Sie befinden sich hier:
Jan Reichow > Startseite > Texte > fürs Radio > Gegenstimme (Peter Michael Braun) Buchbesprechung SWR2

SWR 2 Beitrag in: Musik aktuell
Buchbesprechung: "Gegenstimme / Zur Situation Neuer Musik um 2000" (Peter Michael Braun)
Sendung 08. Januar 2010, 15:05 bis 16:00 Uhr
Skript der Sendung / Moderation: Jan Reichow
Redaktion: Burkhard Egdorf


Selten hat mich ein Buch so ratlos gemacht.
Einerseits kann ich keinem Komponisten den Respekt versagen, der über 50 Jahre kreativ arbeitet und ein beachtliches Werk-Verzeichnis vorzuweisen hat, seit 1978 als Professor für Komposition junge Leute in der Kunst des Komponierens unterrichtet hat. Andererseits geht es hier nicht um das musikalische Werk von Peter Michael Braun, sondern um sein Buch zur Situation Neuer Musik um 2000: Vorträge, Essays, Briefe, ein Exposé, eine Rezension und ein Interview.

Die beiden Briefe sind eine eher private Peinlichkeit, Beschwerden in eigener Sache an die Zeitschrift "musica" und an den Organisator der Donaueschinger Musiktage, der offenbar Komponisten einer "unheilen Welt" bevorzugt, statt solche des "Vollmenschlichen" und der Würde des Menschen, auf die sich auch - ich zitiere - "der große baden-württembergische Dichter Ernst Jünger berief". (126)

Mein Vertrauen in ein neues Buch mindert sich mit Druckfehlern und anderen Schludrigkeiten, mag nun der Verlag oder der Autor dafür verantwortlich sein. Aber hier könnte es fast schon Methode haben, dass man den Name Lachenmann erst beim dritten Anlauf korrekt geschrieben liest, - als stünde der sowieso nicht für eine gültige Sache. (S.27 bzw. 29)
Und wenn Braun (Seite 109) den Unterschied zwischen dem Orchesterklang eines Furtwängler und eines gewissen "Harmoncourt" hervorhebt, mit "m" wie Marta, so wundere ich mich, dass der Name auf der beigefügten Beispiel-CD richtig geschrieben ist, wobei das Beispiel selbst, eine offenbar sehr frühe Aufnahme des Concentus musicus Wien, grauslich unsauber klingt: Eigentlich hätte der Oberton-Enthusiast Peter Michael Braun ohnehin vor einer Verwendung zurückschrecken müssen.
Offenbar wurde auch das Verzeichnis der Musikbeispiele nicht abschließend kontrolliert: Beispiel 15 ist in Wahrheit Beispiel 1 und somit verschiebt sich alles folgende.
In dem Vortrag "Quo vadis musica?" (S.171) korrigiert man vielleicht stillschweigend das Wort "Pythagöräer", aber dann gerät man doch ins Stocken, wenn unmittelbar danach, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, "die heutige Lehre von Eckankar" erwähnt wird.
Was ist nun das? Eine fatale Bildungslücke?
Man kann sich im Internet kundig machen: Es ist - sagen wir mal - eine Bewegung, die aus den USA kommt: Die "Religion von Licht und Ton Gottes", 1965 von einem gewissen Paul Twitchell begründet, der von der Scientology herkam und - so wird gemunkelt - auch ziemlich viel von Scientology-Gründer Ron Hubbard abgeschrieben hat, ohne dessen Namen zu nennen. Dieser Mann jedenfalls steht mit dem Buch "The Spiritual Notebook" im Literaturverzeichnis des Braun-Vortrags, - und der Vortrag trägt immerhin den Untertitel: "Licht und Ton", was ja noch nicht als Bekenntnis gewertet werden muss, aber wohl nicht zufällig an diese (sogenannte) "Religion von Licht und Ton Gottes" erinnert. Es beginnt jedenfalls, unangenehm zu werden.
Wie übrigens auch diese ganze Obertongeschichte und die emphatische Berufung auf die Natur und den Ursprung des Seins. (167)

Die Fiktion einer Untertonreihe jedoch - man hört sie nicht, und sie ist auch theoretisch nicht nachweisbar, dem einflussreichen Musiktheoretiker Hugo Riemann kam sie aus eurozentristischen Gründen gelegen - diese Fiktion hat mit Natur ganz sicher weniger zu tun als mit Konstruktion und dient der Zementierung einer bestimmten historisch-kulturellen Selektion: der klassischen Polarität von Dur und Moll.
Braun konzediert das beiläufig, indem er vom "gedanklichen Modell der Untertonreihe" spricht, "die in der Natur kaum vorkommt, aber als Umkehrung der Obertonreihe doch sinnfällig ist (...)"

Man erfährt nicht, ab wann denn eine gedankliche Konstruktion Geltung beanspruchen darf und wo der Spaß aufhört, - die tabellarischen Übersichten in seinem Buch (nach Vogel, Kayser oder Dieter Kolk) sind jedenfalls, von der Sinnfälligkeit her, schlicht ungenießbar -, aber immer wieder kann man lesen, dass bei Lachenmann alles im Argen liegt; im übrigen habe die Diskussion des musikalischen Materials im 20. Jahrhundert ganz sicher mit dem grassierenden Materialismus zu tun (105).
Und all diese Komponisten, die ihr Material strapazieren, statt es aus der Natur zu nehmen, reden von Unfreiheit, erhalten aber auch noch Fördergelder! Zitat:

"Ist solche Förderung nicht auch ein Zeichen von gesellschaftlicher Freiheit, für manche von zuviel Freiheit, wenn sie bedenken, wieviel Hungernde man für das Geld sättigen, wie viele Kranke man heilen, wie viel bedrohtes Leben man retten könnte?" (S.104)
Ganz hanebüchen wird es, wenn Braun, der zwei der abgedruckten Vorträge bei sogenannten Sokratischen Treffen gehalten hat, den Geist des Sokrates selbst in einfältigster Weise für sein Anliegen sprechen lässt. Er verzichtet zwar darauf, [Zitat:] "das Ganze in die Form von einem platonischen Dialog zu bringen" (99), aber er weiß, wo die Gegner des Sokrates heute säßen: jener antike Anwalt einer heilen Welt (!) müsste heute - ich zitiere - "mit harten Angriffen seitens der Gruppe der Musik-Anarchisten (...) rechnen, deren Mitglieder ausgezeichnete rhetorische wenn nicht sophistische Fähigkeiten besitzen." (102) Zitatende.

In der Folge muss sich Sokrates noch einige dumme Fragen gefallen lassen, betreffend organisches Leben, Urschlamm, Blitzeinschlag, bis er endlich sein berühmtes Wort sprechen darf, ich weiß, dass ich nichts weiß, - welches er so bekanntlich nie gesagt hat, auch bei Platon nicht. Aber so groß ist doch der Unterschied nicht, - das Daimonion des Sokrates, über das kluge philosophische Abhandlungen geschrieben worden sind, identifiziert Braun der Einfachheit halber mit dem "heiligen Geist" (105).

Wie gesagt, ich spreche nicht über das musikalische Werk Peter Michael Brauns, sondern über dieses Buch, das eine Gegenstimme sein will. Nirgendwo steht geschrieben, dass ein Komponist, der sein Metier versteht, auch ein Meister des Wortes und des philosophischen Gedankens sein muss. Aber sicher darf man daran festhalten, dass diejenigen, die verbal gut zurechtkommen, deshalb noch längst keine bloßen Rhetoriker und Sophisten sind...

An dieser Stelle vielleicht ein letztes Wort zur Harmonielehre der Natur:
Was auch immer wir Menschen aus ihr herauslesen oder in sie hineinlegen: es ist immer schon Kultur, nie - "nur" Natur, schon gar nicht innerhalb der schönen Kunstwelt der Musik! Natürlich nicht!
  • Peter Michael Braun
    Gegenstimme
    Zur Situation Neuer Musik um 2000
    Florian Noetzel Verlag Heinrichshofen-Bücher
    Wilhelmshaven 2008
    ISBN 3-7959-0896-5



© Dr. Jan Reichow 2010Im Netz ... Jan Reichow < Startseite < Texte < fürs Radio <
Gegenstimme (Peter Michael Braun) Buchbesprechung SWR2