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31. Dezember 2005 WDR 3 20:03 bis 0:05 Uhr Sondersendung (Jahresübergang - mit Glockenläuten!) Silvester, janusköpfig: Beethoven und Dikshitar - ein alter Weg ins neue Jahr mit dem Erzherzogtrio, Mozart-Variationen, Hölderlin-Versen, dem Trinklied vom Jammer der Erde, der Anrufung des elefantenköpfigen Gottes, einem Bekenntnis zum Geist, einem Lob des Körpers, Ausblicken auf das ehrwürdige Leib-Seele-Problem, auf ein nichtsnutziges Insekt namens Federgeistchen und vieles andereDurch die Sendung führt Jan Reichow Anschließend: Jahresübergang mit den Glocken des Kölner Doms Moderation JR: Silvesterabend 2005, noch 237 Minuten bis Mitternacht, am Mikrofon begleitet Sie J.R., und ich hoffe, dass Sie die Zeit vergessen. Ich werde Sie rechtzeitig erinnern. Meine Damen und Herren, falls Sie das Gefühl haben, im vergangenen Jahr etwas versäumt zu haben, - legen Sie's ad acta, nur keine Vorsätze fassen auf der Basis eines schlechten Gewissens. Machen Sie's einfach besser, wenn es soweit ist. Wir leugnen nicht die großen Gefühle, die heute gern beschworen werden, wenn es z.B. um Kino oder Fussball geht. Wir sind absolut für die großen Gefühle. Aber gibt es zum Beispiel das große Gefühl der Sünde noch? Reue? Scham? Also abgesehen vom Schiedsrichter Hoizer, der nichts empfindet, dies aber recht wirkungsvoll; abgesehen von einem ehemaligen Bundeskanzler, der nur seine connections nutzt, abgesehen vom Chef des deutschen Geldes, der den eigenen Acker bestellt... Wir haben kein Verbrechen begangen, nicht einmal in Gedanken! Wir haben uns nie auf Obszönitäten eingelassen, - auch nicht in Gedanken, will ich doch hoffen? Vielleicht hatten wir einfach nicht soviel Macht und erst recht nicht soviel Geld, wie man braucht, um so richtig, wie gewünscht, aus dem bürgerlichen Rahmen zu fallen. Aber angenommen, - w e n n ... was wäre aus uns geworden? Wie Georg Christoph Lichtenberg sagte: 1) Bodo Primus liest: " Ich sehe nicht ein, warum nur derjenige Mann bekannt werden soll, dessen Fähigkeiten durch viel Lärm und Glanz hörbar und sichtbar werden. Alexanders Genie war ein Funke, der in ein Pulvermagazin fiel, das aufflog und Asien beben machte; unser Funke fiel daneben vorbei ins Feuchte. Ich sage nur, was hätte das für eine Erschütterung geben können, wenn er auf das Pulver gefallen wäre. " Moderation JR:
Wir waren bei der Reue, und im Ernst, liebe Hörerinnen und Hörer, in dem Moment, wenn Sie in Zweifel geraten, wenn Sie sich und Ihr Leben, auch Ihr Innenleben, prüfen, machen Sie sich keineswegs menschlich verdächtig, sie tun das, was selbst die Philosophen für unser aller Pflicht halten, - wenn wir schon eine Sünde benennen sollten, so gäbe es an erster Stelle die der Gedankenlosigkeit.
2) Gisela Claudius liest: " Es bedarf oft einer tiefen Philosophie, unserm Gefühl den ersten Stand der Unschuld wiederzugeben, sich aus dem Schutt fremder Dinge herauszufinden, selbst anfangen zu fühlen und selbst zu sprechen, und ich möchte fast sagen, auch einmal selbst zu existieren. " Moderation JR:
Nun gut, das alte Jahr ist reif, überfällig sogar, das neue kommt auf uns zu, - wir wollen es janusköpfig angehen: mit widerstreitenden Empfindungen, die man auch komplementär sehen könnte, mit dialektischen Gedankengängen, hier Emphase und Ekstase, dort Buß' und Reu, und ab und zu ein Ausgleich. 4) Nagasvaram/Tavil Ensemble im Hindu-Tempel in Sri Lanka (trad./ohne) 1:30 5) CD Lamento Tr. 1 Joh.Christoph Bach "Ach, dass ich Wassers g'nug hätte" 7:22
Steve Gorn, Bansuri: Parampara! In Memory of Gour Goswami darin: 6b) Peter Lieck liest Tagore: Rabindranath Tagore, 8. Dezember 1937 7) Max Reger: Die 8. Variation der Mozart-Variationen op. 132 7:46 Sie hörten Musik aus einem Hindutempel auf Sri Lanka, danach die Stimme von Magdalena Kozena, in dunklen Violenklang gehüllt, ein Lamento von Johann Christoph Bach, einem Verwandten aus der Generation vor Johann Sebastian Bach, Musica Antiqua Köln spielte unter Reinhardt Goebel; Peter Lieck sprach ein Gedicht von Rabindranath Tagore, es ist einer schönen neuen Übersetzung seiner Werke entnommen, schließlich Max Reger: die achte der Mozart-Variationen, mit dem WDR Sinfonieorchester unter Heinrich Schiff. Janusköpfig auch dies: - dunkle Erinnerungen, Mozarts Thema in weiter Ferne, aber auch viel Vorahnung, Hoffnung, Sehnsucht. Ich fände es schön, wenn Regers großes Variationenwerk einfach mal so zuende gehen würde, ohne Fuge, ohne Apotheose; ich bin sicher, er hätte das unverzeihlich gefunden. 8) Mozart: Rondo alla Turca mit Friedrich Gulda, Klavier 3:23
Zuerst Friedrich Gulda, dann Fazil Say mit seiner Version der Paganini-Variationen und mit seiner Komposition Dervish in Manhattan. Für den Dervish zeichnete verantwortlich: Kudsi Erguner mit der Rohrflöte Ney; und schließlich hörten Sie noch das unvergleichliche türkische Ensemble Kardesh Türküler. Wir haben allerhand Jahresrückblicke erlebt, "Menschen des Jahres" und Katastrophen, all dies in einer Bildqualität, deren Realitätsdruck gewissermaßen ein kritisches Bild der Geschichte erübrigt; und die Zukunft besteht ohnehin vor allem aus Fußballweltmeisterschaft. Ein neuer Massenmedienrekord ist das mindeste, was man erwartet oder erwarten soll.
Letztlich sind es die Kunstwerke, die uns den Gang der Geschichte, die wir feiern wollen, so schön undurchsichtig machen. Weil sie sich loslösen und schweben. Vielleicht lag darin auch die Faszination des Engels, den Walter Benjamin auf einem Bild von Paul Klee sah und zum "Engel der Geschichte" machte. Dem hatte Gerhard Scholem - später nannte er sich Gershom Scholem - die folgenden Worte als "Gruß vom Angelos" in den Mund gelegt: 12) Gisela Claudius liest: Gruß vom Angelos (Gerhard Scholem) Und sein Freund Walter Benjamin bezog den Vers auf das Bild eines Engels, der vergeblich die Flügel aufzuspannen sucht, um in die Zukunft zu starten, - der er allerdings den Rücken zuwendet: er weiß nichts von ihr. Es ist Benjamins berühmtes Bild vom Begriff der Geschichte. Dies ist der Text: 13) Bodo Primus liest Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940) These IXEs gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Moderation JR
Der moderne Manager sagt: er muss sich doch nur umdrehen und der Zukunft mutig ins Auge schauen. Aber er irrt sich, denn der Engel ist kein Manager, sondern ein Symbol der Realität, und der Manager irrt sich, wenn er an die allgemeine Machbarkeit, unbegrenzte Manipulierbarkeit und an die eigene Allmacht glaubt. Auch er treibt rückwärts in die Zukunft.
Diese Blindheit ist die Kehrseite, die Verkehrung dessen, was einst unter Humanität verstanden wurde, das ruhige Selbstvertrauen, die gebildete Persönlichkeit, der Glaube an den Menschen, Humanität, all dies, was in ein klassisches Werk eingegangen ist, wie das herrliche Thema, das Sie gleich hören; seine allmähliche Entfaltung in Variationen gleicht der Offenbarung einer schönen Seele, mit all ihren edlen Emotionen, stolzen Leidenschaften und auch - Selbstzweifeln, - fast wie die Rückschau auf ein Leben.
14) Beethoven: Andante cantabile, 3. Satz aus dem Trio op. 97 10:46 Die Botschaft einer versunkenen Zeit. Das Abegg Trio spielte.
15) Beethoven Andante cantabile aus op. 97 (Reprise bis Ende) 3:48 Vielleicht das Modell einer Selbstreflexion, eines Zwiegesangs, eines menschlichen Miteinanders, - das ist eben etwas anderes als eine Konferenzschaltung oder ein Consultinggespräch und wird daher kaum noch auf unser Leben und Denken bezogen. Was jenseits der alltäglichen Praxis liegt, sie übersteigt, transzendiert, wird allerdings nach wie vor gebraucht, nur gibt es in unserer Gesellschaft kein Modell des Umgangs mehr, jedenfalls nicht im privaten Diskurs: da blühen Aberglaube und überspielte Orientierungslosigkeit. Ich zitiere aus einem Buch über "Medienkultur und Mythen": (Hartmut Heuermann, Medienkultur und Mythen S. 281 Reinbek 1994):" Die sogenannte Informationsgesellschaft, deren Profilierung allenthalben das Antlitz unserer Kultur verändert, ist keineswegs das, was der Begriff nahelegen könnte - die informierte Gesellschaft. Realiter ist sie die mit Informationen malträtierte, von der Datenfülle strangulierte Gesellschaft - eines Gesellschaft, in der, gemessen an dem, was global ständig an neuem Wissen produziert wird, der einzelne Mensch immer weniger weiß. Ungefähr alle fünf Jahre verdoppelt sich die Zahl der Informationen (...)."So sagt man, aber welcher Art sind die Informationen, aus der Sicht des potentiellen Nutzers, der Orientierung sucht? "Man spricht bei uns von der Informationsexplosion. Es ist aber eine Explosion des Quatsches", bemerkt der Informatiker und Computerfachmann Joseph Weizenbaum. (Spiegel 1987) Information heißt also alles andere als Orientierung, und in der Tat gehört zu den wichtigsten Tätigkeiten unseres Lebens die fortwährende Entsorgung des Überflüssigen, der bloßen Meinung, des hohlen Geredes und Geschreibes; am 11. Oktober las ich in der Zeitung (Solinger Tageblatt): Jeanette Biedermann glaubt an die WiedergeburtEnde der Meldung. Ein Musterbeispiel unsinniger Meinungsvermittlung. Das Déja-Vue-Erlebnis soll beweisen, dass die Seele überlebt und von Körper zu Körper wandert, der einzelne Körper aber eine bloße Hülle ist, die nicht überdauert. Woher dieses Misstrauen gegen den anwesenden Körper und die Präsenz in der Gegenwart, ausgerechnet von einer Popsängerin, die doch gerade ganz besonders in dieser einen Welt zuhause ist. Fordert der alte klassische Idealismus auf den Umwegen der Popmusik einen neuen Tribut? Meine Damen und Herren, sind Sie vollkommen anwesend? Woran erinnern Sie sich... 16) Les quatre violons: Mozart "Dies Bildnis ist bezaubernd schön" Teil I 2:38
Man erinnert sich zunächst vielleicht dunkel und läuft dann ganz allmählich in gesicherte Bahnen, ohne diesen wunderbaren Vorgang zu mystifizieren; man springt nicht ins Jenseits, sondern bleibt dicht an der Musik: da kommt zunächst ... Mozart, vielleicht die Worte "bezaubernd schön", die Zauberflöte, Tamino, der ein Bildnis sieht, das auf eine wirkliche Frau verweist.
17) Prof. Dr. Detlef Linke (aus Interview 21.01.1998) (Déjà-Vue-Erlebnisse sind häufig, man findet sie nicht nur bei Epileptikern, also sie muß kein Geschehen innerhalb einer Krankheit, einer zu behandelnden Krankheit sein, eh das Erlebnis kann auch bei sonst ganz normalen Personen auftreten.) 18) Les quatre violons: Mozarts "Dies Bildnis ist ..." (Forts.) 1:05
Das Interview mit dem Bonner Neurophysiologen Detlef B. Linke habe ich 1998 in der Bonner Uniklinik geführt, am 6. Februar dieses Jahres ist er gestorben.
19) Liturgie des Heiligen Chrysostomos (Ausschnitt) 2:30
"Tas Tyras -Tas Tyras!" Die Türen! Die Türen!
Vor allem Gesundheit, das ist ein Wunsch, den wir gerade hundertfach gehört haben und morgen noch hören werden. Niemand wünscht uns z.B. einen Zuwachs an Verstand oder Geist; jeder glaubt, damit ausreichend versorgt zu sein und unterstellt es auch mir. Und trotzdem verfolgen uns unterschwellig diese Dichotomien und fordern uns Stellungnahmen ab. Könnte es nicht sein, dass es genau diese Entweder-Oder-Fragen sind, die uns in die Irre führen? Sie sind ja keineswegs gelöst wenn wir sagen: beides gilt, z.B. - "mens sana in corpore sano", ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Auch die Formel von der Ganzheitlichkeit klingt allzu gut, das sind nun mal keine zwei Hälften, die man schön zusammenfügen kann. Ebensowenig wie Frau und Mann. Und Sex ist auch nicht erfunden, damit wir ein körperlich plausibles Gleichnis für gelingende Liebe haben. Kürzlich habe ich gelesen, was die Evolution höchstwahrscheinlich mit der Erfindung der Sexualität bezweckt hat: Neue Wesen, die sich von ihren Eltern unterscheiden, wappnen sich besser gegen zukünftige Gefahren für Leib und Leben. "Nur durch Sex kann man Nachkommen hervorbringen, die besser sind als man selbst", erklärt der Forscher. Das heißt, allein um zu überleben, müssen sich Lebewesen rasch verändern. Wer stehen bleibt, hat schon verloren. Der todbringende Gegner im Rennen heißt WIE? Sie glauben es nicht, wie klein er ist: es sind - Parasiten. Sie hätten uns längst den Garaus gemacht, wenn wir uns nicht durch die Zweigeschlechtlichkeit ständig veränderten. Wie grauenhaft banal! Und Gesundheit? Was ist denn Gesundheit? Der Spötter sagt: Gesundheit heißt nur: nicht gründlich genug untersucht. Ein anderer sagt: Gesundheit ist das Schweigen der Organe. Das soll heißen, es tut nichts weh.
20) - 30) Collage aus Dichtung, Musik und Weltanschauung 20) Gisela Claudius liest: ...Der astralische Leib ist uns durch die unserer Erdenentwicklung vorangehende Mondenentwickelung zugeteilt worden, unser Ätherleib durch die weiter vorangehende Sonnenentwickelung, der physische Leib seiner ersten Anlage nach durch die Saturnentwickelung. (...) Sehen wir nicht aus den Tatsachen, die uns die "Geheimwissenschaft" überliefert, daß an dieser Gliederung in die drei Hüllen des Menschenwesens Geister aller möglichen Hierarchien mitgewirkt haben? Sehen wir nicht, daß dasjenige, was uns als physischer Leib, als Ätherleib, als astralischer Leib umhüllt, sehr, sehr komplizierter Natur ist? Aber nicht nur, daß diese Hierarchien mitgearbeitet haben an dem Zustandekommen unserer Hüllen, sie arbeiten noch immer darinnen. Und der versteht den Menschen nicht, der glaubt, daß dieser Mensch bloß die Zusammenfügung ist von Knochen, Blut, Fleisch und so weiter, von denen uns die gewöhnliche Naturwissenschaft, die Physiologie oder Biologie oder Anatomie erzählen. (S.11 f) 21) Bodo Primus liest Stefan George Wenn ich heut nicht deinen leib berühre22) Bach: "Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistig!" Fuge aus der Motette "Jesu meine Freude" 2:15 (RIAS-Kammerchor, René Jacobs) 23) Are Waerland verkündet: "Triumph des grünen Blattes" Triumph des grünen Blattes!!!24) (s. 13) Erinnerung: Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. (Benjamin)25) Ebba Waerland (aus dem Nachwort zur Rede ihres Mannes): (...) Wir sollten aus diesem Jungbrunnen mit vollen Händen schöpfen und unser Blut und unsere Säfte reinigen und dadurch, dass wir den wilden Pflanzen ... Löwenzahn, Nesseln, Schafgarbe und alle die anderen Heilpflanzen, die Sprösslinge von Tannen und Lärchen, und die Blätter von Erdbeeren, Brombeeren, Himbeeren, Birken, usw., einen Ehrenplatz in unserem Kostplan geben. Jeder Städter kann in freien Stunden in der Umgebung der Stadt solche Pflanzen holen, aber der Städter findet ja in den Reformhäusern und bei den biologischen Gärtnereien oder im Hausgarten herrlichste Salate und andere herrliche Pflanzen.26) Kinski deklamiert Paul Zech/François Villon 27) Ekstatische Predigerin aus Philadelphia (Voices of the world) 3:00 CD Les Voix du Monde / Voices of the World Le Chant du Monde CMX 374 1010.12 USA Philadelphia Pennsylvania / A sermon by the Reverend Audrey F. Bronson, pastor of the Church of the Open Door, with accompaniment at the Hammond organ. / Sunday religious service among a community of middle-class Blacks, in an outer suburb of Philadelphia. Recorded by Jean Schwarz (1978) in das "Ah... ah... ah du... ah du... du ach" von Kinski: "Look here - there is one more thing - when Jesus looked now the condition of the world (?) - he said ;Father!' etc. etc. 28) Islamischer Ruf im Taj Mahal "vibrations" 1:41 Gisela Claudius liest:
" Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert30) Beethoven: Thema des letzten Satzes op.109 E-dur 2:11 aus: Die späten Klaviersonaten mit Maurizio Pollini beginnt unter den Rilke-Versen, bleibt unter folgendem Text
Peter Lieck liest:
32) Beethoven Sonate op. 109 (Pollini) Erster Satz Vivace... 3:16 Maximiliane von Brentano gewidmet. Die Mutter der Widmungsträgerin, Antonie Brentano, war niemand anders als Beethovens "unsterbliche Geliebte", ihr hat Beethoven - ohne sie mit Namen anzureden - 1812 den leidenschaftlichsten Brief seines Lebens geschrieben. In Tagebüchern und Notizen erscheint sie mit dem Buchstaben T., - und Antonie Brentano wurde im Freundeskreis "Toni" genannt, eine unerlaubte Liebe, die auch ohne happy end geblieben ist. Beethoven resignierte, aber noch im Jahre 1817 findet sich folgende Notiz in seinem Tagebuch:
" Nur Liebe - ja nur Sie vermag dir ein glücklicheres Leben zu geben O Gott laß mich sie endlich finden die mich in Tugend bestärkt die mir e r l a u b t mein ist. Baaden, am 27ten Juli Als die M. vorbeifuhr und es schien als blickte sie auf mich. " (Maynard Solomon BEETHOVEN S. 204) (Achtung: das letzte "sie" ist zu betonen!)
Mutter und Tochter, Antonie und Maximiliane Brentano, waren die einzigen Frauen, denen Beethoven nach 1820 noch Werke widmete. Und zur Sonate in E-dur op. 109 schrieb er Maximiliane den vielsagenden Brief mit den Bände sprechenden Zeilen: " Es ist der Geist, der edlere und bessere Menschen auf diesem Erdenrund zusammenhält und den keine Zeit zerstören kann, dieser ist es, der jetzt zu Ihnen spricht.... " Und die Sonate redet von nichts anderem als von der Zeit, die den Geist nie und nimmer zerstören soll, vielleicht redet sie auch von Liebe, vielleicht sogar von Maximiliane selbst oder von ihrer Mutter. Darüber kann man streiten, nicht aber darüber, dass Beethoven etwas Außergewöhnliches sagen wollte und ein Mysterium geschaffen hat. 33) Beethoven-Thema op. 109 CD 2 Tr. 3 (nur Thema) 2:11
Ludwig van Beethoven op. 109, Klaviersonate E-dur, Maurizio Pollini spielte zunächst den ersten Satz, und dies war gerade das Thema des dritten, des Variationssatzes, den wir später hören werden, auch den zweiten Satz werden wir bis dahin gehört haben. Die verschiedensten Blicke auf Leib und Seele, Körper und Geist haben Sie erlebt, - unmöglich, daraus einen inneren Zusammenhang zu formen. Glaube und Aberglaube, Gesundheit und Wahnsinn, menschliche Nähe, theatralisches Begehren, Liebe und Dominanz, Kunst und Kuriosität - kein Zweifel : man rückt uns auch mit bloßen auf den Leib! Erst recht mit Klängen. Die schwarze Predigerin aus Philadelphia will uns durchaus nicht mit Musik und Vortragskunst das Dasein verzaubern! Und der Wächter im Taj Mahal will uns mit seinen Rufen nicht von der Schönheit des Raumes überzeugen, sondern von der Notwendigkeit eines Extra-Bakschischs. Trotzdem arbeitet er instinktsicher mit der Tiefe und Größe des akustischen Raumes, er zieht uns routiniert in eine andere Dimension. Und wir assoziieren weiter, - all diese Formeln:
Oder sagen wir: die Choralmelodie als geschwungenes Dach, darunter ein dreistöckiges Gebäude, in einer subtil aufgefächerten Struktur, die wir uns körperlich anverwandeln.
34) Joh. Seb. Bach: Kantate "Christ lag in Todesbanden" BWV 4 10:00 Cantus Cölln, Leitung Konrad Junghänel, mit einem Ausschnitt aus der Kantate "Christ lag in Todesbanden" von Johann Sebastian Bach. Die dreiteilige Form mag Ihnen besonders übersichtlich erscheinen, sie ist allerdings auch von uns manipuliert: bei Bach sind es 7 unterschiedliche Strophen, aus denen ich die erste, zweite und letzte ausgewählt habe. Szenenwechsel. "Verwandlung. Felsenhöhlen. Links Feuerglut, rechts Wasserfall." 35) Mozart "Die Zauberflöte": "Der, welcher wandelt diese Straße..." 2:43 Die Mysterien der Isis... Wie sagt der iranische Dichter Shafi'e Kadkani? Er sagt, die Essenz des Seins sei nichts anderes als - - - MUSIK. 36a) Iran-Konzert (Shadjarian) in der Kölner Philharmonie 11.11.05 darüber:36b) Gisela Claudius liest Kadkani: Spiel die Melodie, selbst wenn die Saiten des Instruments gerissen sind,Mit diesem denkwürdigen Appell und einem sehr eigenartigen melodischen Linienspiel ging der erste Teil des Konzertes "Masters of Persian Music" zuende, das am 11. November 2005 in der Kölner Philharmonie stattfand: Forts. Iran-Konzert "Masters of Persian Music" - Tasnif "Bezan" 7:30
Dieses Konzert am 11. November 2005 in der Kölner Philharmonie wird niemand vergessen, der im Saale saß oder es später in WDR 3 aufmerksam verfolgt hat. Die Mitwirkenden waren:
Nicht wenigen Menschen wurde damals erst klar, dass die Welt der persischen Musik, Literatur und Kunst einen anderen Geist atmet als den der Macht und der armseligen, dumpfbackigen Realität, die auch jetzt gerade wieder Schlagzeilen gemacht hat. 37) Johann Wolfgang von Goethe: Faust - Erster Teil " FAUST Die hohen Ahnen, zu denen jetzt natürlich auch dieser Faust und Goethe selbst gehört. War er es nicht, der uns im West-östlichen Diwan den Zugang zum persischen Dichter Hafis erschloss und der wie kein anderer über die Doppelnatur des Menschen wusste, der Orient und Okzident zugleich in den Blick nahm und die wunderbaren Verse auf das zweigeteilte Blatt des Gingko-Baumes schrieb, der Jahrmillionen unverändert überdauerte und dann aus dem fernen China nach Europa verpflanzt wurde? 38) Bodo Primus liest: Ginkgo bilobaHaben Sie bemerkt, dass es drei Strophen sind? Die erste, die das Motiv benennt, des Baumes Blatt; die zweite, die die Fragen stellt - ist es eins, sind es zwei? - und die dritte, die "den rechten Sinn" angibt, die Antwort: "Eins und doppelt". Meine Damen und Herren, Silvesterabend auf WDR 3, am Mikrofon begleitet Sie Jan Reichow. Wir haben einen großen Weg beschritten und bereits ein Gutteil zurückgelegt. Von der Zweiheit zur Einheit, über den logischen Weg des Dreierschrittes, - trotzdem wird es weitergehn bis zur üblichen Vielheit der Körperwelt. Schließlich planen wir nicht unsere Selbstauflösung. Zwei Seraphim riefen, einer zum andern: Sanctus Dominus Deus Sabaoth! Und dann heißt es: Tres sunt, drei sind es, die im Himmel Zeugnis ablegen, der Vater, das Wort und der Heilige Geist, und diese drei sind Eins. Unum sunt: aus dem Dreiklang wird ein Einklang. Aber es heißt auch: die ganze Erde ist voll seines Ruhmes. Und die ganze Erde tönt, - so ergänze ich -, indem sie sich z.B. in 12 disparate Stimmen auffächert. Und in hundert unlösbare Widersprüche. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn man darüber zum Körperhasser wird... Zunächst: "Duo Seraphim" aus der Marienvesper von Claudio Monteverdi, Venedig, 1610. 39) Monteverdi Marienvesper CD I Tr. 7 "Duo Seraphim" 4:30
40) Xenakis "Nuits" Tr. 17 Anfang bis 3:51 3:51
41) Bali Tr. 9 Kecak from Blakiuh 3:40
42) Beethoven op. 109 Satz 2 Prestissimo 2:16 43) Balkan Brass Fest (Boban Marcovic) Gießhalle Duisburg 5:08
44) Kabarettist Helmut Schleich: "Der Körperhasser" 4:38 Von den Seraphim zum Körperhasser; Sie müssen ihn nicht mögen. Aber er war einfach nicht aufzuhalten.
45) Peter Lieck liest Lichtenberg: " Daß der Mensch das edelste Geschöpf sei, läßt sich auch schon darauf abnehmen, daß es ihm noch kein anderes Geschöpf widersprochen hat. "46) Gisela Claudius liest Lichtenberg: " Wenn eine Betschwester einen Betbruder heiratet,47) Bodo Primus liest Lichtenberg: " Wenn es der Himmel für nötig und nützlich finden sollte, mich und mein Leben noch einmal neu aufzulegen, so wollte ich ihm einige nicht unnützige Bemerkungen zur neuen Auflage mitteilen, die hauptsächlich die Zeichnung des Porträts und den Plan des Ganzen angehen. " Oder aus den Notizbüchern von Hans Blumenberg: 48) Peter Lieck liest Blumenberg:" Nach Alfred Polgar soll die tierliebe Lotte in Tränen ausgebrochen sein, als sie ein Bild mit dem Titel "Christenverfolgung unter Nero" anblickte. Nach dem Grund ihres Jammers befragt, zeigte sie auf einen einsamen Löwen am Rande des Bildes und seufzte: "Ach, Papa, der arme Löwe da hat gar keinen Christen. "49) Bodo Primus liest Lichtenberg: " Nachdem Einstein eines Tages einen Dachdecker von einem Haus fallen sah, eilte er herbei, um dem Herabgestürzten, der lebendig zu Boden gekommen war, eine Frage zu stellen. Allerdings fragte er nicht nach Art eines Menschenfreundes: 'Wie ist Ihnen?', sondern nach Art eines Wissenschaftlers, den Dachdecker als physikalischen Körper mit Bewusstsein inspizierend: 'Wie war es?', um zu erfahren, was er ohnehin wusste, aber kein fallender Dachziegel ihm bestätigen konnte:Bloße Spielerei? Es ist oft unmöglich, das Gewicht eines Gedankens in sich, isoliert, abzuschätzen, - geht es um seine Abwandlungsfähigkeit, oder um seine Neigung, sich in unterschiedlichste Zusammenhänge einzufügen bzw. sie zu beleben oder am Ende: zu verursachen? Nehmen wir einen kleinen Gedanken aus Mozarts Klavierquartett g-moll, - wer ihn nicht aus Mozarts späterem Klavier-Rondo schon kennt, wird ihm keine besondere Bedeutung beimessen: aber so geht es mit vielen anderen Themen und Motiven auch: hier ist eine Reihe von Bausteinen, der erste und der letzte aus dem Klavierquartett g-moll. Aber auch die Kleine Nachtmusik ist beteiligt, außerdem ein Streichquartett, ein frühes Divertimento und das erwähnte Klavier-Rondo, 8 aneinandergereihte Zitate. Sie brauchen keine Köchel-Nummer, - nur Ihre Ohren. 50) Mozart D-dur-COLLAGE 2:30
Christian Zacharias spielt das Rondo D-dur, KV 485, von Wolfgang Amadeus Mozart. 51) Mozart: Rondo für Klavier, D-dur, KV 485 5:52 Christian Zacharias spielte das Rondo D-dur, KV 485, von Wolfgang Amadeus Mozart.
52) Peter Lieck liest: Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens"Hälfte des Lebens" von Friedrich Hölderlin. Der Dichter selbst hat die zweite Hälfte seines Lebens in geistiger Umnachtung verbracht, mit luziden Momenten, in denen er gereimte Zeilen niederschrieb. So berichtet ein Freund am 14. Oktober 1811: 53) Bodo Primus liest: " Sein dichterischer Geist zeigt Sich noch immer thätig, so sah er bey mir eine Zeichnung von Einem Tempel. Er sagte mir ich solte einen von Holz so machen, ich versetzte ihm darauf daß ich um Brod arbeiten müßte, ich sei nicht so glücklich so in Philosophischer ruhe zu leben wie Er, gleich versetzte Er, Ach ich bin doch ein armer Mensch, und in der nemlichen Minute schrieb er mir folgenden Vers mit Bleistift auf ein Brett... " (Ernst von Zimmer 19. April 1811)54) Peter Lieck liest Hölderlin Die Linien des Lebens sind verschiedenUnd Bettina von Arnim berichtete: 55) Gisela Claudius liest: " In Tübingen habe ich Hölderlin besucht, den Greis in dem man noch den schönen blühenden Jüngling sieht, aus dem er ohne Bewußtsein, ohne daß für ihn Zeit dazwischen liegt, zum Greise geworden ist. Unter dem namenlosen Schicksal, das auf ihm liegt, ist er für das gewöhnliche Leben der Menschen seit vierzig Jahren verloren; nur irre Töne kommen aus seinem Mund und jede Gegenwart der Menschen verschüchtert und beklemmt ihn. Nur die Muse vermag noch mit ihm zu reden und in einzelnen Stunden schreibt er Verse, kleine Gedichte auf, in denen sich die frühere Tiefe und Anmuth des Geistes spiegelt aber jäh unmittelbar in, dem Verstande unzugänglich, Wort-Rhythmen übergeht. (...)56) Peter Lieck liest Hölderlin: Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,Diese erschütternden Verse stammen vom kranken Hölderlin; im Kern sagen sie etwas Ähnliches wie das Gedicht "Hälfte des Lebens", und dies gehört zweifellos zu den schönsten der deutschen Sprache. Aber können Sie sich vorstellen, dass man es auch über 100 Jahre lang als das Gedicht eines Geisteskranken interpretiert hat? Erst um 1920 entdeckte man, dass es mit einem falschen Entstehungsdatum überliefert war; es stammt aus der Zeit der großen Hymnen um 1798, wo von Krankheit keine Rede sein konnte. Hölderlin war 28 Jahre alt. Klingt das Gedicht nicht ganz anders, wenn es von einem blühenden jungen Mann stammt? Merkwürdig nur, dass es für jedes Lebensalter seine Aussagekraft bewahrt: man kann es auf die Schwelle zum Alter hin beziehen, dagegen hat die Dichterin Marie Luise Kaschnitz vorgeschlagen, es auf jene Furcht zu beziehen, die jedem Alter angemessen ist, die Furcht vor dem Zustand seelischer Verödung und Kälte, in dem die Dinge ihre Farben, ihren Duft und ihre Stimme verlieren. 57) Indische Geigen s. 59) "Alapana" 1:08 unter folgendes Gedicht 58) Gisela Claudius liest Hölderlin: Hälfte des Lebens59) "Vatapi ganapatim" Südindische Violinen ca. 3:30 Komponist: Muttuswami Dikshitar / Violin-Duo Lalgudi Krishnan & Vijayalakhshmi WDR 12.06.2005 Brotfabrik Bonn Blumen und Sonnenschein und Schatten der Erde, Lotosblumen im klaren Gewässer, aber auch Tanz, Anmut und Grazie, all dies finden wir in der südindischen Musik, auch wenn sie - wie hier - einem Gott mit Elefantenkopf gewidmet ist: Ganesha, "Vatapi ganapatim", Wohltäter der Menschen, hilfreich vor allem bei jedem Beginn, - einer Arbeit, eines Konzertes oder eines Neuen Jahres. Die Komposition stammt von einem Zeitgenossen Beethovens, von Muttusvami Dikshitar; und der Bruder dieses hochberühmten Komponisten war es, der die Violine, von den Engländern ins Land gebracht, als indisches Instrument akzeptierte, und seither gibt es eine ununterbrochene Tradition indischen Violinspiels.
a) Water Music Jaltarang A.S.Ganesan b) Imrat Khan (Deutsche Harmonia Mundi 1974) Ansage: "Vatapi ganapatim" c) Gesang + Geige (T.N.Krishnan WDR 1982) d) Gesang + Geige (Lalgudi Vijyalakshmi & Krishnan WDR 2005) Dies ist der Anfangsteil; die vollständige Komposition von Muttswami Dikshitar besteht aus 3 Teilen, der zweite widmet sich anderen melodischen Aspekten als der erste und der dritte schafft einen Ausgleich. Sie sehen: auch hier der Dreischritt! Es gibt jeweils einen kleinen Haltepunkt, aber zur Sicherheit werde ich den Beginn von Teil 2 und Teil 3 markieren, auch den Beginn der Improvisation nach rund 5 Minuten.
Komponist: Muttuswami Dikshitar Violin-Duo Lalgudi Krishnan & Vijayalakhshmi WDR 12.06.2005 Brotfabrik Bonn Das südindische Violin-Duo Lalgudi Krishnan und Vijayalakhsmi mit Ensemble, ein unvergesslicher Abend in der Bonner Brotfabrik beim Rheinischen Musikfest am 12. Juni 2005.
62) Gisela Claudius liest den Text des griechischen Liedes "Aerikós" Alle Vögel dieser Welt, wo auch immer sie herumflattern, 63) Lied "Aerikós" mit Melina Kana, live im Konzert 2:59
64) Peter Lieck (PL) und Gisela Claudius (GC) lesen im Wechsel: GC"Verteidigung des Federgeistchens" von Jürgen DahlPL " Aus ihrem Winterschlaf aufgestört, den sie unter trockenem Gebüsch gehalten hat, flattert die Motte hoch, taumelt umher, lässt sich gleich wieder nieder - und scheint im selben Augenblick verschwunden. Sie ist aber nicht verschwunden, sondern hat nur ihre im Flug schimmernden Flügel ganz schmal zusammengefaltet zu einem millimeterdünnen bräunlichen Strich.GC Federgeistchen deshalb, weil seine Hinterflügel tatsächlich fast wie Vogelfedern gebaut sind: Sie bestehen aus je drei schmalen Keulen, und diese sind von oben bis unten mit langen Haaren so besetzt wie der Schaft einer Vogelfeder mit Seitenästen. Man kann diese Hinterflügel nur ahnen, wenn man das Federgeistchen flattern sieht, denn sobald es sich niederlässt, verschwinden die Hinterflügel schier geisterhaft - nun nicht etwa, wie bei anderen Schmetterlingen unter den Vorderflügeln, sondern regelrecht darin. Das heißt: die (nicht mit Haaren besetzten, häutigen) Vorderflügel falten sich längs in der Mitte zusammen wie die Klappen einer Muschel und bergen in dieser schmalen Tasche die drei fedrigen Glieder der Hinterflügel.PL Die Erscheinung ist ganz und gar einmalig bei den Schmetterlingen, der sonderbare Mechanismus gehört allein dem Federgeistchen. Seine Raupen leben auf der Ackerwinde, einem lästigen Feld- und Gartenunkraut. Das ausgeschlüpfte Federgeistchen lebt von so gut wie nichts, überwintert im Verborgenen, legt im Frühsommer seine Eier an die Ackerwinde und stirbt dann. Die stoffliche und energetische Grundlage dieses Lebenszyklus wird fast ausschließlich von den Raupen besorgt.GC Im Sinne einer kybernetischen Ökologie erscheint das Federgeistchen ganz unerheblich, es schlägt nicht groß zu Buche, genau genommen überhaupt nicht: Natürlich können die Raupen des Federgeistchens von Vögeln gefressen werden - aber wenn es das Federgeistchen nicht gäbe, würden die Vögel keineswegs verhungern. Und die Ackerwinde, deren unterirdische Rhizome ihr das Überleben sichern, wird von den Raupen des Federgeistchens, die sich von ihr ernähren, nicht ernstlich in ihrer Ausbreitung gehemmt. Das heißt: Für die rechnerische Ökologie ist das Federgeistchen überflüssig bis dorthinaus.PL Das spricht aber nicht gegen das Federgeistchen, sondern gegen eine Ökologie, die, kaum dass sie von den vielfältigen Verkettungen des Lebens ein bisschen begriffen hat, gleich glaubt, sie könne es in ein großes Programm vom Wirken der Natur umsetzen. (...)GC Eben diese Qualität der Einmaligkeit entzieht sich einer ökologischen und systemtheoretischen Bewertung, die nur das Funktionieren streng definierter Teilkreisläufe im Auge hat, fixiert bleibt auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung, von Jäger und Beute. Da sie die Federgeistchen aller Art übersieht, wird auch diese ganze Ökologie schließlich nichts dagegen ausrichten, dass die Welt zum Warenhaus verkommt und, wie alle Warenhäuser, irgendwann einmal den Räumungs-Schlussverkauf annoncieren muss. " (S. 70) PL " Was die Schönheit angeht, so hat diese freilich, wenn man alle Bedürfnisse des Menschen in Betrachtung zieht, auch ihre 'ökologischen' Funktionen. Aber die sind schwer zu fassen, nicht zu messen, auch widersprüchlich. Die Schönheit einer Wüste, eines Berges oder eines Schmetterlings: wer wollte die Kausalketten beschreiben, die sich daran anknüpfen können - aber wer wollte leugnen, dass es solche Kausalketten gibt? " (S.71)Moderation JR Jürgen Dahl, "Verteidigung des Federgeistchens". Wir schließen uns an: die Schönheit der Musik, die nutzlosen Gedanken, die Kultur, die in die Luft (den blauen Himmel) gezeichneten Kausalketten, auch: die stille Wiederkehr des Bewährten, das ist es! 65) Lied "Aerikós" mit Melina Kana CD-Fassung Tr. 2 2:53 Thanasis Papakonstantinou / Ashkhabad Sängerin Melina Kana / Lyra CD 4919 Zum zweiten Mal hörten Sie die griechische Sängerin Melina Kana und das Ensemble Askhabad: sie sang das Lied "Aerikos", -Luftgeist, vorhin in der Live-Version aus einer Matinee der Liedersänger 2000 im WDR-Funkhaus und jetzt in der CD-Version. Und wir bleiben beim Déjá Vue.
Tr. 1 Anfang bis 0:57 Tr. 2 Anfang bis 0:56 (aus: Die späten Klaviersonaten mit Maurizio Pollini) 67) Bodo Primus liest Valéry (aus Paul Valéry: Eupalinos oder Der Architekt) Dieser Körper ist ein wunderbares Instrument, und ich überzeuge mich immer mehr, dass die Lebendigen, die ihn alle in ihrem Dienst haben, ihn nicht in seiner Fülle ausnutzen. Sie gewinnen ihm nur Vergnügen ab, Schmerzen und die unerlässlichen Anwendungen, wie eben um zu leben. Manchmal verwechseln sie sich mit ihm; gelegentlich vergessen sie einige Zeit seine Existenz; und bald zu stumpf, bald reine Geister, wissen sie gar nicht, welche allgemeinen Zusammenhänge sie enthalten und aus was für einem unerhörten Stoff sie gemacht sind.Moderation JR All dies sagt der Architekt Eupalinos, von dem Paul Valéry einen gewissen Phaidros erzählen lässt. Er sagt auch: dass er sich "durch vieles Bauen ... wohl selbst erbaut" habe. (S. 110) Und von den Bauwerken, die die Städte bevölkern, sagt er, dass die einen stumm sind, die anderen reden, und noch andere schließlich, und das sind die seltensten, singen. Und er erzählt von einem Bauwerk, das einem Mädchen gleicht: 68) Bodo Primus liest Valéry (Forts.) " Wenn ich mir etwas vorstelle, ist es schon immer, als führte ich etwas aus. (Also) das, was ich denke, lässt sich ausführen; und das, was ich ausführe, geht auf ein Einsehen zurück... Und dann...Moderation JR Und Paul Valéry ließ seinen Sokrates auf die Musik verweisen: Im Werk eines Menschen zu sein wie in einem Tempel; "eine Art vollkommener Großheit, in der wir leben..." Ja, sagt er, "ich will den Gesang der Säulen hören und mir im klaren Himmel das Denkmal einer Melodie vorstellen." 69) Peter Lieck " Kam es dir (inmitten des Publikums nicht auch schon] vor, als ob der ursprüngliche Raum ersetzt worden wäre durch einen geistig fassbaren und veränderlichen Raum; oder vielmehr als ob die Zeit selbst dich auf allen Seiten umgäbe?Moderation JR Brauchen wir noch mehr Stichworte, um das Thema, die Variationen und die abschließende Triller-Ekstase der Klavier Sonate op. 109 E-dur von Ludwig van Beethoven zu erleben? ... das Mädchen, der Tempel und die sich wandelnden Räume der Seele ... Maurizio Pollini spielt. 70) Beethoven: Klaviersonate E-dur op. 109 Dritter Satz Gesangvoll 12:30 Maurizio Pollini spielte den letzten Satz der Sonate op. 109, E-dur, von Ludwig van Beethoven. Meine Damen und Herren, es geht auf Mitternacht, ein Neues Jahr wird beginnen, vielleicht auch ein neues Leben, für mich jedenfalls, dies sind die letzten Minuten meiner beruflichen Arbeit im WDR, wenn um 12 Uhr die Glocken des Kölner Doms läuten, bin ich bereits "freier Mitarbeiter". Ich finde, das klingt besser als: "Pensionär".
Das Trinklied vom Jammer der Erde (Hans Bethge)Bodo Primus Schon winkt der Wein im goldnen Pokale.Peter Lieck Herr dieses Hauses!Gisela Claudius Das Firmament blaut ewig, und die ErdeBodo Primus Seht dort hinab!Jan Reichow Jetzt nehmt den Wein! Jetzt ist es Zeit, Genossen!72) Gustav Mahler Trinklied vom Jammer der Erde 8:25 aus: Das Lied von der Erde / James King / Dietrich Fischer-Dieskau / Wiener Philharmoniker / Leonard Bernstein Das Trinklied vom Jammer der Erde, der erste Satz aus Gustav Mahler Lied von der Erde. Gesungen von James King, gespielt von den Wiener Philharmonikern unter Leonard Bernstein.
73) Steinkauz, Zwergohreule kombiniert, später auch Waldkauz 1:20
Genau 0:00 Uhr letzte CD mit Glocken und Absage starten:
Punkt 0.00 Uhr nach dem ersten Glockenschlag des Doms die Ansage:
(Absage nach Philharmonie-Signal:)
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