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Jan Reichow > Startseite > Texte > Texte für das Radio > Silvester, janusköpfig (Sendung vom 31.12.2005)

31. Dezember 2005 WDR 3 20:03 bis 0:05 Uhr Sondersendung (Jahresübergang - mit Glockenläuten!)

Silvester, janusköpfig: Beethoven und Dikshitar - ein alter Weg ins neue Jahr

mit dem Erzherzogtrio, Mozart-Variationen, Hölderlin-Versen, dem Trinklied vom Jammer der Erde, der Anrufung des elefantenköpfigen Gottes, einem Bekenntnis zum Geist, einem Lob des Körpers, Ausblicken auf das ehrwürdige Leib-Seele-Problem, auf ein nichtsnutziges Insekt namens Federgeistchen und vieles andere
Durch die Sendung führt Jan Reichow
Anschließend:
Jahresübergang mit den Glocken des Kölner Doms

Moderation JR: Silvesterabend 2005, noch 237 Minuten bis Mitternacht, am Mikrofon begleitet Sie J.R., und ich hoffe, dass Sie die Zeit vergessen. Ich werde Sie rechtzeitig erinnern. Meine Damen und Herren, falls Sie das Gefühl haben, im vergangenen Jahr etwas versäumt zu haben, - legen Sie's ad acta, nur keine Vorsätze fassen auf der Basis eines schlechten Gewissens. Machen Sie's einfach besser, wenn es soweit ist.

Wir leugnen nicht die großen Gefühle, die heute gern beschworen werden, wenn es z.B. um Kino oder Fussball geht. Wir sind absolut für die großen Gefühle. Aber gibt es zum Beispiel das große Gefühl der Sünde noch? Reue? Scham? Also abgesehen vom Schiedsrichter Hoizer, der nichts empfindet, dies aber recht wirkungsvoll; abgesehen von einem ehemaligen Bundeskanzler, der nur seine connections nutzt, abgesehen vom Chef des deutschen Geldes, der den eigenen Acker bestellt...

Wir haben kein Verbrechen begangen, nicht einmal in Gedanken! Wir haben uns nie auf Obszönitäten eingelassen, - auch nicht in Gedanken, will ich doch hoffen? Vielleicht hatten wir einfach nicht soviel Macht und erst recht nicht soviel Geld, wie man braucht, um so richtig, wie gewünscht, aus dem bürgerlichen Rahmen zu fallen. Aber angenommen, -  w e n n  ... was wäre aus uns geworden?

Wie Georg Christoph Lichtenberg sagte:

1) Bodo Primus liest:

" Ich sehe nicht ein, warum nur derjenige Mann bekannt werden soll, dessen Fähigkeiten durch viel Lärm und Glanz hörbar und sichtbar werden. Alexanders Genie war ein Funke, der in ein Pulvermagazin fiel, das aufflog und Asien beben machte; unser Funke fiel daneben vorbei ins Feuchte. Ich sage nur, was hätte das für eine Erschütterung geben können, wenn er auf das Pulver gefallen wäre. "

Nach Janssen: Mit Georg Christoph Lichtenberg ISBN 3-88243-083-4
(Prachtband mit Zeichnungen des Malers Horst Janssen)

Moderation JR:
Wie Sie hören, ist auch Bodo Primus heute abend dabei, außerdem Peter Lieck, Gisela Claudius und andere.

Wir waren bei der Reue, und im Ernst, liebe Hörerinnen und Hörer, in dem Moment, wenn Sie in Zweifel geraten, wenn Sie sich und Ihr Leben, auch Ihr Innenleben, prüfen, machen Sie sich keineswegs menschlich verdächtig, sie tun das, was selbst die Philosophen für unser aller Pflicht halten, - wenn wir schon eine Sünde benennen sollten, so gäbe es an erster Stelle die der Gedankenlosigkeit.
Mit Georg Christoph Lichtenbergs Worten und der Stimme von Gisela Claudius:

2) Gisela Claudius liest:

" Es bedarf oft einer tiefen Philosophie, unserm Gefühl den ersten Stand der Unschuld wiederzugeben, sich aus dem Schutt fremder Dinge herauszufinden, selbst anfangen zu fühlen und selbst zu sprechen, und ich möchte fast sagen, auch einmal selbst zu existieren. "

(Janssen: Mit Georg Christoph Lichtenberg ISBN 3-88243-083-4)

Moderation JR:
Die Sünde der Gedankenlosigkeit also, die uns in den Schutt fremder Dinge versinken lässt. Und sie kommt harmlos daher: z.B. als ein Verplempern eigener Zeit, kostbarer eigener Lebenszeit; ist im Einzelfall auch meist verständlich und verzeihlich, ist auch viel besser als eine vorsätzlich böse Tat. Auch besser als blinder Aktionismus. Man sagt: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.
In Wahrheit ist aber auch der Geist meistens schwach und nicht einmal willig.
Ja, wir wissen das im Grunde und sind deshalb so offen für das Gefühl der Trauer, nicht etwa, weil nicht alle Blütenträume reiften, sondern weil wir immer noch dieselben sind. Und wie oft haben wir das nun gehört: Bleib wie du bist!

Nun gut, das alte Jahr ist reif, überfällig sogar, das neue kommt auf uns zu, - wir wollen es janusköpfig angehen: mit widerstreitenden Empfindungen, die man auch komplementär sehen könnte, mit dialektischen Gedankengängen, hier Emphase und Ekstase, dort Buß' und Reu, und ab und zu ein Ausgleich.

4) Nagasvaram/Tavil Ensemble im Hindu-Tempel in Sri Lanka (trad./ohne) 1:30

5) CD Lamento Tr. 1 Joh.Christoph Bach "Ach, dass ich Wassers g'nug hätte" 7:22
Magdalena Kozená, Mezzo-Sopran, Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel

6a) Indische Flöte (Steve Gorn) Tr. 3 Basant Mukhari (Alap 4:03)
Steve Gorn, Bansuri: Parampara! In Memory of Gour Goswami
darin:
6b) Peter Lieck liest Tagore:
Rabindranath Tagore, 8. Dezember 1937

" ICH SAH: ...in der Dämmerung des getrübten Bewußtseins
treibt mein Leib in der Strömung der
blauschwarzen Kalindi
mit einem Gewirr von Empfindungen, mit
mancherlei schmerzlichem Wissen,
einer Sammlung erinnerten Lebens unterm
Silberwerkdeckel,
mit seiner Bambusflöte. Wie er langsam sich,
langsam entfernt,
verschwimmt seine Gestalt, an vertrauten Ufern,
an Orten, baumschattenumarmten, verhallt
der Lärm der Abendandacht. Von Haus zu Haus
wird verschlossen die Tür,
zugedeckt das Licht in der Tonlampe, das Boot
festgemacht am Steg.
An den Ufern das Leben und Treiben erstirbt, dicht
wird die Nacht,
das stumme Lied der Vögel im Waldgeäst
bringt sich selbst der Großen Stille dar.
Schwarze Formlosigkeit senkt sich auf die
Weltenvielfalt
zu Lande, zu Wasser. Ein Schatten nun, ein Punkt
nun, löst sich der Leib
in endlose Finsternis auf. Unter den Sternenaltar
tret ich,
still steh ich abseits, blick auf mit gefalteten
Händen und sag:
O Pushan (-Sonnengott), eingezogen hast du dein Strahlennetz,
offenbar dich nun in deiner heilenden Gestalt,
dann erkenn ich den purus (Seele & Geist) in dir, der dich
und mich vereint.

Aus: Rabindranath Tagore Das Goldene Boot / Lyrik, Prosa, Dramen / herausgegeben von Martin Kämpchen / Artemis & Winkler Düsseldorf und Zürich / Patmos Verlag / 2005 / ISBN 3-538-06988-3

7) Max Reger: Die 8. Variation der Mozart-Variationen op. 132 7:46

Sie hörten Musik aus einem Hindutempel auf Sri Lanka, danach die Stimme von Magdalena Kozena, in dunklen Violenklang gehüllt, ein Lamento von Johann Christoph Bach, einem Verwandten aus der Generation vor Johann Sebastian Bach, Musica Antiqua Köln spielte unter Reinhardt Goebel; Peter Lieck sprach ein Gedicht von Rabindranath Tagore, es ist einer schönen neuen Übersetzung seiner Werke entnommen, schließlich Max Reger: die achte der Mozart-Variationen, mit dem WDR Sinfonieorchester unter Heinrich Schiff.

Janusköpfig auch dies: - dunkle Erinnerungen, Mozarts Thema in weiter Ferne, aber auch viel Vorahnung, Hoffnung, Sehnsucht. Ich fände es schön, wenn Regers großes Variationenwerk einfach mal so zuende gehen würde, ohne Fuge, ohne Apotheose; ich bin sicher, er hätte das unverzeihlich gefunden.
Aber Mozart hat seine Variationen auch nicht mit einer Fuge gekrönt, sondern mit einem Geschwind-Marsch Alla Turca, nein, gekrönt kann man da nicht sagen. Er ist einfach in eine andere Richtung davongeritten, - ohne ein Türke zu sein.
Und warten Sie nur, wer Sie danach erwartet! Womöglich zwei, drei echte Türken!

8) Mozart: Rondo alla Turca mit Friedrich Gulda, Klavier 3:23
eingefügt: Anfangsruf von 11) 0:17
9) Fazil Say: paganini-variations 1995 3:56
nochmals eingefügt: Anfangsruf von 11) 0:17
10) Fazil Say: dervish in manhattan 3:28
11) Kardes Türküler: Silemano (Kurdish Folksong) 4:28

Zuerst Friedrich Gulda, dann Fazil Say mit seiner Version der Paganini-Variationen und mit seiner Komposition Dervish in Manhattan. Für den Dervish zeichnete verantwortlich: Kudsi Erguner mit der Rohrflöte Ney; und schließlich hörten Sie noch das unvergleichliche türkische Ensemble Kardesh Türküler.
Es gibt kaum ein anderes europäisches Ensemble, das ich Ihnen lieber ans Herz lege. Sie haben das Wort "europäisch" gehört, nicht wahr? Dieses Ensemble hätte ein weit umfassenderes Prädikat für seine fabelhafte musikalische Arbeit verdient.
Wenn Sie einen wirklich großen Abend erleben wollen, ohne demonstrative Völkerverbrüderung, aber mit wahrhaft integrativer Musik kurdischer, armenischer, georgischer, aserbaidschanischer, anatolischer Herkunft: Merken Sie sich den 31. Januar 2006 in der Kölner Philharmonie vor, oder den Abend vorher in der Essener Philharmonie.
Kardesh Türküler! zu deutsch "Bruder-und-Schwester-Lieder". Für mich das Ensemble des Jahres 2005.

Wir haben allerhand Jahresrückblicke erlebt, "Menschen des Jahres" und Katastrophen, all dies in einer Bildqualität, deren Realitätsdruck gewissermaßen ein kritisches Bild der Geschichte erübrigt; und die Zukunft besteht ohnehin vor allem aus Fußballweltmeisterschaft. Ein neuer Massenmedienrekord ist das mindeste, was man erwartet oder erwarten soll.
Man wird uns mit unzähligen Innovationen in Erstaunen versetzen.
Auch 50 Jahre WDR werden wir feiern, zum Auftakt morgen abend eine riesige Innovation in der Kölner Philharmonie, Mahlers "Auferstehungs"-Symphonie wird sozusagen doppelt auferstehen, bimedial, mehr noch: dreidimensional, rundum ein gleichmäßig bebrilltes Publikum. Kunstkopf war einmal, ... wenn es nach mir ginge, ich schlüge ein Janus-Kopf-Surround-System vor.
Auch 250 Jahre Mozart werden wir feiern, und es schält sich schon heraus, was Hildesheimer am Ende seiner wahrhaft innovativen biographischen Arbeit in der einfachen Frage zusammenfasste: Wer war Mozart?
Wir wissen ungeheuer viel über ihn, und dennoch lautet eine Generation später das Fazit des Forschers Braunbehrens: "Es bleibt viel Unbegreifliches." (FonoForum Dez. 2005).


Letztlich sind es die Kunstwerke, die uns den Gang der Geschichte, die wir feiern wollen, so schön undurchsichtig machen. Weil sie sich loslösen und schweben.
Vielleicht lag darin auch die Faszination des Engels, den Walter Benjamin auf einem Bild von Paul Klee sah und zum "Engel der Geschichte" machte.
Dem hatte Gerhard Scholem - später nannte er sich Gershom Scholem - die folgenden Worte als "Gruß vom Angelos" in den Mund gelegt:

12) Gisela Claudius liest:

Gruß vom Angelos (Gerhard Scholem)

Mein Flügel ist zum Schwung bereit
ich kehrte gern zurück
denn blieb' ich auch lebendige Zeit
ich hätte wenig Glück.

Und sein Freund Walter Benjamin bezog den Vers auf das Bild eines Engels, der vergeblich die Flügel aufzuspannen sucht, um in die Zukunft zu starten, - der er allerdings den Rücken zuwendet: er weiß nichts von ihr. Es ist Benjamins berühmtes Bild vom Begriff der Geschichte. Dies ist der Text:

13) Bodo Primus liest Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940) These IX
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt.
Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.
Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann.
Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.
Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.


(Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Band I/2. S. 697f)

Moderation JR
Ich habe immer gegrübelt, aus welcher Richtung der Sturm kommt, da die Flügel sich ja auf der Rückseite des Engels befinden, der in die Vergangenheit schaut; dort aber, weit hinter den Trümmern der Vergangenheit, muss das erwähnte Paradies liegen; dorthin also starrt der Engel und von dort kommt der Sturm, der ihn dergestalt umtost, dass er die Flügel nicht mehr schließen kann.

Der moderne Manager sagt: er muss sich doch nur umdrehen und der Zukunft mutig ins Auge schauen. Aber er irrt sich, denn der Engel ist kein Manager, sondern ein Symbol der Realität, und der Manager irrt sich, wenn er an die allgemeine Machbarkeit, unbegrenzte Manipulierbarkeit und an die eigene Allmacht glaubt. Auch er treibt rückwärts in die Zukunft.
Er nimmt zwar nicht den Trümmerhaufen zur Kenntnis, noch weniger aber die Begrenztheit der eigenen Anstrengung, ihm erscheint der Sturm als eigene Kraft.

Diese Blindheit ist die Kehrseite, die Verkehrung dessen, was einst unter Humanität verstanden wurde, das ruhige Selbstvertrauen, die gebildete Persönlichkeit, der Glaube an den Menschen, Humanität, all dies, was in ein klassisches Werk eingegangen ist, wie das herrliche Thema, das Sie gleich hören; seine allmähliche Entfaltung in Variationen gleicht der Offenbarung einer schönen Seele, mit all ihren edlen Emotionen, stolzen Leidenschaften und auch - Selbstzweifeln, - fast wie die Rückschau auf ein Leben.
Der langsame Satz des Erzherzogtrios op. 97 von Ludwig van Beethoven.

14) Beethoven: Andante cantabile, 3. Satz aus dem Trio op. 97 10:46

Die Botschaft einer versunkenen Zeit. Das Abegg Trio spielte.
Wissen Sie, was ich vorhin mit Selbstzweifeln meinte? Dreiviertel des Satzes sind vergangen und das Thema will in seiner Urgestalt zurückkehren (7:38), aber es ist seiner selbst nicht mehr gewiss: es vermag seine Tonart nicht zu behaupten, Mollschattierungen, es hält inne und hebt aufs neue an, und gerade aus dieser vermeintlichen Schwäche entwickelt sich nun eine ungeheure Perspektive:
ein Einschub, eine Meditation über den punktierten Rhythmus, mystische Akkorde, ein hymnischer Gesang, das ist der Moment, wo der Mensch - ich weiß es nicht - vielleicht den gestirnten Nachthimmel über sich sieht.
Sie können genug anderes darin wahrnehmen: auch einen Liebesgesang zwischen Violine und Cello. jedenfalls eine Botschaft... eine Offenbarung...
Wollen wir es nicht noch einmal hören, wann hätten wir Zeit dafür, wenn nicht heute abend?!

15) Beethoven Andante cantabile aus op. 97 (Reprise bis Ende) 3:48

Vielleicht das Modell einer Selbstreflexion, eines Zwiegesangs, eines menschlichen Miteinanders, - das ist eben etwas anderes als eine Konferenzschaltung oder ein Consultinggespräch und wird daher kaum noch auf unser Leben und Denken bezogen. Was jenseits der alltäglichen Praxis liegt, sie übersteigt, transzendiert, wird allerdings nach wie vor gebraucht, nur gibt es in unserer Gesellschaft kein Modell des Umgangs mehr, jedenfalls nicht im privaten Diskurs: da blühen Aberglaube und überspielte Orientierungslosigkeit. Ich zitiere aus einem Buch über "Medienkultur und Mythen":

(Hartmut Heuermann, Medienkultur und Mythen S. 281 Reinbek 1994):
" Die sogenannte Informationsgesellschaft, deren Profilierung allenthalben das Antlitz unserer Kultur verändert, ist keineswegs das, was der Begriff nahelegen könnte - die informierte Gesellschaft. Realiter ist sie die mit Informationen malträtierte, von der Datenfülle strangulierte Gesellschaft - eines Gesellschaft, in der, gemessen an dem, was global ständig an neuem Wissen produziert wird, der einzelne Mensch immer weniger weiß. Ungefähr alle fünf Jahre verdoppelt sich die Zahl der Informationen (...)."
So sagt man, aber welcher Art sind die Informationen, aus der Sicht des potentiellen Nutzers, der Orientierung sucht?
"Man spricht bei uns von der Informationsexplosion. Es ist aber eine Explosion des Quatsches", bemerkt der Informatiker und Computerfachmann Joseph Weizenbaum. (Spiegel 1987)
Information heißt also alles andere als Orientierung, und in der Tat gehört zu den wichtigsten Tätigkeiten unseres Lebens die fortwährende Entsorgung des Überflüssigen, der bloßen Meinung, des hohlen Geredes und Geschreibes;
am 11. Oktober las ich in der Zeitung (Solinger Tageblatt):
Jeanette Biedermann glaubt an die Wiedergeburt
Die Sängerin (Jeanette Biedermann) hat keine Angst vor dem Tode. "Ich glaube an Wiedergeburt. Dass letztlich nur der Körper, die Hülle dahinscheidet, die Seele aber immer weitergetragen wird", sagte die 24-Jährige. Jeder kenne doch diese Momente, in denen er glaubt, das, was gerade passiert, schon einmal erlebt zu haben.
Ende der Meldung.

Ein Musterbeispiel unsinniger Meinungsvermittlung. Das Déja-Vue-Erlebnis soll beweisen, dass die Seele überlebt und von Körper zu Körper wandert, der einzelne Körper aber eine bloße Hülle ist, die nicht überdauert.
Woher dieses Misstrauen gegen den anwesenden Körper und die Präsenz in der Gegenwart, ausgerechnet von einer Popsängerin, die doch gerade ganz besonders in dieser einen Welt zuhause ist. Fordert der alte klassische Idealismus auf den Umwegen der Popmusik einen neuen Tribut?
Meine Damen und Herren, sind Sie vollkommen anwesend? Woran erinnern Sie sich...

16) Les quatre violons: Mozart "Dies Bildnis ist bezaubernd schön" Teil I 2:38
Hiro Kurasaki, Simon Heyerick, Mihoko Kimura, Isabel Serrano, Violinen

Man erinnert sich zunächst vielleicht dunkel und läuft dann ganz allmählich in gesicherte Bahnen, ohne diesen wunderbaren Vorgang zu mystifizieren; man springt nicht ins Jenseits, sondern bleibt dicht an der Musik: da kommt zunächst ... Mozart, vielleicht die Worte "bezaubernd schön", die Zauberflöte, Tamino, der ein Bildnis sieht, das auf eine wirkliche Frau verweist.
Ein Déja-Vue-Erlebnis ist aber etwas anderes als das landläufige Schon-mal-gehört-Erlebnis, es kommt unangemeldet wie eine Gänsehaut und hat den Bonus der Zeichenhaftigkeit, so, als sei man persönlich gemeint und zu einer Deutung berufen. Das ist eine Täuschung.
Ich habe vor Jahren einmal den Gehirnforscher Detlef Linke dazu befragt, ob Déja-Vue-Erlebnisse ein Geheimnis andeuten oder eher eine Art Krankheitssymptom darstellen.
Seine Antwort war hochinteressant, und Jeanette Biedermann müsste die Frage der Wiedergeburt wohl doch noch einmal überdenken:

17) Prof. Dr. Detlef Linke (aus Interview 21.01.1998)

(Déjà-Vue-Erlebnisse sind häufig, man findet sie nicht nur bei Epileptikern, also sie muß kein Geschehen innerhalb einer Krankheit, einer zu behandelnden Krankheit sein, eh das Erlebnis kann auch bei sonst ganz normalen Personen auftreten.)
Es wird neurophysiologisch so gedeutet, daß da Parallelverarbeitungen stattfinden, das heißt, ein und dasselbe Erlebnis wird über zwei Kanäle im Gehirn weiterverarbeitet, und die Informationen kommen sequentiell der Reihe nach dort ein, es ist zwar dieselbe Information, aber sie kommt zeitversetzt, doppelt, an, also es gibt zwei Wege, und das eine braucht ein bißchen länger, und dann kommt das ins Bewußtsein praktisch zweimal rein.
Man kennt entsprechende Dinge auch bei ner Emotionsverarbeitung oder Informationsverarbeitung für beide Hirnhälften, es gibt diese Zeitparadoxie beim Träumen, das heißt, jemand träumt, er wird mit der Pistole bedroht, und hört dann auch den Knall, und durch den Knall wird er wach, und dann ist er wach, und dann hört er auf der Straße die Fehlzündung eines Mopeds.
Eine berühmte Situation, Ähnliches haben nicht wenige erlebt, und dann fragt man sich, wie kann das sein, jetzt haben wir da einen Knall auf der Straße, der kommt später, und da kommt ein Traum, der endet sogar mit diesem Knall, wieso weiß man im Traum schon vorher , daß auf der Straße dieser Knall kommt, eigentlich müßte es ja die umgekehrte Reihenfolgehaben.
Es ist einfach so: die eine Hirnhälfte wird durch den Knall wach, die andere Hirnhälfte verarbeitet den Knall noch und macht ein Traumgeschehen, das auf diesen akustischen Reiz hinsteuert, und dann wird die wache Hirnhälfte diese Information des noch träumenden Hirnbereiches übernehmen und sozusagen erinnern, daß sie sich auf diesen eh Knall hinbewegt hat, so daß zwei verschiedene Zeitdimensionen, der Zeitverarbeitung, stattfinden können, parallel im Gehirn, in den beiden Hirnhälften beispielsweise, und damit können sehr absonderliche Phänomene zeitlicher Verarbeitung eh erklärt werden, und das gilt auch für das Déjà-Vue-Erleben, daß ähnliche Zeitverschiebungen dort stattfinden für ein und dasselbe Geschehen zwei Verarbeitungen, die dann ins Bewußtsein kommen und dann als zwei Geschehen erscheinen. Als daß man etwas schon gesehen hat , meint man, ("déjà vue"), aber man hat es grade gesehen, und es ist ein und derselbe Sehvorgang, aber im Gehirn verdoppelt.
(JR: Der Irrtum liegt in der Ahnung, in dem Eindruck, daß das erste Geschehen sehr weit zurückliegt?)
Ja, es war dasselbe. Die eine Verarbeitung läuft über die Gedächtnisspeicher und die andere über das Aktualbewußtsein , und dadurch kriegt das eine andere Konnotation als das andere und kriegt ne andere Färbung, dabei ist es eigentlich dasselbe, wenn es dann anschließend abgeglichen wird, tut man so oder meint man, es sei eh ein Abgleich mit der Vergangenheit, es it aber ein Abgleich einer als Vergangenheit interpretierten Gegenwart. (Ja) Das wäre das Modell.

18) Les quatre violons: Mozarts "Dies Bildnis ist ..." (Forts.) 1:05
Hiro Kurasaki, Simon Heyerick, Mihoko Kimura, Isabel Serrano, Violinen

Das Interview mit dem Bonner Neurophysiologen Detlef B. Linke habe ich 1998 in der Bonner Uniklinik geführt, am 6. Februar dieses Jahres ist er gestorben.
Übrigens war der Gehirnforscher dezidiert der Ansicht, dass nicht nur das Gehirn den Menschen ausmacht, - aber anders, als erwartet, fuhr er fort: Die Persönlichkeit, das Ich, ließe sich ohne den Körper, "die restlichen ein bis zwei Zentner Zellgewebe", nicht begreifen.
Ob die beiden Hirnhälften, die inzwischen selbst in der Laienpsychologie allenthalben beschworen werden, auch schon als Ahnung in der Vorstellung des janusköpfigen Gottes enthalten sind?
Sehr wahrscheinlich ist das nicht, denn der römische Gott war nicht für das Denken, sondern für Eingänge und Durchgänge zuständig, und deren zwei Aspekte (nach innen und nach außen gerichtet) wurden in der Doppelgesichtigkeit der Janusdarstellungen symbolisiert, auch der erste Monat des Jahres ist nach ihm benannt.
Die Tür, der Torbogen.
In der byzantinischen Liturgie, der griechisch-orthodoxen Liturgie, gibt es einen rätselhaften Ruf : "Tas Tyras" - Die Türen !

19) Liturgie des Heiligen Chrysostomos (Ausschnitt) 2:30
Griechisch-Byzantinischer Chor Leitung: Lykourgos Angelopoulos
WDR-Aufnahme in Athen 1982

"Tas Tyras -Tas Tyras!" Die Türen! Die Türen!
Man sagt, es könne ursprünglich eine Warnung der frühchristlicher Zeit gewesen sein, die heilige Handlung vor den Blicken Außenstehender zu verbergen, später hat man es umgedeutet: als Aufforderung, die Türen des Herzens zu öffnen. Man könnte es auch als Hinweis auf das Gebet und die bevorstehende Wandlung verstehen, den Durchgang in eine andere Wirklichkeit, Außen - Innen, Diesseits - Jenseits, Leben und Tod, Tod und Auferstehung, Körper und Seele, Geist und Leib, Glauben und Wissen, Materialismus - Idealismus.

Vor allem Gesundheit, das ist ein Wunsch, den wir gerade hundertfach gehört haben und morgen noch hören werden. Niemand wünscht uns z.B. einen Zuwachs an Verstand oder Geist; jeder glaubt, damit ausreichend versorgt zu sein und unterstellt es auch mir. Und trotzdem verfolgen uns unterschwellig diese Dichotomien und fordern uns Stellungnahmen ab. Könnte es nicht sein, dass es genau diese Entweder-Oder-Fragen sind, die uns in die Irre führen? Sie sind ja keineswegs gelöst wenn wir sagen: beides gilt, z.B. - "mens sana in corpore sano", ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Auch die Formel von der Ganzheitlichkeit klingt allzu gut, das sind nun mal keine zwei Hälften, die man schön zusammenfügen kann. Ebensowenig wie Frau und Mann. Und Sex ist auch nicht erfunden, damit wir ein körperlich plausibles Gleichnis für gelingende Liebe haben.

Kürzlich habe ich gelesen, was die Evolution höchstwahrscheinlich mit der Erfindung der Sexualität bezweckt hat: Neue Wesen, die sich von ihren Eltern unterscheiden, wappnen sich besser gegen zukünftige Gefahren für Leib und Leben. "Nur durch Sex kann man Nachkommen hervorbringen, die besser sind als man selbst", erklärt der Forscher. Das heißt, allein um zu überleben, müssen sich Lebewesen rasch verändern. Wer stehen bleibt, hat schon verloren. Der todbringende Gegner im Rennen heißt WIE?

Sie glauben es nicht, wie klein er ist: es sind - Parasiten. Sie hätten uns längst den Garaus gemacht, wenn wir uns nicht durch die Zweigeschlechtlichkeit ständig veränderten. Wie grauenhaft banal!

Und Gesundheit? Was ist denn Gesundheit? Der Spötter sagt: Gesundheit heißt nur: nicht gründlich genug untersucht. Ein anderer sagt: Gesundheit ist das Schweigen der Organe. Das soll heißen, es tut nichts weh.
Echte geistige Arbeit dagegen kann regelrecht weh tun; ich muss nur an den Frust erinnern, wenn sich einfach kein Ergebnis einstellen will, wie vielleicht in dieser Sendung.
Aber zum Glück arbeiten wir ja gar nicht, ich habe auch nichts gegen Ihr Gläschen Wein einzuwenden.
Wenn Sie nur wach und klar aufs Neue Jahr sehen.
Hier folgt eine kleine Kollektion von Welt- und Lebensanschauungen, Augen-Blicken, die zu denken geben.
Sagen Sie nur nicht, der Leib als Gegenstand der Begierde habe nichts zu tun mit dem anderen, der gewissermaßen ins Paradies zurückgefüttert werden soll: so viele Leiber gibt es nun auch wieder nicht.
Oder etwa doch?

20) - 30) Collage aus Dichtung, Musik und Weltanschauung

20) Gisela Claudius liest:

...Der astralische Leib ist uns durch die unserer Erdenentwicklung vorangehende Mondenentwickelung zugeteilt worden, unser Ätherleib durch die weiter vorangehende Sonnenentwickelung, der physische Leib seiner ersten Anlage nach durch die Saturnentwickelung. (...) Sehen wir nicht aus den Tatsachen, die uns die "Geheimwissenschaft" überliefert, daß an dieser Gliederung in die drei Hüllen des Menschenwesens Geister aller möglichen Hierarchien mitgewirkt haben? Sehen wir nicht, daß dasjenige, was uns als physischer Leib, als Ätherleib, als astralischer Leib umhüllt, sehr, sehr komplizierter Natur ist? Aber nicht nur, daß diese Hierarchien mitgearbeitet haben an dem Zustandekommen unserer Hüllen, sie arbeiten noch immer darinnen. Und der versteht den Menschen nicht, der glaubt, daß dieser Mensch bloß die Zusammenfügung ist von Knochen, Blut, Fleisch und so weiter, von denen uns die gewöhnliche Naturwissenschaft, die Physiologie oder Biologie oder Anatomie erzählen. (S.11 f)

Rudolf Steiner: Was tut der Engel in unserem Astralleib ? (1918)
Vortrag gehalten in Zürich am 9, Oktober 1918 / ISBN 3-7274-5145-9
Rudolf Steiner Verlag Dornach/Schweiz 1990

21) Bodo Primus liest Stefan George

Wenn ich heut nicht deinen leib berühre
Wird der faden meiner seele reissen
Wie zu sehr gespannte sehne.
Liebe zeichen seien trauerflöre
Mir der leidet seit ich dir gehöre.
Richte ob mir solche qual gebühre.
Kühlung sprenge mir dem fieberheissen
Der ich wankend draussen lehne.
22) Bach: "Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistig!"
Fuge aus der Motette "Jesu meine Freude" 2:15
(RIAS-Kammerchor, René Jacobs)

23) Are Waerland verkündet: "Triumph des grünen Blattes"

Triumph des grünen Blattes!!!
(...) Wenn wir nur verständen: das zarte, frühlingsgrüne Blatt in Form von Kopfsalat, Spinat, Kresse, Radieschenblättern, Schnittlauch, Dill, Petersilie usw. in unsere tägliche Kost aufzunehmen, und nach deren Umwandlung in unserem Verdauungsapparat sich vereinigen zu lassen mit dem Hämoglobin in unserem Blut, zu des Lebens wun-der-bar-ster Medizin für die winterkranken Gewebe und frühlingsmüden Glieder... (...)
Erst wenn der zivilisierte Mensch seines Leidens Kelch bis zum Grunde geleert hat, wird er den Weg zum Leben wiederfinden. Das grüne Blatt, mit dem er seine Nacktheit verhüllte, als er aus dem Lustgarten des Paradies vertrieben wurde, soll seinen Körper wiedergebären und ihm helfen, daraus einen Tempel für seinen Geist aufzubauen.
24) (s. 13)
Erinnerung: Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. (Benjamin)
25) Ebba Waerland (aus dem Nachwort zur Rede ihres Mannes):
(...) Wir sollten aus diesem Jungbrunnen mit vollen Händen schöpfen und unser Blut und unsere Säfte reinigen und dadurch, dass wir den wilden Pflanzen ... Löwenzahn, Nesseln, Schafgarbe und alle die anderen Heilpflanzen, die Sprösslinge von Tannen und Lärchen, und die Blätter von Erdbeeren, Brombeeren, Himbeeren, Birken, usw., einen Ehrenplatz in unserem Kostplan geben. Jeder Städter kann in freien Stunden in der Umgebung der Stadt solche Pflanzen holen, aber der Städter findet ja in den Reformhäusern und bei den biologischen Gärtnereien oder im Hausgarten herrlichste Salate und andere herrliche Pflanzen.
Und auch im Winter brauchen wir kein Mangel leiden, das grüne Blatt ist immer für uns bereit, im Winter im Grünkohl, da haben wir die aufbauenden Stoffe. Das dürfen wir nie vergessen!
26) Kinski deklamiert Paul Zech/François Villon

Du... du... ich bin so wild nach deinem Erdbeermund,
ich schrie mir schon die Lungen wund
nach deinem weissen Leib, du Weib.
Im Klee, da hat der Mai ein Bett gemacht,
da blüht ein süsser Zeitvertreib
mit deinem Leib die lange Nacht.
Da will ich sein im tiefen Tal.
Dein Nachtgebet und auch dein Sterngemahl.

Im tiefen Erdbeertal, im schwarzen Haar,
da schlief ich manchen Sommer lang
bei dir und schlief doch nie zuviel.
Komm... komm... komm her... ich weiss ein schönes Spiel
im dunklen Tal, im Muschelgrund...
Ah... ah... ah du... ah du... du ach, ich bin so wild nach deinem Erdbeermund!

Ah... ah... ah... ah... ah... ah... ahh...
27) Ekstatische Predigerin aus Philadelphia (Voices of the world) 3:00
CD Les Voix du Monde / Voices of the World Le Chant du Monde CMX 374 1010.12
USA Philadelphia Pennsylvania / A sermon by the Reverend Audrey F. Bronson, pastor of the Church of the Open Door, with accompaniment at the Hammond organ. / Sunday religious service among a community of middle-class Blacks, in an outer suburb of Philadelphia. Recorded by Jean Schwarz (1978)

in das "Ah... ah... ah du... ah du... du ach" von Kinski:

"Look here - there is one more thing - when Jesus looked now the condition of the world (?) - he said ;Father!' etc. etc.

28) Islamischer Ruf im Taj Mahal "vibrations" 1:41

Gisela Claudius liest:
29) Rainer Maria Rilke

" Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert
Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen
Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.

Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus...
Und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen,
baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus. "

(Rilke: Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, X, S. 515)
30) Beethoven: Thema des letzten Satzes op.109 E-dur 2:11
aus: Die späten Klaviersonaten mit Maurizio Pollini
beginnt unter den Rilke-Versen, bleibt unter folgendem Text

Peter Lieck liest:
31) (bzw. Beethoven spricht, als schriebe er es gerade:)


"Sonate / für das Pianoforte / componirt und / dem Fräulein Maximiliana Brentano / gewidmet / von / LUDWIG van BEETHOVEN".
Wien, am 6. Dezember 1821 /An Maximiliane von Brentano.
" Eine Dedikation!!!! - Nun es ist keine, wie dergleichen in Menge gemißbrauchet werden. - Es ist der Geist, der edlere und bessere Menschen auf diesem Erdenrund zusammenhält und den keine Zeit zerstören kann, dieser ist es, der jetzt zu Ihnen spricht und der Sie mir noch in Ihren Kinderjahren gegenwärtig zeigt, ebenso Ihre geliebten Eltern...."

(Eindringlich wiederholt:) "
Ja, ..... es ist der Geist, ... den keine Zeit zerstören kann, ... den keine Zeit zerstören kann .... dieser ist es, der jetzt zu Ihnen spricht.
"

32) Beethoven Sonate op. 109 (Pollini) Erster Satz Vivace... 3:16
CD Beethoven Die späten Klaviersonaten mit Maurizio Pollini

Maximiliane von Brentano gewidmet. Die Mutter der Widmungsträgerin, Antonie Brentano, war niemand anders als Beethovens "unsterbliche Geliebte", ihr hat Beethoven - ohne sie mit Namen anzureden - 1812 den leidenschaftlichsten Brief seines Lebens geschrieben. In Tagebüchern und Notizen erscheint sie mit dem Buchstaben T., - und Antonie Brentano wurde im Freundeskreis "Toni" genannt, eine unerlaubte Liebe, die auch ohne happy end geblieben ist. Beethoven resignierte, aber noch im Jahre 1817 findet sich folgende Notiz in seinem Tagebuch: " Nur Liebe - ja nur Sie vermag dir ein glücklicheres Leben zu geben O Gott laß mich sie endlich finden die mich in Tugend bestärkt die mir  e r l a u b t  mein ist. Baaden, am 27ten Juli Als die M. vorbeifuhr und es schien als blickte sie auf mich. " (Maynard Solomon BEETHOVEN S. 204) (Achtung: das letzte "sie" ist zu betonen!)
Wer war M.? Es kann nur Maximiliane gewesen sein, die Tochter, die in Beethoven das Bild der Mutter aufsteigen ließ. (s. Solomon a.a.O.)


Mutter und Tochter, Antonie und Maximiliane Brentano, waren die einzigen Frauen, denen Beethoven nach 1820 noch Werke widmete.
Und zur Sonate in E-dur op. 109 schrieb er Maximiliane den vielsagenden Brief mit den Bände sprechenden Zeilen:
" Es ist der Geist, der edlere und bessere Menschen auf diesem Erdenrund zusammenhält und den keine Zeit zerstören kann, dieser ist es, der jetzt zu Ihnen spricht.... "
Und die Sonate redet von nichts anderem als von der Zeit, die den Geist nie und nimmer zerstören soll, vielleicht redet sie auch von Liebe, vielleicht sogar von Maximiliane selbst oder von ihrer Mutter.
Darüber kann man streiten, nicht aber darüber, dass Beethoven etwas Außergewöhnliches sagen wollte und ein Mysterium geschaffen hat.

33) Beethoven-Thema op. 109 CD 2 Tr. 3 (nur Thema) 2:11
CD Die späten Klaviersonaten mit Maurizio Pollini

Ludwig van Beethoven op. 109, Klaviersonate E-dur, Maurizio Pollini spielte zunächst den ersten Satz, und dies war gerade das Thema des dritten, des Variationssatzes, den wir später hören werden, auch den zweiten Satz werden wir bis dahin gehört haben. Die verschiedensten Blicke auf Leib und Seele, Körper und Geist haben Sie erlebt, - unmöglich, daraus einen inneren Zusammenhang zu formen. Glaube und Aberglaube, Gesundheit und Wahnsinn, menschliche Nähe, theatralisches Begehren, Liebe und Dominanz, Kunst und Kuriosität - kein Zweifel : man rückt uns auch mit bloßen auf den Leib! Erst recht mit Klängen. Die schwarze Predigerin aus Philadelphia will uns durchaus nicht mit Musik und Vortragskunst das Dasein verzaubern! Und der Wächter im Taj Mahal will uns mit seinen Rufen nicht von der Schönheit des Raumes überzeugen, sondern von der Notwendigkeit eines Extra-Bakschischs. Trotzdem arbeitet er instinktsicher mit der Tiefe und Größe des akustischen Raumes, er zieht uns routiniert in eine andere Dimension.

Und wir assoziieren weiter, - all diese Formeln:
Die Architektur - gefrorene Musik? Die Musik - in Geist verwandelte Architektur?
Wer wollte da noch auf der Auferstehung des Fleisches beharren? Dieses schäbigen Fleisches, wie es Hamlet nennt.
Nur die Statue wäre ein Weg, mit Anstand als körperliche Gestalt alle Zeiten zu überdauern. Oder wie wäre es mit dem gedanklichen Weg? Die Statue als Choralmelodie?

Oder sagen wir: die Choralmelodie als geschwungenes Dach, darunter ein dreistöckiges Gebäude, in einer subtil aufgefächerten Struktur, die wir uns körperlich anverwandeln.
Strophe 1: das Leben, - "er ist wieder auferstanden Und hat uns bracht das Leben, Des sollen wir fröhlich sein!"
Strophe 2 - der Tod, die Gewalt, "der Tod nahm über uns Gewalt",
Strophe 3 - das andere Leben: "Wir essen und leben wohl in rechten Osterfladen" - kurz: die Verwandlung, vielleicht die Vertauschung von Leib und Geist, die Vergeistigung des Leibes: "Christus will die Koste sein Und speisen die Seel allein."
Das verstehe ich nicht ganz, aber es muss ein Spiegelsaal im dritten Stock sein, alles gleicht dem ersten, nur sind wir jetzt seelischer Natur... Sicher bin ich mir nicht: aber die Musik sagt es in völliger Klarheit.
Vom Leben - zum Tod - und weiter in ein neues, [genau genommen: wenig] verändertes Leben.

34) Joh. Seb. Bach: Kantate "Christ lag in Todesbanden" BWV 4 10:00

Cantus Cölln, Leitung Konrad Junghänel, mit einem Ausschnitt aus der Kantate "Christ lag in Todesbanden" von Johann Sebastian Bach. Die dreiteilige Form mag Ihnen besonders übersichtlich erscheinen, sie ist allerdings auch von uns manipuliert: bei Bach sind es 7 unterschiedliche Strophen, aus denen ich die erste, zweite und letzte ausgewählt habe. Szenenwechsel.

"Verwandlung. Felsenhöhlen. Links Feuerglut, rechts Wasserfall."
Wir befinden uns im Finale der "Zauberflöte": die beiden geharnischten Wächter, die gleich zu hören sind - schön wär's, sie sich als EINEN vorzustellen, mit Januskopf, hier Tenor, dort Bass, sie werden von Feuer und Wasser singen, darüberhinaus von Luft und Erde, und von dem, der die Straße wandelt voll Beschwerde, der des Todes Schrecken überwinden kann, "schwingt er sich von der Erde himmelan, erleuchtet wird er dann im Stande sein, sich den Mysterien der Isis ganz zu weih'n."
Hier irrt Mozart oder Schikaneder.
Die Mysterien der Musik müssen gemeint sein.
Die der Mozartschen Musik? Oder auch ganz "fremder Musik"? Das dürfen wir wohl auch mal nach heutigem Verständnis umdeuten.

35) Mozart "Die Zauberflöte": "Der, welcher wandelt diese Straße..." 2:43
Les Arts Florissants unter William Christie

Die Mysterien der Isis... Wie sagt der iranische Dichter Shafi'e Kadkani? Er sagt, die Essenz des Seins sei nichts anderes als - - - MUSIK.

36a) Iran-Konzert (Shadjarian) in der Kölner Philharmonie 11.11.05

darüber:

36b) Gisela Claudius liest Kadkani:

Spiel die Melodie, selbst wenn die Saiten des Instruments gerissen sind,
bewege das Plektron, selbst wenn keine Spur von Klang im Leib deiner Laute geblieben ist.
Zum Eulennest ist sie geworden, weil sie nicht gebraucht wurde.
Spiel Musik, so dass die Welt endlich die Macht deines Liedes begreift.
Ich hoffe, dass nie der Tag kommt, an dem dein Instrument wirklich bloße Stille erlebt.
Spiel Musik, weil sie uns Leben gibt, - und wenn die Musik für immer verstummt, wirst du und ich nicht mehr existieren...
Mit diesem denkwürdigen Appell und einem sehr eigenartigen melodischen Linienspiel ging der erste Teil des Konzertes "Masters of Persian Music" zuende, das am 11. November 2005 in der Kölner Philharmonie stattfand:

Forts. Iran-Konzert "Masters of Persian Music" - Tasnif "Bezan" 7:30
"Tasnif Bezan" Text: Shafi'e Kadkani Musik: Hossein Alizadeh Aufnahme: WDR 2005

Dieses Konzert am 11. November 2005 in der Kölner Philharmonie wird niemand vergessen, der im Saale saß oder es später in WDR 3 aufmerksam verfolgt hat. Die Mitwirkenden waren:
Hossein Alizadeh, mit der Laute Tar; er ist auch der Komponist des Liedes, das wir gerade gehört haben.
Dann: Kayhan Kalhur, mit dem Streichinstrument Kamancheh, und Homayun Shadjarian, Tombak-Trommel, und auch als Sänger haben wir ihn eben erlebt, im Dialog mit seinem Vater Mohammad Reza Shadjarian, der als Sänger und Improvisator zu den bedeutendsten Vertretern der heutigen iranischen Kunstmusik gehört.
Er war es auch, der im Jahre 1988, nach einer dunklen Zeit des Musikverbots im Iran, den Mut hatte, wieder große öffentliche Konzerte zu geben, Texte von Hafis, Sa'di und Rumi zu singen, und zwar in Düsseldorf, Köln und Bonn, - übrigens auf Einladung des Westdeutschen Rundfunks.

Nicht wenigen Menschen wurde damals erst klar, dass die Welt der persischen Musik, Literatur und Kunst einen anderen Geist atmet als den der Macht und der armseligen, dumpfbackigen Realität, die auch jetzt gerade wieder Schlagzeilen gemacht hat.
Die träge Körperwelt wird gerade dort besonders gefährlich, wo sie sich mit dem Negativbild des Geistes, mit dem Gegengeist, dem Aberglauben, verbündet.
Nichts als ein Meer des Irrtums! In einem krasseren Sinn als in Goethes Faust.

37) Johann Wolfgang von Goethe: Faust - Erster Teil
Gründgens- Aufnahme Düsseldorf, Faust: Paul Hartmann

" FAUST
O glücklich, wer noch hoffen kann,
Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!
Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht
Kein körperlicher Flügel sich gesellen!
Doch ist es jedem eingeboren,
Daß sein Gefühl hinauf- und vorwärtsdringt,
Wenn über uns, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt,
Wenn über schroffen Fichtenhöhen
Der Adler ausgebreitet schwebt
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat strebt.

WAGNER
Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden,
Doch solchen Trieb hab ich noch nie empfunden.
Man sieht sich leicht an Wald und Feldern satt;
Des Vogels Fittich werd ich nie beneiden.
Wie anders tragen uns die Geistesfreuden
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!
Da werden Winternächte hold und schön,
Ein selig Leben wärmet alle Glieder,
Und ach, entrollst du gar ein würdig Pergamen,
So steigt der ganze Himmel zu dir nieder!

FAUST
Du bist dir nur des einen Triebs bewußt;
O lerne nie den andern kennen!
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine hält in derber Liebeslust
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen.
"

Die hohen Ahnen, zu denen jetzt natürlich auch dieser Faust und Goethe selbst gehört. War er es nicht, der uns im West-östlichen Diwan den Zugang zum persischen Dichter Hafis erschloss und der wie kein anderer über die Doppelnatur des Menschen wusste, der Orient und Okzident zugleich in den Blick nahm und die wunderbaren Verse auf das zweigeteilte Blatt des Gingko-Baumes schrieb, der Jahrmillionen unverändert überdauerte und dann aus dem fernen China nach Europa verpflanzt wurde?

38) Bodo Primus liest:

Ginkgo biloba

Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten
Wie's den Wissenden erbaut.

Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt,
Sind es zwey die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt.

Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern
Daß ich Eins und doppelt bin.

(Johann Wolfgang von Goethe)

Haben Sie bemerkt, dass es drei Strophen sind? Die erste, die das Motiv benennt, des Baumes Blatt; die zweite, die die Fragen stellt - ist es eins, sind es zwei? - und die dritte, die "den rechten Sinn" angibt, die Antwort: "Eins und doppelt".
Meine Damen und Herren, Silvesterabend auf WDR 3, am Mikrofon begleitet Sie Jan Reichow. Wir haben einen großen Weg beschritten und bereits ein Gutteil zurückgelegt. Von der Zweiheit zur Einheit, über den logischen Weg des Dreierschrittes, - trotzdem wird es weitergehn bis zur üblichen Vielheit der Körperwelt. Schließlich planen wir nicht unsere Selbstauflösung.
Zwei Seraphim riefen, einer zum andern: Sanctus Dominus Deus Sabaoth! Und dann heißt es: Tres sunt, drei sind es, die im Himmel Zeugnis ablegen, der Vater, das Wort und der Heilige Geist, und diese drei sind Eins. Unum sunt: aus dem Dreiklang wird ein Einklang.
Aber es heißt auch: die ganze Erde ist voll seines Ruhmes.
Und die ganze Erde tönt, - so ergänze ich -, indem sie sich z.B. in 12 disparate Stimmen auffächert.
Und in hundert unlösbare Widersprüche. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn man darüber zum Körperhasser wird...
Zunächst: "Duo Seraphim" aus der Marienvesper von Claudio Monteverdi, Venedig, 1610.

39) Monteverdi Marienvesper CD I Tr. 7 "Duo Seraphim" 4:30
bis: "Et hi tres ... UNUM sunt"

40) Xenakis "Nuits" Tr. 17 Anfang bis 3:51 3:51
Nuits (Iannis Xenakis) Musique pour 12 voix mixtes (1967/68) Schola Heidelberg Leitung Walter Nußbaum

41) Bali Tr. 9 Kecak from Blakiuh 3:40
WDR & World Network, Aufnahme von Wolfgang Hamm

42) Beethoven op. 109 Satz 2 Prestissimo 2:16
aus: Die späten Klaviersonaten mit Maurizio Pollini

43) Balkan Brass Fest (Boban Marcovic) Gießhalle Duisburg 5:08
WDR 3.Juli 2005 Traumzeit Festival Duisburg

44) Kabarettist Helmut Schleich: "Der Körperhasser" 4:38

Von den Seraphim zum Körperhasser; Sie müssen ihn nicht mögen. Aber er war einfach nicht aufzuhalten.
Von Monteverdi kamen wir Iannis Xenakis, "Nuits", Nächte, gesungen von der Schola Heidelberg, Leitung Walter Nußbaum - eine erregte Vielstimmigkeit, die zwischen Chaos und strenger Organisation vermittelt, unversehens Ähnlichkeit mit dem balinesischen Affentanz zeigt, der sich anschloss: die organisierte Entfesselung animalischer Energie, die auch im Balkan Blechmusikfest zum Durchbruch kommt, das Ensemble Boban Markovic beim Traumzeit-Festival in Duisburg, 27. Juni 2005, und eben diese neue nachchristliche Methode, den Körper, das allzuschwache Fleisch, zu maßregeln, entwickelt vom bayrischen Kabarettisten Helmut Schleich.
Die spielerische Umkehrung der Erwartungen und Gepflogenheiten, das erzeugt Gelächter, ähnelt aber durchaus produktiven Gedankenexperimenten, wie man sie aus den Arbeitsbüchern mancher Philosophen kennt: bei Georg Christoph Lichtenberg zum Beispiel findet man folgendes:

45) Peter Lieck liest Lichtenberg:

" Daß der Mensch das edelste Geschöpf sei, läßt sich auch schon darauf abnehmen, daß es ihm noch kein anderes Geschöpf widersprochen hat. "
46) Gisela Claudius liest Lichtenberg:
" Wenn eine Betschwester einen Betbruder heiratet,
so gibt das nicht allemal ein betendes Ehepaar.
"
47) Bodo Primus liest Lichtenberg:
" Wenn es der Himmel für nötig und nützlich finden sollte, mich und mein Leben noch einmal neu aufzulegen, so wollte ich ihm einige nicht unnützige Bemerkungen zur neuen Auflage mitteilen, die hauptsächlich die Zeichnung des Porträts und den Plan des Ganzen angehen. "

Oder aus den Notizbüchern von Hans Blumenberg:

48) Peter Lieck liest Blumenberg:
" Nach Alfred Polgar soll die tierliebe Lotte in Tränen ausgebrochen sein, als sie ein Bild mit dem Titel "Christenverfolgung unter Nero" anblickte. Nach dem Grund ihres Jammers befragt, zeigte sie auf einen einsamen Löwen am Rande des Bildes und seufzte: "Ach, Papa, der arme Löwe da hat gar keinen Christen. "
(Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg S. 182 ISBN 3-88506-389-1)
49) Bodo Primus liest Lichtenberg:
" Nachdem Einstein eines Tages einen Dachdecker von einem Haus fallen sah, eilte er herbei, um dem Herabgestürzten, der lebendig zu Boden gekommen war, eine Frage zu stellen. Allerdings fragte er nicht nach Art eines Menschenfreundes: 'Wie ist Ihnen?', sondern nach Art eines Wissenschaftlers, den Dachdecker als physikalischen Körper mit Bewusstsein inspizierend: 'Wie war es?', um zu erfahren, was er ohnehin wusste, aber kein fallender Dachziegel ihm bestätigen konnte:
dass nämlich von der Schwere, die ihn fallen ließ, nichts zu bemerken war.
"
(Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg S. 182 ISBN 3-88506-389-1)
Bloße Spielerei? Es ist oft unmöglich, das Gewicht eines Gedankens in sich, isoliert, abzuschätzen, - geht es um seine Abwandlungsfähigkeit, oder um seine Neigung, sich in unterschiedlichste Zusammenhänge einzufügen bzw. sie zu beleben oder am Ende: zu verursachen?
Nehmen wir einen kleinen Gedanken aus Mozarts Klavierquartett g-moll, - wer ihn nicht aus Mozarts späterem Klavier-Rondo schon kennt, wird ihm keine besondere Bedeutung beimessen: aber so geht es mit vielen anderen Themen und Motiven auch: hier ist eine Reihe von Bausteinen, der erste und der letzte aus dem Klavierquartett g-moll. Aber auch die Kleine Nachtmusik ist beteiligt, außerdem ein Streichquartett, ein frühes Divertimento und das erwähnte Klavier-Rondo, 8 aneinandergereihte Zitate.
Sie brauchen keine Köchel-Nummer, - nur Ihre Ohren.

50) Mozart D-dur-COLLAGE 2:30

  1. Mozart Klav.quartett g-moll KV 478 letzter Satz 0:24
  2. Mozart Kleine Nachtmusik KV 525 ab 0:14
  3. Mozart Streichquartett KV 575 ab 0:17
  4. Mozart Kleine Nachtmusik KV 525 0:14
  5. Mozart Klavier Rondo in D KV 485 0:13
  6. Mozart Streichquartett KV 575 0:35
  7. Mozart Divertimento KV 136 0:18
  8. Mozart Klav.quartett g-moll KV 478 letzter Satz 0:33

Ich glaube, wir haben uns jetzt mal wieder ein vollständiges Werk verdient; aufmerksamer als wir heute am Silvesterabend hat es vielleicht noch nie ein Mensch gehört! Jedes Motiv hat bereits eine kleine Biographie, und - glauben Sie mir - die eigentliche Lebensgeschichte folgt erst noch: selbst das kleine, rhythmisch pochende Motiv aus der Kleinen Nachtmusik wird irgendwann einer Prüfung unterzogen, und das Ihnen gut bekannte Thema, mit dem es gleich losgeht, erfährt unterschiedlichste Beleuchtungen.
Christian Zacharias spielt das Rondo D-dur, KV 485, von Wolfgang Amadeus Mozart.

51) Mozart: Rondo für Klavier, D-dur, KV 485 5:52

Christian Zacharias spielte das Rondo D-dur, KV 485, von Wolfgang Amadeus Mozart.
Über Form wollen wir heute, am Silvesterabend, nur insoweit reden als sie unser Leben betrifft. Ein Leben in Sonatenform? Oder lieber als Variationsform? Da-Capo-Form? Selbst wenn wir im Alter kindisch werden, kann man wohl von einer Dacapo-Form nicht reden.
Aber erinnern Sie sich, wie vorhin, in Goethes Ginkgo-Gedicht, die Dreierform so schön und natürlich zum Vorschein kam? Geradezu logisch, wie in Hegels Dreischritt: These - Antithese - Synthese. Und auch Hegels Studienfreund Hölderlin realisierte in vielen seiner früheren Gedichte diese triadische Form. Denken wir uns als ersten Schritt die Hingabe an die Welt, an eine schöne Welt, als nächsten Schritt die Abtrennung, die Wahrnehmung der eigenen Einsamkeit, - was könnte als Drittes folgen?
Hölderlins berühmtes Gedicht heißt "Hälfte des Lebens", warum aber "Hälfte"?
Wir befinden uns mit Hölderlin gewissermaßen in der Mitte zwischen den beiden Strophen, und eine dritte - gibt es nicht.

52) Peter Lieck liest:

Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm' ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

"Hälfte des Lebens" von Friedrich Hölderlin. Der Dichter selbst hat die zweite Hälfte seines Lebens in geistiger Umnachtung verbracht, mit luziden Momenten, in denen er gereimte Zeilen niederschrieb. So berichtet ein Freund am 14. Oktober 1811:

53) Bodo Primus liest:
" Sein dichterischer Geist zeigt Sich noch immer thätig, so sah er bey mir eine Zeichnung von Einem Tempel. Er sagte mir ich solte einen von Holz so machen, ich versetzte ihm darauf daß ich um Brod arbeiten müßte, ich sei nicht so glücklich so in Philosophischer ruhe zu leben wie Er, gleich versetzte Er, Ach ich bin doch ein armer Mensch, und in der nemlichen Minute schrieb er mir folgenden Vers mit Bleistift auf ein Brett... " (Ernst von Zimmer 19. April 1811)
54) Peter Lieck liest Hölderlin
Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind und wie der Berge Gränzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

(Friedrich Hölderlin Sämtliche Werke Kritische Textausgabe Band 9 Dichtungen nach 1806 - Mündliches Luchterhand Darmstadt und Neuwied 1984 S. 56)

Und Bettina von Arnim berichtete:

55) Gisela Claudius liest:
" In Tübingen habe ich Hölderlin besucht, den Greis in dem man noch den schönen blühenden Jüngling sieht, aus dem er ohne Bewußtsein, ohne daß für ihn Zeit dazwischen liegt, zum Greise geworden ist. Unter dem namenlosen Schicksal, das auf ihm liegt, ist er für das gewöhnliche Leben der Menschen seit vierzig Jahren verloren; nur irre Töne kommen aus seinem Mund und jede Gegenwart der Menschen verschüchtert und beklemmt ihn. Nur die Muse vermag noch mit ihm zu reden und in einzelnen Stunden schreibt er Verse, kleine Gedichte auf, in denen sich die frühere Tiefe und Anmuth des Geistes spiegelt aber jäh unmittelbar in, dem Verstande unzugänglich, Wort-Rhythmen übergeht. (...)
Bei einer Handwerkerfamilie lebt er, die ihn aus einfältiger Liebe zu dem Dichter, dessen Büchlein ihre Hauptlektüre sind, ehren und pflegen, besonders die Tochter. Von ihr läßt er sich wie ein Kind behandeln.
"

(Friedrich Hölderlin Sämtliche Werke Kritische Textausgabe Band 9 Dichtungen nach 1806 - Mündliches Luchterhand Darmstadt und Neuwied 1984 S. 196)
56) Peter Lieck liest Hölderlin:
Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
April und Mai und Julius sind ferne,
Ich bin  n i c h t s  mehr, ich lebe nicht mehr gerne.

(Friedrich Hölderlin Sämtliche Werke Kritische Textausgabe Band 9 Dichtungen nach 1806 - Mündliches Luchterhand Darmstadt und Neuwied 1984 S. 49)

Diese erschütternden Verse stammen vom kranken Hölderlin; im Kern sagen sie etwas Ähnliches wie das Gedicht "Hälfte des Lebens", und dies gehört zweifellos zu den schönsten der deutschen Sprache. Aber können Sie sich vorstellen, dass man es auch über 100 Jahre lang als das Gedicht eines Geisteskranken interpretiert hat?
Erst um 1920 entdeckte man, dass es mit einem falschen Entstehungsdatum überliefert war; es stammt aus der Zeit der großen Hymnen um 1798, wo von Krankheit keine Rede sein konnte. Hölderlin war 28 Jahre alt. Klingt das Gedicht nicht ganz anders, wenn es von einem blühenden jungen Mann stammt? Merkwürdig nur, dass es für jedes Lebensalter seine Aussagekraft bewahrt: man kann es auf die Schwelle zum Alter hin beziehen, dagegen hat die Dichterin Marie Luise Kaschnitz vorgeschlagen, es auf jene Furcht zu beziehen, die jedem Alter angemessen ist, die Furcht vor dem Zustand seelischer Verödung und Kälte, in dem die Dinge ihre Farben, ihren Duft und ihre Stimme verlieren.

57) Indische Geigen s. 59) "Alapana" 1:08
unter folgendes Gedicht

58) Gisela Claudius liest Hölderlin:

Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm' ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
59) "Vatapi ganapatim" Südindische Violinen ca. 3:30
Komponist: Muttuswami Dikshitar / Violin-Duo Lalgudi Krishnan & Vijayalakhshmi
WDR 12.06.2005 Brotfabrik Bonn

Blumen und Sonnenschein und Schatten der Erde, Lotosblumen im klaren Gewässer, aber auch Tanz, Anmut und Grazie, all dies finden wir in der südindischen Musik, auch wenn sie - wie hier - einem Gott mit Elefantenkopf gewidmet ist: Ganesha, "Vatapi ganapatim", Wohltäter der Menschen, hilfreich vor allem bei jedem Beginn, - einer Arbeit, eines Konzertes oder eines Neuen Jahres. Die Komposition stammt von einem Zeitgenossen Beethovens, von Muttusvami Dikshitar; und der Bruder dieses hochberühmten Komponisten war es, der die Violine, von den Engländern ins Land gebracht, als indisches Instrument akzeptierte, und seither gibt es eine ununterbrochene Tradition indischen Violinspiels.
Sie werden gleich bemerken, dass die kleine melodische Formel, aus der sich diese südindische Komposition entfaltet, an lebendigem Gehalt gewinnt, je mehr man sich hineinversenkt in dieses feine, sich allmählich aufwölbende Linienspiel. Jede einzelne Variante gehört zur Komposition des Meisters und wird seit Generationen penibel einstudiert, - für die Improvisation bleibt außerhalb dieses klassischen Kanons genügend Gelegenheit. (Musik beginnt)
Vatapi ganapatim - eine Blütenlese dieses liebenswürdigen Themas. Es ist unmöglich, davon nicht gefesselt zu werden: ein Nucleus, ein Samenkorn, ein winziges Motiv, Sänger und Meister aller Instrumente lieben es und gehen den Verästelungen nach, "Linien anlegen, sie weiterführen nach Rankengesetz -, Ranken sprühen" - wie der Dichter sagt (Benn "Statische Gedichte"). Warum sollte das schwieriger zu hören sein als Mozart?

60) Vatapi ganapatim 4 Versionen:
a) Water Music Jaltarang A.S.Ganesan
b) Imrat Khan (Deutsche Harmonia Mundi 1974)
Ansage: "Vatapi ganapatim"
c) Gesang + Geige (T.N.Krishnan WDR 1982)
d) Gesang + Geige (Lalgudi Vijyalakshmi & Krishnan WDR 2005)

Dies ist der Anfangsteil; die vollständige Komposition von Muttswami Dikshitar besteht aus 3 Teilen, der zweite widmet sich anderen melodischen Aspekten als der erste und der dritte schafft einen Ausgleich. Sie sehen: auch hier der Dreischritt! Es gibt jeweils einen kleinen Haltepunkt, aber zur Sicherheit werde ich den Beginn von Teil 2 und Teil 3 markieren, auch den Beginn der Improvisation nach rund 5 Minuten.
Und wenn Sie nach insgesamt 12 Minuten, die dem elefantenköpfigen, aber - wie man hört - leichtfüßigen Gott Ganesha gewidmet sind, wie wir hoffen: hoch sensibilisiert sind, möchten wir sie mit einem anderen Wesen bekanntmachen, dem Sie wirklich schon des öfteren im Garten oder in der freien Natur begegnet sind: dem Federgeistchen.

61) "Vatapi ganapatim" Lalgudi Geschwister (hinein: kurze Ansagen) 11:47
Komponist: Muttuswami Dikshitar Violin-Duo Lalgudi Krishnan & Vijayalakhshmi
WDR 12.06.2005 Brotfabrik Bonn

Das südindische Violin-Duo Lalgudi Krishnan und Vijayalakhsmi mit Ensemble, ein unvergesslicher Abend in der Bonner Brotfabrik beim Rheinischen Musikfest am 12. Juni 2005.
Meine Damen und Herren; es ist wohl der Rhythmus, der die südindische Musik so federleicht erscheinen, selbst wenn sie sich mit dem elefantenköpfigen Gott Ganesha befasst.
Wir werden uns in Kürze einem fast schwerelosen Tier zuwenden, einem kleinen Schmetterling, den Sie im Frühjahr durchaus in Ihrem Garten beobachten könnten.
Was Sie dort nicht so leicht finden, ist der Aérikos, ein griechischer Luftgeist, vielleicht auch Kobold. Er gibt uns Gelegenheit, ein wunderschönes Lied zu hören, das von Melina Kána gesungen wird.

62) Gisela Claudius liest den Text des griechischen Liedes "Aerikós"

Alle Vögel dieser Welt, wo auch immer sie herumflattern,
wo auch immer sie ihr Nest bauen, wo auch immer sie singen,
dort, wo der Geist flattert, dort, wo die Sonne aufgeht,
erstarren die Vögel dieser Erde, und nicht einer nähert sich.
Doch ich werde leben wie ein Kobold, wie ein Luftgeist,
heißer Atem und kaukasische Steppe.
Wirre Gedanken, die deine Träume erzählen,
wie viele Gefängnisse sie auch bauen und wie der Fussring auch enger wird,
unsere Gedanken sind wie Landstreicher, die immer entfliehen.
Wie ein Luftgeist, wie ein Kobold werd ich leben, - Aerikós.

63) Lied "Aerikós" mit Melina Kana, live im Konzert 2:59
Thanasis Papakonstantinou / Ashkhabad Sängerin Melina Kana / WDR Matinee der Liedersänger

64) Peter Lieck (PL) und Gisela Claudius (GC) lesen im Wechsel:

GC
"Verteidigung des Federgeistchens" von Jürgen Dahl
PL
" Aus ihrem Winterschlaf aufgestört, den sie unter trockenem Gebüsch gehalten hat, flattert die Motte hoch, taumelt umher, lässt sich gleich wieder nieder - und scheint im selben Augenblick verschwunden. Sie ist aber nicht verschwunden, sondern hat nur ihre im Flug schimmernden Flügel ganz schmal zusammengefaltet zu einem millimeterdünnen bräunlichen Strich.
Der Schmetterling, den man manchmal bei den ersten Frühjahrsarbeiten im Garten aufscheucht, gehört zur Familie der Federmotten und wurde zu einer Zeit, da man die Namen der Lebewesen gern noch etwas poetischer und anschaulicher wählte, Federgeistchen genannt.
GC
Federgeistchen deshalb, weil seine Hinterflügel tatsächlich fast wie Vogelfedern gebaut sind: Sie bestehen aus je drei schmalen Keulen, und diese sind von oben bis unten mit langen Haaren so besetzt wie der Schaft einer Vogelfeder mit Seitenästen. Man kann diese Hinterflügel nur ahnen, wenn man das Federgeistchen flattern sieht, denn sobald es sich niederlässt, verschwinden die Hinterflügel schier geisterhaft - nun nicht etwa, wie bei anderen Schmetterlingen unter den Vorderflügeln, sondern regelrecht darin. Das heißt: die (nicht mit Haaren besetzten, häutigen) Vorderflügel falten sich längs in der Mitte zusammen wie die Klappen einer Muschel und bergen in dieser schmalen Tasche die drei fedrigen Glieder der Hinterflügel.
PL
Die Erscheinung ist ganz und gar einmalig bei den Schmetterlingen, der sonderbare Mechanismus gehört allein dem Federgeistchen. Seine Raupen leben auf der Ackerwinde, einem lästigen Feld- und Gartenunkraut. Das ausgeschlüpfte Federgeistchen lebt von so gut wie nichts, überwintert im Verborgenen, legt im Frühsommer seine Eier an die Ackerwinde und stirbt dann. Die stoffliche und energetische Grundlage dieses Lebenszyklus wird fast ausschließlich von den Raupen besorgt.
GC
Im Sinne einer kybernetischen Ökologie erscheint das Federgeistchen ganz unerheblich, es schlägt nicht groß zu Buche, genau genommen überhaupt nicht: Natürlich können die Raupen des Federgeistchens von Vögeln gefressen werden - aber wenn es das Federgeistchen nicht gäbe, würden die Vögel keineswegs verhungern. Und die Ackerwinde, deren unterirdische Rhizome ihr das Überleben sichern, wird von den Raupen des Federgeistchens, die sich von ihr ernähren, nicht ernstlich in ihrer Ausbreitung gehemmt. Das heißt: Für die rechnerische Ökologie ist das Federgeistchen überflüssig bis dorthinaus.
PL
Das spricht aber nicht gegen das Federgeistchen, sondern gegen eine Ökologie, die, kaum dass sie von den vielfältigen Verkettungen des Lebens ein bisschen begriffen hat, gleich glaubt, sie könne es in ein großes Programm vom Wirken der Natur umsetzen. (...)
Es kommt [also] nicht vor in der Kalkulation. Stürben die Federgeistchen aus - die Ökologen würden es gar nicht merken, denn die Statistik würde davon kaum berührt und der Naturhaushalt litte nicht darunter, - aber: die Erfindung der federigen Hinterflügel mit den klappbaren Vorderflügeln wäre ein für allemal dahin.
GC
Eben diese Qualität der Einmaligkeit entzieht sich einer ökologischen und systemtheoretischen Bewertung, die nur das Funktionieren streng definierter Teilkreisläufe im Auge hat, fixiert bleibt auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung, von Jäger und Beute. Da sie die Federgeistchen aller Art übersieht, wird auch diese ganze Ökologie schließlich nichts dagegen ausrichten, dass die Welt zum Warenhaus verkommt und, wie alle Warenhäuser, irgendwann einmal den Räumungs-Schlussverkauf annoncieren muss. " (S. 70)

PL
" Was die Schönheit angeht, so hat diese freilich, wenn man alle Bedürfnisse des Menschen in Betrachtung zieht, auch ihre 'ökologischen' Funktionen. Aber die sind schwer zu fassen, nicht zu messen, auch widersprüchlich. Die Schönheit einer Wüste, eines Berges oder eines Schmetterlings: wer wollte die Kausalketten beschreiben, die sich daran anknüpfen können - aber wer wollte leugnen, dass es solche Kausalketten gibt? " (S.71)
(aus: Jürgen Dahl, Der unbegreifliche Garten und seine Verwüstung. Über Ökologie und über Ökologie hinaus
dtv/Klett-Cotta Stuttgart 1989 ISBN 3-608-93074-4)
Moderation JR
Jürgen Dahl, "Verteidigung des Federgeistchens".
Wir schließen uns an: die Schönheit der Musik, die nutzlosen Gedanken, die Kultur, die in die Luft (den blauen Himmel) gezeichneten Kausalketten, auch: die stille Wiederkehr des Bewährten, das ist es!

65) Lied "Aerikós" mit Melina Kana CD-Fassung Tr. 2 2:53
Thanasis Papakonstantinou / Ashkhabad Sängerin Melina Kana / Lyra CD 4919

Zum zweiten Mal hörten Sie die griechische Sängerin Melina Kana und das Ensemble Askhabad: sie sang das Lied "Aerikos", -Luftgeist, vorhin in der Live-Version aus einer Matinee der Liedersänger 2000 im WDR-Funkhaus und jetzt in der CD-Version. Und wir bleiben beim Déjá Vue.
Sie erinnern sich an Beethovens Bekenntnis zum Geist schlechthin, und vielleicht muss es uns gar nicht irritieren, dass er in dieses Bekenntnis ein junge Frau einbezieht, die die Tochter seiner sogenannten "unsterblichen Geliebten" ist, und dass er sich quasi bei den Eltern für diese Avance entschuldigt.
Die Sonate op. 109 ist das vollkommenste Gebilde aus Geist- und Körper-Gefühl, aus Balance, Grazie, Leidenschaft und Innigkeit.
Klanggewordenes Symbol menschlicher Intensität.
Lassen Sie uns die beiden Sätze, die wir schon gehört haben, kurz in Erinnerung rufen und erst zur Vollendung führen, wenn wir das große Körper-Bekenntnis des Architekten Eupalinos gehört haben, Bestandteil eines sokratischen Dialogs, den Paul Valéry ersonnen hat.

66) Beethoven op. 109 Rückblick Satz 1 + 2
Tr. 1 Anfang bis 0:57
Tr. 2 Anfang bis 0:56
(aus: Die späten Klaviersonaten mit Maurizio Pollini)

67) Bodo Primus liest Valéry
(aus Paul Valéry: Eupalinos oder Der Architekt)
Dieser Körper ist ein wunderbares Instrument, und ich überzeuge mich immer mehr, dass die Lebendigen, die ihn alle in ihrem Dienst haben, ihn nicht in seiner Fülle ausnutzen. Sie gewinnen ihm nur Vergnügen ab, Schmerzen und die unerlässlichen Anwendungen, wie eben um zu leben. Manchmal verwechseln sie sich mit ihm; gelegentlich vergessen sie einige Zeit seine Existenz; und bald zu stumpf, bald reine Geister, wissen sie gar nicht, welche allgemeinen Zusammenhänge sie enthalten und aus was für einem unerhörten Stoff sie gemacht sind.
Eben durch ihn nehmen sie teil an dem, was sie sehen, und an dem, was sie berühren: sie sind Steine, sie sind Bäume, sie tauschen Berührungen und Hauche aus, mit dem Stoff, der sie zusammenfasst. Sie berühren, sie werden berührt, sie sind schwer und sie heben Gewichte, sie rühren sich und tragen mit sich herum ihre Tugenden und ihre Laster; und wenn sie in Träumerei verfallen oder in den unbestimmten Schlaf, so wiederholen sie die Natur der Wasser, sie werden Sand und Wolken... Bei anderen Gelegenheiten versammeln sie in sich den Blitz und schleudern ihn!...

Aber ihre Seele weiß durchaus nicht, was mit dieser Natur, die ihr so nahe ist und die sie durchdringt, beginnen. Sie eilt voraus, sie bleibt zurück, sie scheint den Augenblick selbst zu fliehen. Sie erhält von ihm Anstöße und Antriebe, die es mit sich bringen, dass sie sich in sich selbst entfernt und sich in ihrer Leere verliert, wo sie Dünste zur Welt bringt.

Ich dagegen (aber), unterrichtet durch meine Irrtümer, ich sage im hellsten Licht und wiederhole mir bei jeder Morgenröte:

" O, mein Körper, der du mir jeden Augenblick zum Bewusstsein bringst diesen Ausgleich meiner Neigungen, dieses Gleichgewicht deiner Organe, diese richtigen Verhältnisse deiner Teile, die bewirken, dass du bist und dich immerfort erneuerst im Schoß der beweglichen Dinge: wache über meinem WERK; lehre mich heimlich die Forderungen der Natur und übertrage mir diese große Kunst, mit der du ausgestattet bist, so wie du bestehst durch sie, die Jahreszeiten zu überdauern und dich zurückzunehmen aus den Zufällen. Gib mir, dass in der Verbindung mit dir das Gefühl für die wahren Dinge finde; mäßige, bestärke, sichere meine Gedanken.
So vergänglich du auch bist, du bist es sehr viel weniger als meine Träume. Du dauerst ein wenig länger als eine Laune, du zahlst für meine Handlungen, und du büßest für meine Irrtümer: Instrument des Lebens, das du bist, du bist für jeden von uns der einzige Gegenstand, der sich mit dem Weltall vergleichen lässt. Der ganze Himmelsumkreis hat immer dich zur Mitte; o Gegenstand der gegenseitigen Aufmerksamkeit eines ganzen gestirnten Himmels!
Du bist recht das Maß der Welt, von der meine Seele mir nur das Äußere vorstellt. Sie kennt sie ohne Tiefe und so oberflächlich, dass sie manchmal imstande ist, sie in eine Reihe mit ihren Träumen zu stellen; sie zweifelt an der Sonne...
Von sich eingenommen durch ihre vergänglichen Hervorbringungen, glaubt sie sich fähig, eine Unzahl verschiedener Realitäten zu schaffen; sie bildet sich ein, es gäbe noch andere Welten, aber du rufst sie zurück zu dir, wie der Anker das Schiff zu sich zurückruft...
Mein besser erleuchteter Geist wird nicht aufhören, teurer Körper, dich von jetzt ab zu sich zu rufen; noch wirst du, hoffe ich, unterlassen, ihm deine Gegenwart, deinen Beistand, deine Bindungen an den Ort zur Verfügung zu stellen. Denn endlich haben wir das Mittel gefunden, du und ich, uns verbunden zu halten und den unauflösbaren Knoten unserer Unterschiede: ein Werk soll unsere Tochter sein.
" [... ein wohlgebautes, gut ersonnenes Kunstwerk. J.R.]
(Paul Valéry: Gedichte / Die Seele und der Tanz / Eupalinos oder Der Architekt / Übertragen durch Rainer Maria Rilke / rororo Rowohlts Klassiker Frankfurt am Main 1962)

Moderation JR
All dies sagt der Architekt Eupalinos, von dem Paul Valéry einen gewissen Phaidros erzählen lässt.
Er sagt auch: dass er sich "durch vieles Bauen ... wohl selbst erbaut" habe. (S. 110)
Und von den Bauwerken, die die Städte bevölkern, sagt er, dass die einen stumm sind, die anderen reden, und noch andere schließlich, und das sind die seltensten, singen.
Und er erzählt von einem Bauwerk, das einem Mädchen gleicht:

68) Bodo Primus liest Valéry (Forts.)

" Wenn ich mir etwas vorstelle, ist es schon immer, als führte ich etwas aus. (Also) das, was ich denke, lässt sich ausführen; und das, was ich ausführe, geht auf ein Einsehen zurück... Und dann...
Höre, Phaidros (sagte er mir noch), der kleine Tempel, den ich einige Schritte von hier für Hermes gebaut habe, wenn du wüsstest, was er für mich bedeutet! - Wo der Vorübergehende nichts sieht als eine elegante Kapelle - eine Kleinigkeit: vier Säulen, ein sehr einfacher Stil - da habe ich die Erinnerung an einen lichten Tag meines Lebens untergebracht.
O süße Verwandlung! Dieser zarte Tempel, niemand ahnt es, ist das mathematische Bildnis eines Mädchens von Korinth, das ich glücklich geliebt habe. Er wiederholt getreu die Verhältnisse ihres Körpers. Er lebt für mich! Er gibt mir zurück, was ich ihm gegeben habe...
"
Moderation JR
Und Paul Valéry ließ seinen Sokrates auf die Musik verweisen:
Im Werk eines Menschen zu sein wie in einem Tempel; "eine Art vollkommener Großheit, in der wir leben..." Ja, sagt er, "ich will den Gesang der Säulen hören und mir im klaren Himmel das Denkmal einer Melodie vorstellen."

69) Peter Lieck

" Kam es dir (inmitten des Publikums nicht auch schon] vor, als ob der ursprüngliche Raum ersetzt worden wäre durch einen geistig fassbaren und veränderlichen Raum; oder vielmehr als ob die Zeit selbst dich auf allen Seiten umgäbe?
Lebtest du nicht in einem beweglichen Gebäude, das immerfort erneut wurde und wieder erbaut in sich selbst; völlig hingegeben an die Verwandlungen der Seele, welche die Seele des Raumes war?
War das nicht eine immerfort wechselnde Fülle, gleich einer unaufhörlichen Flamme, die dein ganzes Wesen erleuchtete und erwärmte, indem sie in dir immerfort Erinnerungen verzehrte, Vorgefühle, Rückblicke und Voraussichten und dazu eine Unzahl unbestimmter Erregungen? ... diese Tänze ohne Tänzerinnen ... diese Statuen ohne Körper und ohne Gesicht (und dennoch so fein gezeichnet).
"
(Paul Valéry: Gedichte / Die Seele und der Tanz / Eupalinos oder Der Architekt / Übertragen durch Rainer Maria Rilke / rororo Rowohlts Klassiker Frankfurt am Main 1962)
Moderation JR
Brauchen wir noch mehr Stichworte, um das Thema, die Variationen und die abschließende Triller-Ekstase der Klavier Sonate op. 109 E-dur von Ludwig van Beethoven zu erleben? ... das Mädchen, der Tempel und die sich wandelnden Räume der Seele ...
Maurizio Pollini spielt.

70) Beethoven: Klaviersonate E-dur op. 109 Dritter Satz Gesangvoll 12:30

Maurizio Pollini spielte den letzten Satz der Sonate op. 109, E-dur, von Ludwig van Beethoven.

Meine Damen und Herren, es geht auf Mitternacht, ein Neues Jahr wird beginnen, vielleicht auch ein neues Leben, für mich jedenfalls, dies sind die letzten Minuten meiner beruflichen Arbeit im WDR, wenn um 12 Uhr die Glocken des Kölner Doms läuten, bin ich bereits "freier Mitarbeiter". Ich finde, das klingt besser als: "Pensionär".
Nehmen Sie das abschließende Trinklied vom Jammer der Erde nicht als Trauermusik, wenn auch der großartige Sänger James King, der es 1966 mit den Wiener Philharmonikern unter Leonard Bernstein aufgenommen hat, am 20. Oktober achtzigjährig gestorben ist.
"Das Lied vom Kummer soll auflachend in die Seele euch klingen", so sagt der chinesische Dichter mit den Worten Hans Bethges, für mich ist es eines der großartigsten Lieder des Lebens überhaupt, gerade weil es den dunklen Aspekt nicht ausklammert.
Erinnern Sie sich an den unglaublichen Übergang vom Bild eines Affen, dessen Heulen in den süßen Duft des Lebens hinausgellt, zu dem Fazit: Jetzt nehmt den Wein. Jetzt ist es Zeit, Genossen! Leert eure goldnen Becher zu Grund.
Meine Damen und Herren: Sie können auch nach islamischem Brauch unter Wein etwas ganz anderes verstehen, einen Seelennektar oder was Sie wollen; ich dagegen neige dazu, unter Wein auch wirklich Wein zu verstehen: letztlich geht es um den puren Augenblick, - in der Gegenwart anzukommen.
Mit Leib und Seele.
Auf der Erde.

71)Gisela Claudius
Das Trinklied vom Jammer der Erde (Hans Bethge)
Bodo Primus
Schon winkt der Wein im goldnen Pokale.
Doch trinkt noch nicht, erst sing ich euch ein Lied!
Das Lied vom Kummer soll auflachend
In die Seele euch klingen. Wenn der Kummer naht,
Liegen wüst die Gärten der Seele,
Welkt hin und stirbt die Freude, der Gesang.
Dunkel ist das Leben, ist der Tod.
Peter Lieck
Herr dieses Hauses!
Dein Keller birgt die Fülle des goldenen Weins!
Hier diese Laute nenn ich mein!
Die Laute schlagen und die Gläser leeren,
Das sind die Dinge, die zusammenpassen.
Ein voller Becher Weins zur rechten Zeit
Ist mehr wert als alle Reiche dieser Erde.
Dunkel ist das Leben, ist der Tod.
Gisela Claudius
Das Firmament blaut ewig, und die Erde
Wird lange feststehn und aufblühn im Lenz.
Du aber, Mensch, wie lange lebst denn du?
Nicht hundert Jahre darfst du dich ergötzen
An all dem morschen Tande dieser Erde!
Bodo Primus
Seht dort hinab!
Im Mondschein auf den Gräbern hockt
Eine wild-gespenstische Gestalt. Ein Aff' ist's!
Hört ihr, wie sein Heulen hinausgellt
In den süßen Duft des Lebens!
Jan Reichow
Jetzt nehmt den Wein! Jetzt ist es Zeit, Genossen!
Leert eure goldnen Becher zu Grund!
Dunkel ist das Leben, ist der Tod.
72) Gustav Mahler Trinklied vom Jammer der Erde 8:25
aus: Das Lied von der Erde / James King / Dietrich Fischer-Dieskau / Wiener Philharmoniker / Leonard Bernstein

Das Trinklied vom Jammer der Erde, der erste Satz aus Gustav Mahler Lied von der Erde. Gesungen von James King, gespielt von den Wiener Philharmonikern unter Leonard Bernstein.
"Silvester, janusköpfig", eine Sendung von J.R.; gleich wird sich das große Tor des römischen Gottes Ianus öffnen, und der 1. Januar 2006 beginnt. Die letzten zwei Minuten überlasse ich Sie Eulen und Nachtgeistern, aber eins steht fest: um Punkt 0:00 hören Sie den ersten Schlag der Kölner Domglocken, die dann mit ihrem vollen Geläut das Neue Jahr begrüßen.

73) Steinkauz, Zwergohreule kombiniert, später auch Waldkauz 1:20
So singen unsere Vögel (Hans A. Traber) Folge 2


Genau 0:00 Uhr letzte CD mit Glocken und Absage starten:
"Glocken des Kölner Doms"


Punkt 0.00 Uhr nach dem ersten Glockenschlag des Doms die Ansage:
"Es ist Null Uhr Null!!!" (Glocken wieder hoch)
Über die Glocken in Abständen das sich verlängernde Pausensignal der Kölner Philharmonie.


(Absage nach Philharmonie-Signal:)
WDR 3 wünscht allen Hörerinnen und Hörern ein gutes Neues Jahr!!!
In unserer Silvestersendung wirkten mit: Gisela Claudius, Bodo Primus und Peter Lieck. Für die Technik der Sendung sorgte Sebastian Freudenberg; im WDR 3-Studio war Kanta Schäfer für Sie da.
Einen Musik-Laufplan und den Textnachweis dieser Silvestersendung finden Sie nächste Woche im Internet, das Hörertelefon hat bereits Informationen vorliegen, ist ab morgen früh auch empfänglich für Lob, Kritik und Anregungen fürs nächste Jahr.
Viele gute Wünsche auch von mir - Ihr Jan Reichow
(P.S.) Sie haben vielleicht das Pausenzeichen der Kölner Philharmonie erkannt:
Die Nacht ist noch nicht zuende, und das Jahr fängt gerade erst an...
(Glocken hoch bis 0:05)
Ab 0.05 Uhr ARD Nachtkonzert


Jan Reichow © 2005




© Dr. Jan Reichow 2005Im Netz ... Jan Reichow < Startseite < Texte < Texte für das Radio < Silvester, janusköpfig (Sendung vom 31.12.2005)