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- Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter!

Musikpassagen
WDR 3 Montag, 15. Januar 2007, 15:05 - 17:00
Mit Jan Reichow
Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter!

  • "Voi che sapete..."
    Von der Schönheit des Modulierens, - Mozart und kein Ende
  • "A charming lover: Raga Lalit..."
    Von der Schönheit des Verweilens, - Vilayat Khan und kein Ende
Redaktion: Bernd Hoffmann


(Jingle)

Am Mikrofon begrüßt Sie J.R., meine Damen und Herren:
Ihr, die Ihr wisst, was Liebe ist, seht doch, ob ich sie im Herzen habe. Was ich empfinde, werde ich erzählen. Es ist für mich neu, ich kann es nicht verstehen. (...) Ich suche ein Glück, das außerhalb meiner selbst ist. Ich weiß nicht, wer es hat, ich weiß nicht, was es ist.
Das sagt Cherubino, der Knabe, der seine Verwirrung mit einem unwiderstehlichen Charme einsetzt. Und die Melodie, die Mozart ihm in den Mund legt, gehört zum Schönsten, was je in Musik ersonnen wurde.
Das sagt sich so leicht daher, und gerade bei Mozart kann man's ja oft sagen, auch wenn man's nicht ganz ernst meint und dann doch lieber Brahms auflegt.
Nein, ich glaube, im Fall dieses kleinen Liedes gibt es keinen Dissens: Schöner geht es nicht. Vielleicht, weil es zugleich so einfach erscheint. 4 Takte, die sich öffnen, - 4 Takte, die mit Rufmotiven antworten und mit einer Art Reim schließen.

1) "Voi che sapete" Takt 1-8 Vorspiel Kirchschlager 0:17 W.A.Mozart, Le Nozze di Figaro
Zweiter Akt, Scena 2,
Nr. 12 Arietta Cherubino "Voi che sapete"
Angelika Kirchschlager, Mezzo-Sopran
Concerto Köln, Leitung René Jacobs
Harmonia Mundi HMC 901818.20 (LC7045)


Anm.: Notentext der Arietta "Voi che sapete"
bei der NEUEN MOZART-AUSGABE ONLINE / DIGITAL MOZART EDITION unter
http://dme.mozarteum.at/DME/nma/nma_cont.php?
vsep=305&gen=edition&p1=175&l=1


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Die Singstimme greift diese Vorgabe auf, fügt aber nach dem Wort AMOR vier Takte ein, "Voi che sapete, che cosa è amor", "Ihr, die ihr wisst, was das ist: Liebe", mit der aufsteigenden Chromatik, die dazu passt, und einem lustigen Motiv in den Holzbläsern, das vielleicht etwas ganz anderes bedeutet.
2) "Voi che sapete" Kirchschlager Takt 9 bis 20 0:27
In dem lustig herabhüpfenden Motiv von Flöte und Oboe ist das Kichern der beiden Frauen eingefangen, die dem Knaben zuhören.

Figuren aus Mozarts Oper "Die Hochzeit des Figaro".

(Man muss übrigens akzeptieren, dass Cherubino noch Sopran singt und von einer Sängerin dargestellt wird, nachher auch noch die kleine Absurdität, dass diese als Knabe verkleidete Frau zwischenzeitlich auch mal in eine Frau verkleidet wird, zugegeben: insgesamt ein leicht hermaphroditisches Phänomen!)
Nun gut, wenn er oder sie fortfährt, könnte man meinen, dass das Liedchen bald an sein Ende kommt: es geht in die Nachbartonart, tut von dort aus noch einen Seitenblick in die nächste Nachbartonart und zurück, - ein zärtliches Verlangen, das einmal Freude ist ( "diletto" ), ein andermal Leiden ( "martir" ).
3) "Voi che sapete" Kirchschlager Takt 21 bis 36 0:37
"Martir" - die harmonische Abdunklung vor diesem Wort öffnet den Weg zu neuen Ausblicken, ferne Tonarten tun sich auf, das Rufmotiv in unerwarteter Beleuchtung:
"Ich suche ein Glück, das außerhalb meiner selbst ist,
ich weiß nicht, wer es hat, ich weiß nicht, was es ist."
Das ist eine überirdische Wendung, nicht minder der folgende chromatische Aufstieg, der in Flöte und Oboe vorangetrieben wird, - wohin soll das führen? Zurück zum Thema! Zu der Frage: "Ist das Liebe, was ich im Herzen fühle?"
4) "Voi che sapete" Kirchschlager ab Takt 37 bis Ende 1:37
Meine Damen und Herren, ich finde, man muss es wagen, solch eine zu Herzen gehende Musik auch einmal Punkt für Punkt durchzugehen, um zu sehen, was da von Takt zu Takt mit uns geschieht. Wie fein Mozart mit Harmoniewechseln den Verlauf nuanciert, wie kunstvoll er diesen Eindruck von knabenhafter Naivität und sinnlicher Unrast aufbaut.

Es ist ein einzigartiges Wunder. Leider ist die vollkommene Umsetzung in gesungene Realität ziemlich selten. Schwer verständlich, weil meistens zuviel Energie, nicht etwa zu wenig, aufgewendet wird.

So schön Angelika Kirchschlager die Momente des Drängens und Sehnens gestaltet, so wenig gelingt es ihr, das Vibrato insgesamt zu zügeln: sie weiß zuviel. Das passt nicht zu Cherubinos liebenswerter Naivität.
Zudem bringt sie Verzierungen an, die ärgerlich sind, wenn man bedenkt, wie sorgfältig die einfache Linie abgetönt ist. Da gibt es ja keinerlei Formelwesen, keine ermüdenden Wiederholungen, die durch Ornamente aufbereitet werden müssten. Ganz unbegreiflich ist es, wenn eine wunderbare Sängerin wie Magdalena Kožena auf ihrer ebenso wunderbaren Mozart-CD ausgerechnet eine exzessiv ornamentierte Version dieser Arietta wählt, "mit so blumigen Verzierungen geschmückt", - so heißt es tatsächlich im Booklet! - "wie sie Mozart sicher nicht geschrieben hätte."
Ja, warum - um Gottes willen - müssen sie denn hier gesungen werden?
Vielleicht damit wir für die heutigen Musikpassagen einen Weg ins WDR-Archiv nicht scheuen, um auch noch eine unvergessliche Aufnahme der Vergangenheit bereitzulegen.
Hier aber zunächst Magdalena Kožena mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment unter Sir Simon Rattle.
5) "Voi che sapete" Magdalena Kožená 3:06
Magdalena Kožená: Mozart Arias
Orchestra of the Age of Enlightenment / Simon Rattle
Archiv Produktion 00289 477 6272 (LC0113)
Diese ornamentierte Version der Arietta hat ein gewisser Domenico Corri erdacht, der 1810 ein Gesangslehrbuch veröffentlicht hat, das u.a. "Anweisungen enthielt, wie die Sänger zwecks Steigerung ihrer Ausdruckskraft die Gesangslinie verzieren sollten."
Man hätte die verzierte Melodie an ihrem dunklen Fundort belassen sollen. Wer die Ausdruckskraft dieser Gesangslinie steigern will, hat wirklich von Mozart nichts begriffen.
Magdalena Kožená, deren untrüglicher Sinn für Expression und Geschmack in den anderen Stücken der Mozart-CD besticht und uns auch durch ihre Lamento-CD mit Musica Antiqua Köln in bester Erinnerung ist, - sie kann sich diese Version nicht ausgesucht haben. Schieben wir's also Sir Simon Rattle in die Schuhe. Oder seinen Beratern im Orchestra of the Age of Enlightenment.
Doch allem Vorbehalt zum Trotz ist deshalb noch lange nicht das Alte, Ungeschönte, Schlichte automatisch das Bessere - vergessen wir nicht, dass wir uns einen jüngeren und naiveren Cherubino wünschen, keinen durchtriebenen, aber auch keinen langweiligen. Wir kommen darauf zurück.

Niemand würde leugnen, dass Claudio Arrau zu den großen und ehrwürdigen Gestalten des Klavierspiels gehört. Aber was hat er sich wohl bei dem Andante in Mozarts "Sonata facile" gedacht?
Das zauberische Auf und Ab einer schier unendlichen Melodie so endlich, so demonstrativ-zögerlich, so ritardandofreudig abzuwickeln? Mit Pausen, in denen man meint, der Pianist wolle vorzeitig abbrechen. Oder irre ich mich, und es handelt sich um Altersweisheit? Es bleibt Ihnen überlassen. Aber - Sie müssen sich schon etwas Zeit nehmen...
6) Andante "Sonata facile" Claudio Arrau 8:15
Mozart: Die späten Klaviersonaten Nr. 14-18
Klaviersonate Nr. 16 C-dur KV 545 Zweiter Satz Andante
Claudio Arrau, Klavier (1987)
Philips Classics UNIVERSAL 476 8182 (LC00305)
7) "Voi che sapete" Frederica von Stade 3:54
Mozart: Le Nozze di Figaro Act II Canzona "Voi che sapete"
Frederica von Stade / London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti
DECCA 410 150-2 (LC0171)
So einfach kann es sein - Frederica von Stade war das, unvergessen als Cherubino in der alten Aufnahme des Figaro unter Georg Solti mit dem London Philharmonic Orchestra.
Davor hörten Sie den langsamen Satz aus der Sonata C-dur KV 545 von Wolfgang Amadeus Mozart, gespielt von Claudio Arrau. (Er war damals schon 84 Jahre alt.) Wir werden später noch eine Alternativaufnahme des Satzes hören.

"Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter, gebt volles Maß" - meine Damen und Herren, es ist ein großer Shakespeare-Satz, der über unseren heutigen Musikpassagen steht. In welchem Maße die Musik der Liebe Nahrung gibt, davon wusste Cherubino wahrlich ein Lied zu singen. Oder war es umgekehrt: die Liebe, die den Gang der Musik beflügelt? indem sie melodische Linien wie ruhelose Gedanken hierhin und dorthin lenkt, wiederkehren und aufbrechen lässt, steigen, sinken, schweben, Zeit erfüllend und verzehrend, unersättlich.
Man kann zahllose Metaphern ersinnen, um die Schönheit einer Melodie zu beschreiben, - aber glauben Sie mir: nichts ist schöner als ein Fachausdruck, der mit präzisem Sinn gefüllt ist, zumal wenn er auch noch so schön klingt wie das Wort MODULATION. Es handelt sich um den Übergang von einer Tonart zur anderen, - ganz einfach: die Grundtonebene wechselt. In der Mozart-Arie geschah das etwa alle 2 Zeilen und war von bezaubernder Wirkung; in dem Sonatensatz, der 8 Minuten dauert, braucht es 2 Minuten bis zum ersten Wechsel. Man fragt sich verwundert, wie es möglich ist, dass man auch davon bezaubert sein kann. Gewiss, man erwartet oder ahnt, dass die Modulation kommen wird, sie ist nicht nur hinausgeschoben, - wir haben Zeit, denn wir schweben. Davon später mehr!
Mozart bleibt uns, auch ohne Jubiläumsjahr, aber die indische Musik, ein riesiges Gebiet des Hörens und Lernens, ein Jungbrunnen der Musik,
(indische Musik beginnt!)
so etwas müssen wir uns immer aufs neue zugänglich machen, da es uns nicht wie Mozarts Musik in die Wiege gelegt wird: Wie richten uns also auf die Grundtonebene ein und beobachten, was in nächster Nähe geschieht. Als hinge unser Leben davon ab, dass dieser eine Raga, diese als gottähnlich empfundene melodische Kraft, Realität wird.
Sie haben den Grundtonklang schon im Hintergrund wahrgenommen, nicht wahr? Er sticht ja etwas hervor, und das ist gut so. Aber jetzt gilt es, mit ihm, neben ihm, die Töne wahrzunehmen, die durchaus nicht immer harmonisch wirken: sie bilden einen Kontrast zum Grundtonklang, eine eigenartige Spannung entsteht. Yehudi Menuhin hat einmal gesagt: "Wenn ich indische Musik höre, ist es, als ob ich Vitamine genommen habe!"

Meine Damen und Herren, es ist nicht ausgeschlossen, dass Sie heute in den Musikpassagen auf WDR 3 gesünder werden; manche Menschen werden diese Wirkung erst richtig wahrnehmen, wenn wir zu Mozart zurückkehren. Aber eins steht fest: dieser Künstler, der Sitarspieler Vilayat Khan, zur Zeit der Aufnahme fast 80 Jahre alt, gehörte zu den Jahrhundert-Genies unserer Zeit. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man sich an diese Aufnahme auch noch in 250 Jahren erinnert...

8) Raga Lalit Alap / Vilayat Khan ab 7:20 hoch bis 9:20 2:00
Raga Lalit / Live at LSO St.Luke's, London, 2nd November 2003
Al Wida - Farewell / Ustad Vilayat Khan, Sitar; im Gat: Shib Shankar Ray, Tabla
Navras NRCD 0188/9 (LC-12948)
Sie bemerken, in was für eine prekäre tonale Verfassung wir uns da hineinbegeben haben, - natürlich nur wahrnehmbar, wenn man neben der allmählichen Entfaltung der Melodie immer auch den Grundton im Sinn behält, selbst wenn er zuweilen wie ein Pfahl im Fleische wirkt. Ohne ihn würden die Melodietöne jeglicher Spannung entbehren; mit ihm, vor seinem Hintergrund, entsteht innerhalb der einfachen pentatonischen Motive die unbeschreibliche Schönheit des gespannten Verweilens, - ein Verharren in Wachsamkeit.
( Lalit hoch) 3:00
Es gibt Bilder, die die Stimmung dieses Ragas - verbal oder visuell - zu fassen suchen: Ein Liebhaber in der Nähe der schlafenden Geliebten, ein Augenblick des Verweilens auf der Schwelle, er besucht sie oder er verlässt sie, - ist es Abend oder Morgen? Man denkt vielleicht an Shakespeares Romeo auf Julias Balkon: "...mein Leben ist's, das meinen Namen ruft... - ...es war die Nachtigall und nicht die Lerche..."
Oder wie eine indische Schrift sagt: "Lalitas Stimme gleicht der des Kuckucks am Frühlingsmorgen. Sie sehnt sich nach Vereinigung mit dem Geliebten wie die Melodie nach den Tönen DHA, NI, SA, GHA und MA..." (W. Kaufmann S. 325)
(Lalit ab 21:55 hoch) 7:00
Raga Lalit mit Vilayat Khan. "A charming lover" - ein bezaubernder Liebhaber. Von der Schönheit des Verweilens erzählt die Einstimmung, der Alap, des Ragas Lalit.

Anm.: Notentext des 2.Satzes Andante aus KV 545
bei der NEUEN MOZART-AUSGABE ONLINE / DIGITAL MOZART EDITION unter
http://dme.mozarteum.at/DME/nma/scan.php?vsep=197&l=1&p1=126#126

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Zurück zu Mozart.
Der 2. Satz, das Andante der sogenannten "Sonata facile", Mozart selbst hatte "für Anfänger" drübergeschrieben, aber sie ist überhaupt nicht einfach, was man allerdings erst merkt, wenn man sie perfekt spielen will. Manuell, also für die Hände, mag das Andante zwar leicht sein, unendlich schwierig aber, wenn es unter den Fingern singen soll. Anmut und edle Einfalt!
(Sonate unterlegen, ab 0:36 folgender Text drüber)
Bemerken Sie, was in den ersten 2 ˝ Minuten geschieht? Trotz aller Bewegung - nichts als G-dur, G-dur, G-dur.
(Singen: G-dur-Figur in verschiedenen Varianten)
Natürlich fließen ein paar andere Akkorde ein, die üblicherweise den Grundakkord mit seiner Wiederkehr verknüpfen, - was in der indischen Musik der permanente Grundton ist, ist in der europäischen Klassik die Kadenz von Grundakkord zu Grundakkord -, aber nichts führt, wie sonst, hinaus aus diesem Kreis.
9) Andante "Sonata facile" Arrau (bis nach 1:14) 1:20
Mozart: Die späten Klaviersonaten Nr. 14-18
Klaviersonate Nr. 16 C-dur KV 545 Zweiter Satz Andante
Claudio Arrau, Klavier (1987)
Philips Classics UNIVERSAL 476 8182 (LC00305)
Hier also beginnt es von vorne.
Und wenn man zum zweiten Mal an dieser Stelle angelangt ist, wechselt die Ebene.
Von G-dur nach D-dur.
10) Andante "Sonata facile" Arrau ab Doppelstrich, D-dur ab 2:29 bis 3:05
Aber schon kehrt er wieder zum Thema zurück. G-dur, nach wie vor.
(Mozart Forts. G-dur bis max.3:40)
Erst nach dieser neuen Selbstfindung in der G-dur-Welt, kommt der Blick in Abgründe: g-moll und darüber hinaus: B-dur, c-moll, und wieder - nach fast dramatisch ausgreifenden Gesten - g-moll mit Übergang und Rückkehr zum G-dur-Teil.
(Mozart Forts. g-moll ab 4:54 bis 6:12)
Am Schluss wartet noch eine besonders innige - oder soll man sagen: wehmütige? - Coda, ein Traum geht zuende.
Das Andante aus Wolfgang Amadeus Mozarts "Sonata facile" KV 545, jetzt gespielt von Maria João Pires.
11) Mozart Andante "Sonata facile" M.J.Pires 6:03
Mozart: Die Klaviersonaten II
Sonate C-dur KV 545 Andante
Maria João Pires, Piano
Deutsche Grammophon 431760 (LC0173)
Maria João Pires spielte das Andante, den zweiten Satz, der Sonate C-dur KV 545, der "Sonata facile", von Wolfgang Amadeus Mozart.
Der Satz steht also nicht für sich, sondern zwischen zwei schnellen Sätzen. Direkt vorher und nachher gibt es kürzere oder längere, sagen wir: angemessene Pausen, in Konzerten wird auch gern zwischen den Sätzen gehustet, neinnein, jetzt keine Scherze, es ist eine ernste Sache.

Vielleicht fragt ja sowieso schon manch einer, der Sendungen wie diese nicht kennt: Wozu braucht man das eigentlich, - schöne Musik so "auseinander-zunehmen"? Warum kann man nicht einfach so zuhören?!
Ich würde sagen: weil nichts im Leben, was wichtig ist, "einfach so" geht.
Je müheloser jemand Klavier spielt, desto mehr hat er vorher geübt. Einzelne Sätze, einzelne Taktgruppen, einzelne Phrasen, linke Hand, rechte Hand.
Und wenn er wirklich gut ist, hat er noch mehr Zeit aufgewendet, um die Musik in der Tiefe zu begreifen. Harmonielehre, Kontrapunkt, Formenlehre, Artikulation, Ornamentik, das Gesamtwerk des Komponisten, Lektüre aller Art, Biographien, Monographien usw..
Und da meinen wir, die wir all dies vielleicht nicht getan haben, es genüge, große Musik, unglaubliche Jahrhundert-Erfindungen genialer Meister, "einfach so" zu hören? Nur, weil auch das schon ein gewisses Vergnügen bereitet?
Das ist ja der Fehler all der Klassik-Radios, dass sie "vergnügliche" Klassik am laufenden Band verbraten wollen, selbst Herzblut lassen sie mal eben vorüberfließen, nur nicht länger als 3 Minuten, - meine Damen und Herren, Klassik ist aber etwas, was einen sehr langen Atem verlangt, und den erwirbt man nur, in dem man sehr genau hinhört, sonst ist sie tatsächlich so langweilig, wie es die Klassik-Radios insgeheim befürchten.

Indische Klassik mische ich gern in solche Sendungen, obwohl das nicht ohne grobe Verkürzungen geht: aber in ihren Fragmenten strahlt sie bereits Wesentliches aus und macht vielleicht neugierig aufs Ganze, UND: sie öffnet die Ohren auch für die Details unserer eigenen Musik.
Ob Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, sich noch an die tonalen Verhältnisse des Ragas Lalit erinnern oder nicht, seine Atmosphäre wird sich nach Mozart sofort wieder einstellen, auch wenn das weite Spektrum der Töne sich jetzt zu einem Thema bündelt: zu einem Thema, das vielleicht nicht sofort als solches zu erfassen ist; zuhause, mit CD, würde ich das sogar mit Hilfe der Repeattaste üben, wie ein Musiker, der eine Melodie wiederholt, bis er sie versteht. Und dann nicht nur ihre Wiederkehr genießt, sondern auch ihre Abwandlungen. In diesem Fall hilft ein zweiter Musiker, der die Tabla-Trommel spielt: er liefert den Rahmen für das Thema, das sich vom Grundton aufschwingt und wieder zu ihm zurückkehrt, - das ist genau eine Periode, die von den Schlägen der Tabla strukturiert wird.
Ich markiere die Perioden mal eine Weile, indem ich an ihrem Beginn das Wort "Tala" sage. Wenn Sie eine solche Tala-Periode zählen gelernt haben, würden Sie von diesem Punkt an etwa im Sekundentempo von 1 bis 16 mitzählen.
Nach etwa 2 Minuten tritt der Tablaspieler für eine Weile in den Vordergrund, und er benutzt diese Gelegenheit, um rhythmisch ganz vertrackte Sachen zu platzieren. Falls Sie heimlich mitzählen: lassen Sie sich ruhig irritieren, das ist gesund, - achten Sie einfach weiterhin auf den Sitar-Spieler, der die Ruhe bewahrt.

12) Raga Lalit Vilambit Gat Anfang bis ca. 4:00
(Anfänge der Talazyklen markieren!)
Nach ungefähr 10 Minuten gibt es einen Übergang in ein neues, schnelleres Tempo, für das dann auch eine kürzere Fassung des Themas eingeführt wird. Hier genügt es, wenn Sie von 1 bis 8 statt ganz schnell von 1 bis 16 zählen. Ich markiere die Anfänge der Zyklen wieder durch das Wort "Tala".
Sie werden bald merken, dass nicht immer der Sitarspieler und der Trommler auf dieser Eins mit Betonung zusammentreffen, sie spielen ja auch miteinander wie mit Rhythmik und Metrik, und es ist jeweils ein kleines Fest, wenn sie auf der Eins, dem Tala-Beginn, genau zusammentreffen. Hier ist das Ende des ersten Teils, mit letzten Themen-Präsentationen, rhythmisch vertrackt, und vom Publikum mit Beifall quittiert, dann der Beginn des neuen Teils.
13) Raga Lalit Vilambit Gat Übergang in Drut Gat 5:00
(in Drut Gat Zyklusanfänge markieren!)
Es war das letzte Konzert, das der Sitarmeister Vilayat Khan außerhalb Indiens geben konnte, am 2. November 2003 in London, mit Shib Shankar Ray an den Tabla-Trommeln. Es war auch das letzte Konzert, das auf Tonträger aufgenommen wurde: Am 13. März 2004 ist er gestorben. Die Doppel-CD wurde unter dem Titel "Al wida - Farewell" von Navras Records veröffentlicht.. Die genaue Bezugsquelle, aber auch eine detaillierte formale Übersicht über den ganzen Verlauf der Raga-Interpretation, mit den 2 Themen als Notenbeispiel finden Sie demnächst auf meiner Web-Seite zur heutigen Sendung. [ pdf zum Raga Lalit ]. Zu erfragen beim Hörertelefon WDR 3.

Wir wenden uns wieder Mozart zu, einem seiner bekanntesten Sätze, dem langsamen Satz aus dem Klavierkonzert C-dur, KV 467. Außergewöhnlich schon durch seine fortwährende, pochende Triolenbegleitung; fast 7 Minuten lang, nur ein einziges Mal wird sie unterbrochen, ich möchte wetten: im Punkt des goldenen Schnitts, bei 4:35, mir fehlt zum Nachweis leider das mathematische Talent.


Anm.: Notentext des 2.Satzes Andante aus KV 467
bei der NEUEN MOZART-AUSGABE ONLINE / DIGITAL MOZART EDITION unter
http://dme.mozarteum.at/DME/nma/scan.php?vsep=155&l=1&p1=138#138

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Sie kennen wahrscheinlich das Thema; aber werden Sie jetzt gleich auch bemerken, was wir ihm angetan haben, - mit Hilfe der Schneidetechnik? Sie kennen ja diese Bilder auf den Rätselseiten der Illustrierten: "Original und Fälschung". Dagegen ist dies aber eigentlich ein ganz, ganz einfaches Beispiel, deshalb lassen wir auch das Original erstmal weg.
Falls Sie den Fehler bemerken, dürfen Sie mit besonderer Spannung beobachten, was Mozart selbst tut, wenn er sein Thema wenig später dem Klavier anvertraut.

14) Mozart Andante Klavierkonzert KV 467 Anfang ohne T. 12 bis 16 2:23
Mozart: Klavierkonzert No.21 C-dur KV 467
Murray Perahia, Piano, English Chamber Orchestra
SONY SX4K 46444 (LC6868)
Nun? Haben sie es bemerkt?
Ihre Lieblingsstelle fehlte.
Von manchen Kommentatoren wird sie als zweites Thema angesehen. Und die wunderschöne Phrase, die wir unangetastet gelassen haben, als dessen Abgesang.
Wir beginnen jetzt ein paar Takte vorher: das "Original"!
15) Mozart Andante / Perahia ab Takt 8 bis 22 1:00
So klingt es anders, nicht wahr? Aber wenn dieser Sehnsuchtsbestandteil so wichtig ist, - warum lässt Mozart ihn in der gleich danach folgenden Themenpräsentation des Klaviers weg?
Die Antwort ist einfach: es ist für eine alsbaldige Wiederholung zu auffällig und allzu zehrend; er macht eine kurze modulierende Überleitung, die nur irgendwie daran erinnert und - bringt ein anderes Thema, das, durch drei Dur und Molltonarten wandert. Dann erst folgt unser Sehnsuchtsthema, erstens in variierter Form und zweitens auf einer anderen Stufe als vorher im Orchester.
Diese Gewichtsverschiebung ist von außerordentlicher Bedeutung und findet sich im weiteren Verlauf immer wieder. Gerade vor dem Hintergrund der ständig durchgehenden Triolen entsteht so der Eindruck einer unendlichen Melodie, die hier und dort mit neuen thematischen Elementen gespeist wird, zugleich aber die alten schönen Teile in immer wieder anderer Form hervorleuchten lässt. Wir verlieren die Übersicht, wir schwimmen - allerdings in einer geheimnisvollen Ordnung. Und das Gefühl des Schwimmens, oder besser: des Schwebens, beruht auch auf der Tatsache, dass wir im Unklaren gehalten werden, in welcher Tonart wir eigentlich zu Hause sind. Ein Beispiel: genau an der vorhin erwähnten Stelle, an der die Triolenbewegung 3 Takte lang aussetzt, soll die Reprise folgen, in der Grundtonart, und das wäre ohne Probleme möglich, wie uns die Schneidetechnik beweist. Hören Sie nur:
16) Mozart Andante / Perahia ab Takt 66 bis 71 dann aber auf T. 23 springen! 0:50
(d.h. Reprise doch in F-dur statt - wie Mozart schreibt - in As-dur)
Meine Damen und Herren, hier ist zusammengewachsen, was nicht zusammen gehört. Mozart hatte eine ganz andere Idee: er kennt das Geheimnis der Schönheit des Modulierens. Hören Sie, was passiert, wenn die Triolenbewegung innehält und der Beginn der Reprise bereits in der Luft liegt...
17) Mozart Andante / Perahia ab Takt 66 bis ca. Takt 90 1:50
(Hineinsprechen:)

Statt in F-dur haben wir nun die Wiederkehr des Themas im entfernten As-dur. Was folgt daraus? Weitere Modulationen und schließlich die verspätete Heimkehr...

Da sind wir also... fast am Ziel. Aber diesmal hatte Mozart etwas anderes weggelassen und muss es nachholen. Es ist eine unglaubliche Ökonomie in dieser kleinen Unendlichkeit.
Hier ist der ganze Satz: das Andante aus dem C-dur-Klavierkonzert KV 467, es steht in F-dur. Murray Perahia spielt und leitet das English Chamber Orchestra.

18) Mozart / Perahia Andante aus KV 467 ganz 6:55
Mozart: Klavierkonzert No.21 C-dur KV 467
Murray Perahia, Piano, English Chamber Orchestra
SONY SX4K 46444 (LC6868)
Murray Perahia spielte mit dem English Chamber Orchestra das Andante aus dem Klavierkonzert KV 465 von Wolfgang Amadeus Mozart.
Meine Damen und Herren, ich vermute fast, dass Sie in 2006 ausreichend mit mundartlich gelesenen Mozart-Briefen versorgt wurden, und Sie vermuten - sicher mit Recht - dass gegen Ende unserer heutigen Sendung die indische Musik das Bild abrunden soll. Vilayat Khan, 1924 - 2004.
"Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter!"
Jawohl, man kann auch einen alten Mann lieben, der sich in so betörender Weise musikalisch auszudrücken versteht. Zum Abschluss dieser Sendung hören Sie den Raga Bhairavi, der oft am Ende eines Konzertes erscheint, ein leicht wehmütiger Blick zurück, und hier bei Vilayat Khan, am 2. November 2003 in London, ist es beinahe schon der Abschied vom Leben. Und so klingen auch seine einleitenden Worte, selbst wenn wir nur das Wort Bhairavi verstehen.
19) Vilayat Khan CD II Tr. 3 Introduction (gesprochen), Alap, Bandish in Bhairavi 8:20
Raga Bhairavi / Introduction, Alap, Unaccompanied Bandish
Live at LSO St.Luke's, London, 2nd November 2003
Al Wida - Farewell / Ustad Vilayat Khan
Navras NRCD 0188/9 (LC-12948)
Der Sitarmeister Vilayat Khan mit dem Abschiedsraga Bhairavi.
Ich verabschiede mich mit dem Hinweis auf unser WDR-Hörertelefon, dem Sie Wünsche, Anregungen, Lob und Tadel anvertrauen können, auch Fragen zu einzelnen CDs, die hier gespielt wurden. Unser Produktionsassistent Ralf Häger erstellt gerade eine Musikliste, die Sie später auf den Internetseiten der Musikpassagen in WDR 3 finden können. Auf meiner eigenen Webseite das [dieses] Manuskript und Näheres [ hier pdf ] zum Raga Lalit.
Die Technik dieser Sendung lag in den Händen von Tim Schmitz. Die Redaktion hatte Bernd Hoffmann.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen weiterhin einen schönen Tag mit WDR 3, Ihr Jan Reichow.



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