wenn ich finde, dass es verlorene Zeit ist, dies Buch zu lesen, - jedenfalls für Geiger, bei Bratschern mag es anders sein; ich habe sogar des öfteren gelächelt ... über krampfhafte Konsequenz, lähmende Detailfreudigkeit und hölzerne Formulierungskunst.

Und habe mich zugleich über die Neue Zürcher Zeitung, die's ja in sich hat, gewundert, als sie schrieb, der Autor habe "ein Lehrstück britischen Humors geschaffen: tiefschwarz und voll Freude am eigenen Einfallsreichtum."
(Neue Zürcher Zeitung, 30. April 2008)

Ach, liebe Schweizer, das Lehrstück kostet mehr als 30 Euro, tut allerdings recht positive Wirkung - beim Verschenken.
(Nur nicht in Trauerfällen, bitte.)

Musik: Paganini Caprice D-dur bzw. h-moll Tr. 20
ab 1:01 (ohne 1. Wiederholung) 1:24



Musik:

Mozart Die Zauberflöte
...
Papageno (Dietrich Fischer-Dieskau) 0:30
Deutsche Grammophon CD |A|D|D| 449 7492 (LC0173)

Paganini aus: 24 Caprices Op. 1 (Itzhak Perlman) 1:40
EMI CDC 7471712 (LC0542)
Nr. 6 g-moll 0:25
Nr. 20 D-dur bzw. h-moll 1:24

Buch:

Rohan Kriwaczek
Eine unvollständige Geschichte der Begräbnis-Violine
Aus dem Englischen von Isabell Lorenz
Eichborn Verlag / Frankfurt am Main 2008
DIE ANDERE BIBLIOTHEK ISBN 978-38218-4591-3




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