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Musikpassagen 7. Februar 2007: Von der magischen Verknüpfung der Töne...

Musikpassagen
WDR 3 Mittwoch 07. Februar 2007 15:05 - 17:00
Mit Jan Reichow
"Und wie geht's weiter?"
Von der magischen Verknüpfung der Töne, Themen und Melodien
Eine Sendung mit Musikbeispielen von Heinrich Isaac bis Richard Wagner,
von Irland bis Indien
Redaktion: Bernd Hoffmannn

(Jingle)

Am Mikrofon begrüßt Sie Jan Reichow.
Sie wissen, was eine Melodie ist? Sie könnten vermutlich sogar eine singen. Aber was macht denn die Töne zu einer Melodie?
Es kann einem damit durchaus so ähnlich gehen, wie dem Heiligen Augustinuns mit dem Phänomen Zeit:
"Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemand auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht."
Also fangen wir doch einfach mal damit an, was es NICHT ist. Oder- was wir aus unsern Betrachtungen ausschließen wollen, - obwohl es als menschliche Expression sehr ernst zu nehmen ist.

Dramatischer Vortrag zum Beispiel, in dem es nur um expressive Übermittlung des Textes geht.
1) Japanischer Epengesang (Joruri) "Ehon Taikoki" 0:35
mit Takamoto Tsudayu, Rezitation & Shamisen-Laute / WDR-Aufnahme
Zu den merkwürdigsten Phänomenen der alten japanischen Kunstmusik gehört es, dass offenbar die Vorstellung einer "gefälligen Melodie" keine Rolle spielt. Mehr noch: "Im vokalen Bereich kann bloß von charakteristischen Melismen, schwerlich jedoch von bewusst durchkomponierten Melodien gesprochen werden." (Peter Ackermann in MGG "Japan")
Was wir hier ebenfalls nicht betrachten wollen, - natürlich ohne daraus ein Werturteil abzuleiten - sind ethnisch-rituelle Lieder wie das folgende; was da klingt wie fernes Möwen-Geschrei, gehört zwingend dazu: ein gezielt eingesetztes, exspiratives Atmungspfeifen.
2) Mot-Gesang aus Neuguinea 0:40
Musik aus dem Bergland West-Neuguineas Irian Jaya
Das große Tanzfest in Munggona (Eipomek), "Kaleluknye" und "limna"
Museum Collection Berlin CD 20 Editor; Artur Simon (1993)
Abteilung Musikethnologie Museum für Völkerkunde Staatl.Museen Berlin
Preußischer Kulturbesitz. Stauffenbergstr. 41 D-10785 Berlin
Wir tun einfach so, als wüssten wir längst, was eine Melodie ist, - ein mehrteiliges, gegliedertes, einprägsames und wiederholbares Tongebilde, und ignorieren, dass die Eipo aus dem Bergland von West-Neuguinea von ihren Tanzgesängen vielleicht das gleiche sagen könnten.
Vielleicht würden sie auch sagen: entscheidend ist, dass das Ritual gelingt, die Realisierung muss den Regeln entsprechen oder ähnliches.
Aber noch etwas ist entscheidend: das Bewusstsein, dass es sich um eine Melodie handelt, die etwas aussagt! Über den Text hinaus, über die begleitende Bewegung hinaus!
Die jedenfalls etwas aussagt, wenn sie entsprechend vorgetragen wird.
Ich spiele dagegen jetzt eine Tanzmelodie am Klavier, die nichts aussagen soll, sie soll sich einfach nur zum Tanzen eignen.
Man braucht im Grunde keine grazile Gestaltung, die gleichmäßige Betonung genügt.
3) Melodieschema "The Flower of Magherally" Presto quasi als Jig
eigene Aufnahme, E-Piano, J.R.
Würden Sie sagen: die Melodie muss ich mir merken, das ist ja eine wunderbare Linie? Niemals. Sie könnten auch andere Töne nehmen oder den bloßen Rythmus mit den Händen klatschen.
Aber was geschieht, wenn Sie die Melodie verlangsamen, den Tonverbindungen nachsinnen, Distanzen wahrnehmen, Wiederholungen, Varianten.
4) Melodieschema "The Flower of Magherally" allmählich verlangsamt
eigene Aufnahme, E-Piano, J.R.
Und nun stellen Sie sich vor, die Töne steigen wie eine ferne Erinnerung in Ihrem Geiste auf, eine menschliche Stimme, gesungene Worte, ein Frühsommertag, eine Liebe.
5) Deirdre Starr "The Flower of Magherally" Tr. 1 6:21
CD Quiet Land of Erin / Titel: The Flower of Magherally (trad. arrang. Jon Mark)
Interpreten: Deirdre Starr, Gesang; Jon Mark, Keyboards and Guitars
White Clouds Records WCL 11039
Natürlich: die Stimme ist es. Die Sängerin Deirdre Starr. Aber auch die Zeit: die 6 Minuten sind eine kleine Ewigkeit, nichts kann das paradiesische Wesen dieser Melodie aus dem Gleichgewicht bringen, nur eins: das latente Gefühl, dass sie unweigerlich zuende gehen wird.
Ohnehin klingt es wie eine Erinnerung, als ob die Schönheit, die da reflektiert wird, in der Tiefe der Vergangenheit liegt. Euridike, wie gelähmt im Reich der Schatten, erinnert sich des Frühlings dort oben, wo Orpheus einst für sie sang.
Lauter Assoziationen, die sich aus der Schönheit der Melodie und der Zartheit des Vortrags ergeben, im realen Text liegt durchaus Hoffnung auf künftiges Liebesglück, doch die Melodie sagt: auch das Zukünftige ist wie längst vergangen.
Aber: wir müssen darüber nicht [expressis verbis] philosophieren. Jede große Melodie ist auch eine Reflexion - ohne Worte.
Meine These ist die folgende: wenn Melodietöne eine Bedeutung annehmen, die zwingend über sie selbst hinausweist, so hängt das unmittelbar damit zusammen, dass sie in ihrer Verkettung ernst genommen werden und entsprechend "inszeniert" werden.

Ich möchte Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, also einladen, Melodien zu hören, und schämen Sie sich nicht, dort, wo eine Melodie innehält und einatmet, wie ein Kind zu fragen: "... und wie geht's weiter?" Denn genau diese Frage ist es, die über den Augenblick hinausführt und das Zukünftige mit dem Gegenwärtigen und dann vielleicht auch mit dem Verklungenen zusammenbindet.
Wie fügt sich das Ganze aneinander?

Sie werden sehen, dass es nicht so einen großen Unterschied macht, ob die Melodie von Harmonien gestützt ist, oder auf einen scheinbar statischen Untergrund bezogen ist. Ob sie aus Georgien, Schweden, Aserbaidschan oder Indien stammt, von Heinrich Isaac, Johann Sebastian Bach oder Ludwig van Beethoven es ist immer ein Ereignis, das Ton für Ton erfahren wird, Töne, die die miteinander korrespondieren und erst rückblickend ein Ganzes ergeben.
Dabei stellt sich heraus, dass das, was wir als das Melodische schlechthin erfahren, sich in einem eher ruhigen Tempo ereignet. Warum?
Weil nur so eine zwingende Verbindung zwischen den Tönen geschaffen wird, die wir als "magisch" erfahren; "...geschaffen wird" oder besser "nachgeschaffen" - noch besser: "vorgeschaffen" wird, - denn die Interpretation - die subjektive Erfassung und Darstellung des Zusammenhangs - ist oft entscheidend: wir verstehen die Melodie, weil sie dort bereits verstanden worden ist.
Die schnelle Melodie aber wird nicht so sehr von einer melodischen Kraft gelenkt, als vom metrischen Drive "in Form" gebracht und angetrieben.
Manchmal verträgt ein und dieselbe Melodie auch ganz verschiedene Tempi, - anders als wir es eben erlebt haben. Solistisch erscheint sie anders als wenn sie in einen polyphonen Chor verwoben ist. Zuweilen lebt sie von einer zeilenweisen Ordnung, selbst das Wort "Quadratur" würde ihrer Schönheit nichts anhaben, im andern Fall von einem Tempo- und Motiv-Kontrast, zuweilen von der unendlichen Fortspinnung, die keinesfalls "formlos" ist.
6) Monteverdi "Ave maris stella" 4:15
Claudio Monteverdi: Vespro Della Beata Vergine (Marienvesper, 1610)
daraus: "ave maris stella" (Ausschnitt)
Interpreten: Concerto Italiano / Rinaldo Aleddandrini
Naïve OP 30403
7) Beethoven: Adagio (Tr. 4) aus Serenade op. 8 4:54
Ludwig van Beethoven: Serenade D-dur op.8 für Violine, Viola, Violoncello
4.Satz Adagio - Scherzo Allegro molto
Interpreten: Gaede Trio (Daniel Gaede, Thomas Selditz, Andreas Greger)
TACET 97 (LC 07033)
8) Heinrich Isaac "Innsbruck, ich muss dich lassen" (instr.) 1:09
CD In Traurigkeit mein Lachen / Musik um Paul Gerhardt
Edition Chrismon (2006) Movimento
Interpreten: Matthias Müller, Frauke Hess & Júlia Vetö, Viola da Gamba
Christoph Lehmann, Orgel
9) Indien: "Raga Jogkauns" Alap mit Purbayan Chatterjee, Sitar 2:22
WDR Konzertmitschnitt Aufnahme 27.11.2006 Pantheon Bonn

"...ein Grundsatz der Berliner Liederschule besagte, eine Liedmelodie müsse für sich allein bestehen können, sie müsse sich so verständlich machen, daß die vom Komponisten hinzugefügte Begleitung lediglich das bestätige, was der Melodie allein schon zu entnehmen war."
(Abraham S.84)
Und Johann Georg Sulzer sagte 1771 über den Liedkomponisten:
"Er muß sich nicht darauf verlassen, daß die Harmonie dergleichen Fehler in der Melodie bedecke; denn das Lied muß auch ohne Baß vollkommen seyn; weil die meisten Lieder, als Selbstgespräche nur einstimmig gesungen werden. Man muß also ohne Schaden, den Baß davon weglassen können; darum muß schon in der bloßen Melodie ein vollkommener Zusammenhang der Töne, die zu einem Einschnitte gehören, und die ununterbrochene Verbindung der kleineren Einschnitte untereinander, merklich werden. Eben so müssen auch die verschiedenen Einschnitte und Abschnitte schon, ohne alle Hilfe der Harmonie, durch die Melodie allein ins Gehör fallen. Den Umfang der Stimme muß man für das Lied nicht zu groß nehmen, weil es für alle Kehlen leicht seyn soll."
(Abraham S.86)
So Johann Georg Sulzer in der zweiten Häfte des 18. Jahrhunderts.

Einerseits also "Selbstgespräche", andererseits "für alle Kehlen leicht". Wohl auch zur Weitergabe und zum Mitsingen geeignet.
Der gleichmäßig, in einfachen Tonwerten dahinschreitende Choral wurde erfunden, damit auch eine große Zahl von Menschen zu einer singenden Gemeinschaft werden kann, ohne dass vorn jemand den Takt schlägt.
Und doch ist es wohl immer die Korrespondenz zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, die im Hintergrund auch der subjektiver gefassten Melodie zu spüren ist. Gemeinsame Identifikation, Union der schweigenden Zuhörerschaft.
Und hören Sie, - wenn ein Pianist leise mitsingt, wie jetzt Evgeni Koroliov, - ich weiß es nicht genau, es macht es viel dezenter als einst Glenn Gould -, es liegt daran, dass die Melodie - er singt ja nicht das schöne Bassfundament - also: dass die Melodie kommunizierend wirkt, Übereinstimmung und gleiche Schwingungen schafft. Sogar mit sich selbst.

10) Schumann "Gesangvoll" as-c-h-Thema mit Koroliev 2:21
CD The Koroliev Series Vol.IX Robert Schumann
Titel: Bunte Blätter op. 99, daraus: Albumblätter Nr. 3 Ziemlich langsam, sehr gesangvoll
Interpret: Evgeni Koroliov, Piano
TACET 153 (LC 07033)
11) H. Isaac "Innsbruck" (instr.) P.Gerhardt (Tr. 22) 1:09
CD In Traurigkeit mein Lachen / Musik um Paul Gerhardt
Edition Chrismon (2006) Movimento
Interpreten: Matthias Müller, Frauke Hess & Júlia Vetö, Viola da Gamba
Christoph Lehmann, Orgel
12) Lechner "Ach Lieb, ich muss dich lassen" 2:46
CD Leonhard Lechner: Sprüche von Leben und Tod und andere neue teutsche Lieder
Tr. 18 Ach Lieb, ich muss dich lassen
Interpreten: Cantus Cölln / Konrad Junghänel
Deutsche Harmonia Mundi dhm RD77182 (LC0761)
13) J.S.Bach: Matthäus-Passion CD I 1:12
Tr. 16 "Und sie wurden sehr betrübt"
Tr. 17 "Herr, bin ich's?"
Tr. 18 "Ich bin's, ich sollte büßen"
Interpreten: Guy de Mey, Tenor, De Nederlandse Bachvereniging,
The Amsterdam Baroque Orchestra, Leitung: Ton Koopman
Erato Disques 2292-45814-2 (LC0200)
14) Georgien Hamlet Gonashvili "Orovela" 5:25
CD HAMLET Gonashvili (Gesang)
Titel: Orovela (Kartalino-Kahkhetian, work song) trad./ohne
JARO 4191-2 (LC8648)
15) Schweden: Lena Willemark (Tr.4) "Mannelig" 4:35
CD Nordan
Lena Willemark, Gesang; Ale Möller, folk-harp, Palle Danielsson, Double-Bass
Titel: Mannelig (Traditional, arr. Ale Möller)
ECM 1536 523 161-2 (Lc 2516)
16) Azerbaijan: Alim Qasimov Tr. 3 "Getme getme" bis 4:39
CD Azerbaijan: Alim Qasimov Ensemble "The legendary Art of Mugham"
Titel: Getme Getme (trad./ohne)
World Network 28.296 (LC 6759) Vertrieb Zweitausendeins
(über Instrumentalteil:)

"Und wie geht's weiter?" fragt das Kind, und der Geschichtenerzähler spinnt den Faden weiter, indem er seine Helden auf Wanderschaft schickt. Etwas Ähnliches gibt es auch in der Musik, aber es bedarf einer geradezu magischen Fernwirkung, wenn sich ihre Tonschritte - im Nachhinein - als ein sinnvolles Fortschreiten in der Zeit erweisen sollen.
Der musikalische Prozess ist zuweilen atemberaubend wie der Blick auf eine Gebirgslandschaft und hat mehr mit dem Verlauf des menschlichen Lebens zu tun, als man gemeinhin annimmt.

(Alim Qasimov wieder hoch)
Alim Qasimov, der große Sänger aus Aserbeidschan. mit seiner Tochter Ferganah.
Das wunderschöne Klavierstück von Robert Schumann, das vorhin zu hören war, beginnt mit den Tönen As-C - H, es sind die gleichen Buchstaben, die er in seiner Komposition "Carnaval" zum Tanzen bringt; das Stückchen könnte also ursprünglich für diesen Zyklus gedacht gewesen sein. Erst in der Zeit danach, 1837/1838, als die "Kinderszenen" und die "Kreisleriana" entstanden, hatte der junge Komponist den Eindruck, dass er sich von den Schwächen seiner frühen Zeit befreite.
Wir staunen: Schwächen??? In so erfindungsreichen Meisterwerken wie den Abegg-Variationen, den Papillons, dem Zyklus Carnaval?
Im Februar 1838 blickt er darauf zurück:
"[...] ich schreibe jetzt bei weitem leichter, klarer und, glaube auch, anmuthiger; sonst löthete ich Alles lothweise an einander und da ist vieles Wunderliche und wenig Schönes herausgekommen; indeß auch die Irrthümer des Künstlers gehören der Welt, wenn es gerade keine Häßlichkeiten sind. Seit 4 Wochen habe ich fast nichts als componirt, wie ich Dir schon schrieb; es strömte mir zu, ich sang dabei immer mit - und da ist's meistens gelungen. Mit den Formen spiel ich. Ueberhaupt ist es mir seit etwa anderthalb Jahren, als wäre ich im Besitz eines Geheimnißes; das klingt sonderbar."
In der Tat: er singt mit, und das Singen hilft ihm, zwei Jahre später - sein "Liederjahr" hat begonnen - schreibt er:
"Kaum kann ich Ihnen sagen, welcher Genuß es ist, für die Stimme zu schreiben im Verhältniß zur Instrumentalcomposition und wie das in mir wogt und tobt, wenn ich in der Arbeit sitze. Da sind mir ganz neue Dinge aufgegangen..." (19. Februar 1840 an Keferstein).
Früher hatte Schumann am Klavier komponiert, immer auf der Suche nach unverwechselbar individuellen Erfindungen, unerhörten Tonverbindungen. Selbst in den Abegg-Variationen, die immerhin einem Schema im weitesten Sinne (dem Thema) folgen, ist kein Takt voraussehbar. Der Nachteil dieser Erfindungsweise, einer Arbeit mit fertig ausgearbeiteten, unverwechselbaren kleinen "Modulen", liegt in der Notwendigkeit, die Einzelteile gewissermaßen von außen zusammenzufügen (",früher löthete ich Alles lothweise zusammen"), in Ermangelung eines übergreifenden Konzeptes, Modulationsplanes oder einer klaren Formidee.

Der Musikwissenschaftler Bernhard R. Appel bemerkt über Schumanns Schaffensweise:

"Das von handwerkstechnischen Fertigkeiten unbelastete, allein vom subjektiv-spontanen Ausdruckswillen gelenkte und für Authentizität bürgende Komponieren zwingt Schumann zur permanenten Reflexion. Im kritischen Dialog mit sich selbst, welcher ästhetische Ziele und deren kompositorische Einlösung gegeneinander abwägt, erfindet der Autodidakt kompositorische Arbeitstechniken gleichsam neu. Der Preis ist freilich hoch, er wird in Fragmenten gezahlt."
Man vergisst es leicht, wie schwer große Kunst zur Welt kommt, die uns wie vom Himmel gefallen dünkt.
Was für eine unerhörte Kunst der motivischen Verknüpfung und Erweiterung in einem - vielleicht aus anderen Gründen, aber jedenfalls mit Recht - so berühmten Stück wie der "Träumerei" aus den Kinderszenen von Robert Schumann liegt, das hat einst Alban Berg in einer Analyse gezeigt; sie war gegen Hans Pfitzners Ansicht gerichtet, der in der "Träumerei6quot; das Muster eines bloßen, großen, romantischen Einfalls sah.

Hier folgt also die "Träumerei", danach das Beispiel eines schönen, aber allzu kurz abgehandelten Einfalls aus Schweden.
Und schließlich eine der wunderbarsten Kurz-Motiv-Verschlingungen, Umringungen, Umhalsungen, die je eine Komposition ergeben haben. Und dann aber nur Einleitung sein wollten: "Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit". Jawohl, eine Zeit von 2:33, eine Kurzfassung der ewigen Seligkeit.

17) Schumann "Träumerei" (Tr. 24) 2:46
CD The Koroliov Series Vol.IX Robert Schumann
Titel: "Träumerei" aus den "Kinderszenen" op. 15
Interpret: Evgeni Koroliov, Piano
TACET 153 (LC 07033)
18) Schweden: Sofia Sandén "En älskig vän" 2:05
CD Sofia Sandén COURAGE
Titel: En älskelig vän (Visa efter Gustav Tillas Djura, Dalarna)
Interpreten: Sofia Sandén, Gesang; Pelle Lindström, Mundharmonika
Westpark Music 87124 (LC07535)
19) Bach: Einleitung Tr. 9 "Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit" 2:33
J.S.Bach: Kantate "Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit" (Actus tragicus) BWV 106
1. Satz: "Sonatina"
Interpreten: Cantus Cölln / Konrad Junghänel
Harmonia Mundi France HMC 901694 (LC7045)
20) Brahms: "Wann der silberne Mond" (Anfang) 0:25
Johannes Brahms: Die Mainacht ("Wann der silberne Mond") op. 43 Nr.2
Interpreten: Fritz Wunderlich, Tenor; Rolf Reinhardt, Klavier
Deutsche Grammophon 476 524-4 (LC0173)
Ja -, ... und wie geht's weiter?
Johannes Brahms über die Erfindung eines Liedes:
" Das, was man eigentlich Erfindung nennt, also ein wirklicher Gedanke, ist sozusagen höhere Eingebung, Inspiration, d.h. dafür kann ich nichts. Von dem Moment an kann ich dies 'Geschenk' gar nicht genug verachten, ich muß es durch unaufhörliche Arbeit zu meinem rechtmäßigen, wohlerworbenen Eigentum machen. Und das braucht nicht bald zu sein. Mit dem Gedanken ist's wie mit dem Samenkorn: er keimt unbewußt im Innern fort. Wenn ich so den Anfang eines Liedes er- oder gefunden habe, wie zum Beispiel "Wann der silberne Mond"
(er sang den ersten Halbvers der 'Mainacht'
[ d.h.: Musik nochmals einfügen!]),
dann klappe ich meinetwegen das Buch zu, gehe spazieren oder nehme irgend was anderes vor und denke mitunter ein halbes Jahr nicht dran. Es geht aber nichts verloren. Komme ich vielleicht nach langer Zeit wieder darauf, dann hat es unversehens schon Gestalt angenommen, ich kann nun anfangen, daran zu arbeiten. Es gibt aber Leute, die haben das aufgeschlagene Gedicht vor sich liegen und schreiben die Musik dazu von A bis Z herunter, bis das Lied fertig ist, schreiben sich dabei in enormen Enthusiasmus hinein, der sie in jedem Takte, den sie schreiben, etwas ganz Fertiges, Bedeutendes erblicken läßt ..."
Und weiter, an die Komposition eines Liedes von Henschel anknüpfend, die ihm dieser im Manuskript zur Kritik unterbreitete, führte er aus:
"Sie beruhigen sich zu schnell bei den Sachen, die Sie schreiben, statt immer daran zu denken, daß man an einem Stück, das man wirklich in sich fertig macht, mehr lernt, als wenn man zehn anfängt oder halbfertig macht. Liegen lassen und immer wieder daran arbeiten, bis es als Kunstwerk vollendet ist! Ob es auch schön ist dann, das ist eine andere Sache; aber es muß vollendet sein, daß man nichts daran aussetzen kann. Sehen Sie, ich bin faul; aber ich werde nie kalt bei einer Sache, bis sie ganz fertig und unantastbar ist."
(M. Kalbeck: Johannes Brahms)
21) Brahms: "Wann der silberne Mond" (vollständig) 3:39

Johannes Brahms: Die Mainacht ("Wann der silberne Mond") op. 43 Nr.2
Interpreten: Fritz Wunderlich, Tenor; Rolf Reinhardt, Klavier
Deutsche Grammophon 476 524-4 (LC0173)
Fritz Wunderlich in einer frühen Aufnahme mit Rolf Reinhardt am Klavier.
Und nun die Geschichte einer anderen melodischen Idee: in zwei Bachschen Violinsonaten, dann zu Beginn der Triosonate des "Musikalischen Opfers", als Klagegesang in der Matthäuspassion, und dann - romantisch verwandelt, geradezu seelenzehrend - in Robert Schumanns zweiter Sinfonie.
22) Bach Violinsonate c-moll (1.Satz)
J.S.Bach: Sonata IV (c-moll) BWV 1017
1.Satz: Siciliano
Monica Huggett, Violine; Ton Koopman, Cembalo
Philips 410 401 (LC00305)
23) Bach Violinsonate f-moll (Ausschnitt 1. Satz)
J.S.Bach: Sonata V (f-moll) BWV 1018
1. Satz: Largo
Monica Huggett, Violine; Ton Koopman, Cembalo
Philips 410 401 (LC00305)
24) Bach Triosonate "Musikalisches Opfer" (1. Satz)
CD J.S.Bach: Musikalisches Opfer BWV 1079 Sonata sopr'il soggetto reale, Trio, 1.Satz: Largo
Interpreten: Barthold Kuijken, Flöte; Sigiswald Kuijken, Violine; Wieland Kuijken, Viola da gamba; Robert Kohnen, Cembalo (Leitung Gustav Leonhardt)
Sony Classics SBK 63189 (LC6868)
25) Bach: "Erbarme dich" (CD II Tr. 15) 6:59
J.S.Bach: Matthäus-Passion, Aria "Erbarme dich, mein Gott"
Interpreten: Kai Wessel, Alto; Andrew Manze, Violine
The Amsterdam Baroque Orchestra, Leitung: Ton Koopman
Erato Disques 2292-45814-2 (LC0200)
26) Schumann: Langsamer Satz aus der Sinfonie C-dur 8:04
CD Robert Schumann: Symphony No.2 in C major, op. 61
3.Satz Adagio espressivo
London Philharmonic Orchestra / Kurt Masur
Warner Classics apex 0927-49814-2 (LC04281)
Viermal Bach und einmal Robert Schumann.
Nach einer solchen Emanation des Melodischen aus einer einzigen Zelle klingt es natürlich sehr nüchtern, was der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus über die Melodie schreibt:
"Eine Melodie muß, um als geschlossen, überschaubar und fest gefügt empfunden zu werden, nach den Begriffen des 19. Jahrhunderts, die immer noch die herrschenden sind, zwei Voraussetzungen erfüllen:
Die Zeilen, Phrasen oder Perioden sollen einerseits syntaktisch regelmäßig - oder mindestens auf das Schema "Quadratur" reduzierbar - sein und sich andererseits durch Wiederholung, Variation oder ergänzenden Kontrast aufeinander beziehen."
[Und jetzt wird's ganz schwierig:]
"Das formale und das substantielle Moment, die syntaktische Schematik und die Knüpfung melodischer Zusammenhänge , erscheinen geradezu, solange man auf den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts beharrt, als zwei komplementäre Seiten derselben Sache: der Melodie im emphatischen Sinne.
[Richard] Wagner aber entdeckte - und die Entdeckung bedeutet eine Zäsur in der Geschichte des Melodiebegriffs-, daß das formale und das substanzielle Moment keineswegs zusammenzutreffen brauchten, sondern eine Alternative darstellen können."
(Abraham/Dahlhaus S. 62)
Carl Dahlhaus in seiner Melodielehre,
aber nun zurück in die Praxis, - "Parsifal"!

Dass der eben verwendete Begriff der "Quadratur" selbst dort bei Wagner noch zutrifft, wo man es am wenigsten vermutet, lässt sich an der unendlichen Melodie des Parsifal-Vorspiels zeigen, die gar nicht so unendlich ist, sondern ganz klar in Zeilen gegliedert. Um das zu zeigen, haben wir hier die Einschübe entfernt, die Bläser-Fanfare, das liturgische Thema und das Leidensmotiv. Wobei man sagen könnte, dass Wagner selbst uns die letzte Zeile der Quadratur vorenthält: er lässt das Ende des Vorspiels auf einem Akkord stehen, dem Dominantseptakkord, der nach Fortsetzung verlangt! Und siehe da: der Vorhang öffnet sich.
27) Wagner Parsifal Kompilation (JR) 7:30
Richard Wagner: Parsifal Prelude Act I
Wiener Philharmoniker / Sir Georg Solti
DECCA 440606-2 (LC0171)
Kompilation:
1. Zeile Takt 1-19
2. Zeile Takt 20-38
3. Zeile Takt 80-98 Sprung ab 3.Viertel (b-moll)
auf Takt 104 3.Viertel (b-moll), dann weiter bis Takt 113
(ab Takt 106 bis 113 Orgelpunkt auf Es=Dominante, "Der
Vorhang öffnet sich.")
[Wo bleibt die Quadratur?]
Wie angekündigt: dies war nicht das Parsifal-Vorspiel in Urfassung, sondern eine um wesentliche Abschnitte von uns künstlich verkürzte Version, die erfahrbar machen sollte, wie auch diese große Melodie, deren Dehnung die Gesamtform unübersichtlicher werden lässt, einer alten choralhaften Gesetzmäßigkeit folgt.

Sind wir mit dem Parsifal nicht schon fast wieder in Indien? Nach Wagners Vorstellung vielleicht, nach indischer Vorstellung nicht unbedingt.
Neulich hörte ich in den Musikpassagen einen Abschnitt aus dem letzten Konzert des Sitarmeisters Vilayat Khan, im Abschiedsraga Bhairavi und dachte plötzlich: woher kenne ich die kleine Melodie, die er da in höchster Höhe intoniert, das ist doch ein Zitat...?

28) Vilayat Khan Tr. 5 Unaccompanied Bandish 9:17 bis 11:22
CD Al vida - farewell Ustad Vilayat Khan, Sitar
Shib Shankar Ray, Tabla
Raga Bhairavi
Navras NRCD 0188/9LC 12948
Haben Sie erkannt, von wo bis wo die Melodie ging, von der ich spreche? Ich löse sie heraus und füge die Stelle an, an die sie mich erinnerte: eine Aufnahme mit dem Geiger Pandit V.G. Jog Beim WDR Violinfestival am 24. März 1984. Die Zugabe mit der Melodie, wie er sagte, eines Folktunes.
Zuerst die eben verklungene Version, haarscharf isoliert, dann die des Geigers in ihrer melodischen Umgebung.
29) Vilayat Khan-Detail und V.G.Jog-Ausschnitt in Bhairavi

a) CD II Tr. 5 ab 9:36 bis 10:07 0:31
CD Al vida - farewell Ustad Vilayat Khan, Sitar
Shib Shankar Ray, Tabla
Raga Bhairavi
Navras NRCD 0188/9LC 12948

b) CD West-östliche Violine 1984 ab 2:04 bis 3:32 1:28
Pandit V.G.Jog, Violine
Raga Bhairavi
WDR Geigenfestival "West-östliche Violine" 24. März 1984
WDR-Aufnahme (Konzertmitschnitt)
Wenn Sie sagen: gut und schön, aber so ganz sicher bin ich mir der Begrenzung der kleinen Melodie nicht..., - das ist ja das Wunderbare an der indischen Musik: melodiös ist sie immer, aber hier und da bilden ihre flüssigen Melismen kristalline Formen, die unser Ohr mit ein bisschen Übung durchaus herauslösen kann. Sie haben dazu einen schönen Abend lang Gelegenheit!
(Musik beginnt)


Ich möchte Sie nämlich aufmerksam machen, auf die Wiedergabe eines Konzertes mit dem großartigen jungen Sitarspieler Purbayan Chatterjee. Sendetermin direkt nach Karneval, aber nicht als Buße gedacht: zumindest in diesem Raga ist die Verheißung aller Süßigkeiten des Lebens, - wie immer mit Melancholie vermischt.
Und das hat mit der Vergänglichkeit zu tun, vermischt mit der Hoffnung, dass die Erinnerungen doch Bestand haben, ähnlich, wie eine Melodie jederzeit in der Erinnerung wieder gegenwärtig ist.
Kein Zweifel, solche Melodien sind mit der Substanz unseres Lebens verbunden!
Raga Jogkauns.

30) Beginn des Teiles "Gat" in Raga Jogkauns 4:10
Interpreten: Purbayan Chatterjee, Sitar; Sandeep Banerjee, Tabla
WDR Konzertmitschnitt Aufnahme 27.11.2006 Pantheon Bonn
Der Sitarspieler Purbayan Chatterjee, auf den Tabla-Trommeln begleitet von Sandeep Banerjee, ein Konzert vom November 2006 im Pantheon Bonn. Sendung am 22. Februar ab 20:05 auf WDR 3.
Begleitend oder vorbereitend möchte ich rechtzeitig Raga-Analysen ins Netz stellen, die vielleicht beim Hören Orientierung geben. Näheres beim Hörertelefon, das auch Lob, Kritik und Anregungen zu dieser Sendung gern an uns weitergibt. Die Technik lag in den Händen von Tim Schmitz.

Eine Musikliste wird gerade von unserem Produktionsassistenten Volker Frech erstellt und ist demnächst auf der WDR3-Internetseite der Musikpassagen zu finden, der Text der Sendung auf meiner eigenen Internetseite.
Die Redaktion hatte Bernd Hoffmann.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, am Mikrofon verabschiedet sich Jan Reichow. Auch die Musik, die nun noch folgt, wird enden, aber am 22. Februar im WDR3-Konzert werden Sie sie in himmlischer Länge genießen können.
(Musik wieder hoch, mit langer Blende enden)

© 2007 Dr. Jan Reichow
Literatur

  • MGG Die Musik in Geschichte und Gegenwart
    • Sachteil Bd. 6 (1997)
      Artikel "Melodie"
    • Sachteil Bd. 4 (1996)
      Artikel "Japan"

  • Lars Ulrich Abraham und Carl Dahlhaus: Melodielehre
    Köln 1972

  • Bernhard R. Appel: Poesie und Handwerk: Robert Schumanns Schaffensweise,
    in: Ulrich Tadday (Hg.): Schumann Handbuch
    Stuttgart, Weimar 2006

  • Clemens Kühn: Formenlehre der Musik
    Kassel 1987

  • Diether de la Motte: Melodie / Ein Lese- und Arbeitsbuch
    München 1993

  • Max Kalbeck: Johannes Brahms
    zit.n. Deutsche Komponisten von Bach bis Wagner, Digitale Bibliothek Bd. 113 S. 11252/53 (vgl. Brahms-Kalbeck Bd. 2, S. 182-183)



© Dr. Jan Reichow 2007Im Netz ... Jan Reichow < Startseite < Texte < fürs Radio <
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