Sie befinden sich hier:
Jan Reichow > Startseite > Texte > fürs Radio > Musikpassagen 24.April 2002 - Lug und Trug

24.04.2002 - WDR 3 Musikpassagen 15.05 - 17.00 Uhr
Gespaltene Gefühle: Von Lug und Trug (und ewiger Liebe)
Lieder von Johannes Brahms und Hugo Wolf
Ausschnitte aus Così fan tutte von Wolfgang Amadeus Mozart
Aufnahmen des indischen Ragas Lalita mit dem Flötisten Hariprasad Chaurasia und dem Sänger Bhimsen Joshi
Skript der Sendung / Moderation: Jan Reichow


(Jingle)

Am Mikrofon begrüßt Sie Jan Reichow.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich gleich mit der Tür ins Haus fallen: das schönste, innigste und hintergründigste Drei-Minuten-Stück, das je geschrieben wurde, stammt von Mozart: ein Abschiedslied - man wird den Ruf "Addio" hören, zwei Frauen und zwei Männer verabschieden sich voneinander, ein dritter ist Zeuge, die Frauen weinen und stammeln: "Ich sterbe. Schwöre, mir jeden Tag zu schreiben!"

1) Così fan tutte / Jacobs CD I Tr. 11 Di scrivermi 2'57"
Das Traurige ist eigentlich nicht, dass diese Menschen, die sich lieben, Abschied voneinander nehmen müssen, - die Männer hier täuschen die Frauen, der Zeuge, der alles eingefädelt hat, meint: "ich platze gleich, wenn ich nicht lache", und die nichtsahnend betrogenen Frauen werden sich bald trösten lassen.

Wie ehrlich aber meint es die Musik in all ihrer Schönheit???

Wäre es nicht schöner, alles stimmte überein? Der Text, das Gefühl, der Mann, die Frau, die Situation, die Musik?

Es ist spät, das Dorf liegt im Dunkel und die Welt schweigt; der Bursche gibt der Geliebten das Geleit nach Haus und redet von seiner Liebe. "Solltest du meinetwegen Schwierigkeiten bekommen, dann ist es mir recht, wenn wir uns sofort trennen." So etwa spricht der Bursche. Aber nun das Mädchen --- wie das schon angekündigt wird: "Spricht das Mägdelein, Mägdelein spricht"! Josef Wenzig ist der Dichter, Johannes Brahms der Komponist. Ja, und was sagt sie nun? Marmor, Stein und Eisen...NEIN! das nun grade nicht! Aber es ist wie ein Traum, - vergessen wir nur nicht: geträumt von den Herren Wenzig und Brahms!
2) 5046 920 1 Tr. 14 "Von ewiger Liebe" Brigitte Fassbaender 4'25"

Brigitte Fassbaender sang, am Klavier Irwin Gage.

Was für ein Aufschwung! Kann man sich ewig, ewig auf dieser Höhe halten? Der junge Mann, so kleingläubig kann er nicht gewesen sein, wie er vorgab; er hat nur dies hören wollen! "Unsere Liebe muss ewig bestehn!"
Dann ist das Lied zuende. Und der Bursche geht überglücklich ins Dorf zurück. Oder? Was meinen Sie? Kommt ihm nicht irgendwann der Gedanke: Sie hat "muss" gesagt, sie wünscht es sich und zwar mit aller Energie, - aber warum hat sie nicht "wird" gesagt? "Unsere Liebe wird ewig, ewig bestehn!" Sie ist sich also nicht ganz sicher? Eines Tages könnte sie sagen: ich habe es gewollt, habe es gehofft, aber das Leben hat es nicht zugelassen. Ich kannte dich ja kaum, - usw., was dann eben alles so gesagt wird.
Nein, das wollen wir nicht weiterspinnen. Gönnen wir uns diesen schönen Traum noch einmal. Aus paritätischen Gründen singt jetzt ein Mann.
3) Brahms op.43 Nr.1 (1864) "Von ewiger Liebe" Dietrich Fischer-Dieskau 4'39"
Dunkel, wie dunkel in Wald und in Feld!
Abend schon ist es, nun schweiget die Welt.
Nirgend noch Licht und nirgend noch Rauch,
Ja, und die Lerche, sie schweiget nun auch.

Kommt aus dem Dorfe der Bursche heraus,
Gibt das Geleit der Geliebten nach Haus,
Führt sie am Weidengebüsche vorbei,
Redet so viel und so mancherlei:

"Leidest du Schmach und betrübest du dich,
Leidest du Schmach von andern um mich,
Werde die Liebe getrennt so geschwind,
Schnell wie wir früher vereiniget sind."

Spricht das Mägdelein, Mägdelein spricht:
"Unsere Liebe, sie trennet sich nicht!
Fest ist der Stahl und das Eisen gar sehr,
Unsrer Liebe ist fester noch mehr.

Eisen und Stahl, man schmiedet sie um,
Unsere Liebe, wer wandelt sie um?
Eisen und Stahl, sie können zergehn,
Unsere Liebe muß ewig bestehn!"


Dietrich Fischer-Dieskau wurde von Daniel Barenboim am Klavier begleitet.
Es gibt auch ganz andere Darstellungen ... "ewiger" Liebe, z.B. in Mittelitalien, wo uns erzählt wird:
Ich hab in Penna einen Liebsten wohnen,
In der Maremmenebne einen andern,
Einen im schönen Hafen von Ancona,
Zum vierten muß ich nach Viterbo wandern;
Ein andrer wohnt in Casentino dort,
Der nächste lebt mit mir am selben Ort,
Und wieder einen hab ich in Magione,
Vier in La Fratta, zehn in Castiglione.

Meine Herren, das reicht doch, um den Stab zu brechen, - und wenn es sich wirklich um einen Volksliedtext handelt, ist er noch längst nicht sakrosankt.
Zwiespältig wird es nur, wenn diese Frau sympathisch wirkt, und nicht nur für die Minute, die das Lied dauert.
4)Hugo Wolf: Italienisches Liederbuch Tr. 46 Ich hab in Penna einen Liebsten wohnen 0'54"

Barbara Bonney mit Geoffrey Parsons am Klavier.

Wir Männer sind ernster von Natur und bedenken schon mal, was uns mit der Konzentration auf die Eine und Einzige alles entgeht.

5) Wolf: Italienisches Liederbuch Tr. 37 Wie viele Zeit verlor ich, dich zu lieben 1'36"
Wie viele Zeit verlor ich, dich zu lieben!
Hätt ich doch Gott geliebt in all der Zeit.
Ein Platz im Paradies wäre mir verschrieben,
Ein Heilger säße dann an meiner Seit.
Und weil ich dich geliebt, schön frisch Gesicht,
Verscherzt ich mir des Paradieses Licht,
Und weil ich dich geliebt, schön Veigelein,
Komm ich nun nicht ins Paradies hinein.

Bedenkenswertes aus Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch vorher mit Barbara Bonney, jetzt mit Håkan Hagegård; Geoffrey Parsons spielte Klavier.

Der Mann hat natürlich den Platz neben den Heiligen im Paradies nie ernstlich in Betracht gezogen. Andere Lieder von Hugo Wolf zeigen aber, dass der Gedanke gar nicht so fern lag, insbesondere wenn die Verse nicht aus Italien, sondern von dem schwäbischen Pfarrer Eduard Mörike stammten:

Eine Liebe kenn ich, die ist treu,
War getreu, solang ich sie gefunden,
Hat mit tiefem Seufzem immer neu,
Stets versöhnlich, sich mit mir verbunden.

Das zielt auf Jesus und das Kreuz; nach dem Aufschrei: "Was rettet mich vor Tod und Sünde?" folgt die Selbstbezichtigung:
Armes Herze! ja gesteh es nur,
Du hast wieder böse Lust empfangen;
Frommer Liebe, frommer Treue Spur,
Ach, das ist auf lange nun vergangen.

Man könnte fragen, was hat denn die eine Liebe mit der anderen - hier als "böse Lust" bezeichnet - zu schaffen? Muß das so sein, dass man daraus ein Entweder-Oder macht? Gibt es nicht in Indien die berühmten Tempel, die mit Hunderten von Skulpturen zeigen, dass beides als Eines gesehen werden kann? "Ich bin die Lust, die alles erschaffen hat," sagt der Gott Krishna, dessen Instrument die Flöte ist.

Aber ganz so einfach kann man es sich mit Indien auch wieder nicht machen. Von dem frommen und meditativen Raga Lalit heißt es in einer Fussnote, er gleiche einem bezaubernden jungen Mann, der seine Frau betrügt. Nach der Liebesnacht mit seiner Geliebten kehrt er im Morgengrauen nach Haus zurück.
Wer wagt es, Lug und Trug in der Struktur des Ragas Lalit wahrzunehmen? Ist er nicht betörend schön?

6) Hariprasad Chaurasia CD I Tr. 2 "Raga Lalit" Anfang bis 4'27"

Natürlich enthält ein solcher Raga keine Story, und wenn man im Fall des Ragas Lalit eine problematische Dreiecksgeschichte suggeriert, so liegt das daran, dass man bildliche Darstellungen gesehen hat, die von den Gefühlen dieses Ragas inspiriert sind: denn die expressive melodische Entfaltung seines klar definierten Tonvorrats kann und soll Gefühle auslösen, und offenbar nicht nur harmonische, meditative, sondern auch zwiespältige. Natürlich, - der ewige Grundton im Hintergrund scheint Ruhe und Frieden zu verströmen, aber in dem Moment, wo man spürt, dass die Melodie den Grundton überspringt und auf dissonanten Intervallen verweilt, fragt sich der aufmerksame Hörer: "Was geht hier vor? Welche Töne werden statt des Grundtons favorisiert, woher kommt dieses merkwürdige tonale Schwindelgefühl?"

Darüber später mehr. Die indische Musik setzt darauf, dass die Hörer tonale Spannungen sehr präzise wahrnehmen. Ähnliches wird in unserer Musik auch von uns erwartet, aber da sie uns völlig vertraut erscheint, spürt man diesen Anspruch nicht so. Manchmal spürt man wohl auch aus lauter Gewohnheit rein gar nichts. Was sagen Sie etwa zu dem folgenden Anfang einer Szene aus Mozarts "Così fan tutte"? Ist das ein Geniestreich?

7) Mozart "Così fan tutte" CD 1 Tr. 8 Quintett "Sento, o Dio" Anfg. bis 0'38"

Ist das nicht eine müde Geschichte!? Da geht aber auch nichts von der Stelle, ein melodisch ärmliches Es-dur, in 14 Takten nur zwei Akkordwechsel, - ein Hauch von Banalität verbreitet sich. Und das ist Mozart? In der Tat, das könnte von jedem anderen sein! Selbstverständlich hat dies aber etwas zu bedeuten: den beiden Männern ist nicht wohl in ihrer Haut, sie wollen die Frauen belügen: "O Gott, ich fühle, wie mein Fuß sich sträubt, zu ihr zu gehen," sagt der eine, und "Vor Zittern bringt mein Mund kein Wort heraus", sagt der andere, und entsprechend phantasievoll klingt ihre Musik.

Die Frauen dagegen sind bereits alarmiert, sie glauben, dass die Männer in den Krieg ziehen müssen, und sind verzweifelt: "Jetzt, da wir die Nachricht erfahren haben, bleibt euch nur noch eins: habt Mut und stoßt uns beiden das Schwert in die Brust."

In dem Moment, wo die Frauen einsetzen, weiß man: ja, das ist Mozart, der Hauch des Banalen ist fortgeweht.
8) Mozart "Così fan tutte" CD 1 Tr. 8 Quintett "Sento, o Dio" Anfg. bis 1'24"

Ein neuer Versuch der beiden Herren, glaubwürdig zu erscheinen, einträchtig in Terzen, aber die Frauen lassen ihnen nicht die Zeit und noch ein anderes Element: Don Alfonso, der das ganze Spiel einfädelt: er tuschelt mit den Herren, konzentriert sich dabei auf den Ton, den die beiden anderen vorgeben, - aber achten Sie mal auf den Bass im Orchester, auf einen Akkord!
9) "Così fan tutte" CD 1 Tr. 8 Quintett "Sento, o Dio" ab 1'38" bis 1'50"

Dieser eine, im Moment scheinbar falsche Akkord im Orchester, so etwas muss einem erstmal einfallen: das ist Esprit! Und nun wieder die Frauen mit ihrem Unruhegeist, wir haben noch nicht alle Elemente dieses Quintetts aufgezählt, - aber wie das ineinandergeht, sozusagen abhebt von der Erdenschwere des Anfangs, diese Balance zwischen den verschiedenen Anteilen, und darin eingeflochten dieses mühelose Spiel falscher und echter Emotionen, das ist ein Mozartsches Kabinettstück.
10) Mozart "Così fan tutte" CD 1 Tr. 8 Quintett "Sento, o Dio" 4'15"

Véronique Gens, Bernarda Fink, Werner Güra, Marcel Boone, Pietro Spagnoli und Concerto Köln unter der Leitung von René Jacobs.

Um noch einmal auf indische Musik zurückzukommen: was sie nicht kennt, ist dieser schnelle Wechsel auf engem Raum, dieser Balanceakt der Emotionen im Mikrobereich von 4 Minuten.
Obwohl die indische Musik unerhört viel mit Balance zu tun hat, mit der Ausbalancierung von Kräften: z.B. der Fliehkräfte des Melodischen gegenüber der Magnetkraft des Grundtones. Haben Sie es nicht eben bei Mozart erlebt, wie diese Kraft des Grundtones geradezu lähmend auf das Melodische wirken kann? In diesem Fall natürlich listig inszeniert, um das noch halbherzig eingefädelte Täuschungsmanöver der beiden Herren zu kennzeichnen.

Die indische Musik bezieht ihre Kraft aus der hörbaren Gegenwart des Grundtones, aber in diesem Raga Lalit scheint es das Bestreben der Melodie, dem Grundton - vor allem dem in der Tiefe - auszuweichen, eine andere Tonalität neben ihm aufleuchten zu lassen.
(Musik beginnt, dazu auch singen?)
Da ist der Grundton in der Tambura-Laute, - aber schon in merkwürdiger Begleitung, nehmen wir ihn als C, so klingt doch unterhalb ein AS und ein F an, Töne, die ihn latent entmachten und dann auch in der Melodie eine Rolle spielen werden:
11) Hariprasad Chaurasia CD I Tr. 2 "Raga Lalit" Anfang bis 0'55"

Da ist das F ins melodische Licht getreten, in merkwürdigster Umgebung, meine Damen und Herren, wenn Sie Symbole lieben - nehmen Sie diesen Ton als die Geliebte, den Grundton als die Ehefrau; vielleicht ist Ihnen auch das Verhältnis der Töne an sich sympathischer, die Balance zwischen verschiedenen Kräften. Später erscheint ja daneben noch eine andere Balance, die übliche: zwischen Melodie und Rhythmus, Raga und Tala. Und in der Melodie, im Raga Lalit, werden wir bei Rhythmuseinsatz ein klares Thema bekommen, das nunmehr regelmäßig aus dem Fluss der Improvisationen auftaucht.
12) Hariprasad Chaurasia CD I Tr. 2 "Raga Lalit" ab 3'27" bis 7'30"

Ich hoffe, Sie haben Lust auf mehr??? Raga Lalit kommt wieder!

Aber vergessen wir Mozart nicht.

Da gibt es die labile Balance zwischen den beiden Paaren, - die beiden Männer sollen die Treue ihrer Partnerinnen auf die Probe stellen und fingieren einen Abschied, - sie sollen in Verkleidung und mit vertauschten Rollen zurückkehren (die Frauen merken es nicht, - das ist ein in der Zeit anerkannter und beliebter Gag, den müssen wir heute einfach als glaubwürdig hinnehmen; wir akzeptieren ja auch die Bühne als sekundäre Realität, kritisieren ebensowenig, dass die Personen singen statt reden). Und dann gibt es - abgesehen von den beiden Paaren - eine Balance zwischen ihren Gegenspielern, da ist die Zofe der verliebten Schwestern, Despina, und - mit ihr verbündet - der ältere Freund der beiden Herren, Don Alfonso, der das Liebes-Experiment provoziert hat: er will den experimentellen Beweis dafür erbringen, dass es keine Treue gibt. Und die beiden verpflichten sich mitzumachen, in der optimistischen Annahme, dass das Experiment an ihren Frauen scheitert.
Kaum sind sie abgereist, versucht Despina, ihre Herrin, die dem Liebsten nachtrauert, auf andere Gedanken zu bringen: "Denken Sie doch lieber daran sich zu amüsieren. Verlieben Sie sich neu, genau wie es eure Verlobten im Felde tun." Und schon kommt eine fröhliche Tirade gegen die Männer: "An uns lieben sie doch nur ihr eigenes Vergnügen. Zahlen wir es dieser bösartigen Bande mit gleicher Münze zurück!"
13) Mozart "Così fan tutte" CD 1 Tr. 17 "In uomini" 2'29"

Despina, gesungen von Graciela Odone. Und nun Don Alfonso, gesungen von Pietri Spagnoli, er kommt erst gegen Ende des Dramas zu seinem Fazit, das er für versöhnlich hält und auf das er auch die beiden Männer einschwört, die sich gegenseitig von der Untreue ihrer Frauen überzeugen mussten. "Die einen nennen es ein Laster, andere eine Gewohnheit, mir aber erscheint es als eine Notwendigkeit des Herzens: "Così fan tutte". "So machen es alle."
14)Mozart "Così fan tutte" CD 3 Tr. 10 "Tutti accusan" ca. 1'04"

Nach dem Motto "Così fan tutte" legt der Pianoforte-Spieler sofort los wie die Streicher in der Ouvertüre. Und die sollten wir einmal hören, meine Damen und Herren, ob wir "die Moral von der Geschicht'" akzeptieren oder nicht, ihre gültige Formel erklingt ziemlich zu Anfang, und Concerto Köln spielt, als ob es ein reines Vergnügen ist, - zum Glück. Die Leitung hat René Jacobs.
15) Mozart "Così fan tutte" CD 1 Tr. 1 "Ouverture" 4'00

Ist das nicht durch und durch fröhlich? Wo liegt das Problem?
Es liegt nicht nur darin, dass mit der gleichen Fröhlichkeit schließlich die Liebe ad absurdum geführt ist, sondern auch darin, dass die großen, echten Gefühle, während sie uns überwältigen, zugleich für austauschbar erklärt werden wie die Menschen, es ist nur eine Frage der Zeit. Und ein Zyniker wie Don Alfonso steht als der coole Durchblicker da, der mit schönen Worten die Notwendigkeit des Herzens verteidigt - "necessita del core" - , aber jeder weiß, "Herz" ist nur ein schönes Wort für "Sex", es geht nicht nur um zarte Schwärmerei: beide Frauen lassen sich von den vermeintlich Fremden "rumkriegen", die eine leicht, die andere mit mehr Gefühlsaufwand; die "Fremden", das sind ihre als Albaner verkleideten Verlobten, die sich jeweils auf die Frau des anderen konzentrieren. Dass die nichts merken, gehört, wie gesagt, zum Spiel, zum Experiment. Aber die Tatsache, dass die Männer, ohne es zu wollen an diesem Treuetest Gefallen finden, - um genau zu sein: an der Frau des anderen -, das gehört vielleicht schon nicht mehr zum Spiel, sondern zum Ernst des Lebens.

Denn ihre Begeisterung ist offenbar nicht gespielt, keine Parodie. Oder? Dürfte eine Parodie so ergreifend echt klingen?

16) Mozart "Così..." CD 1 Tr. 20 "...due delinquenti, ecco Madame!" ab 0'58" bis 2'02"

Wolfgang Hildesheimer stellt mit Recht fest, dass die beiden verkleideten Offiziere schon hier, bei der ersten Begegnung, "ihrer subjektiv verlogenen Hingerissenheit objektiv hinreißenden Ausdruck" geben, eine
"überlegene Parodie, Parodie als Disziplin, die ihren Gegenstand in einer einzigartigen Schönheit, einer Herrlichkeit sui generis, widerspiegelt, wie sie sich niemand anderem jemals eingegeben hat, selbst Mozart nicht, weder zuvor noch danach. Wir stellen fest: Moral ist nicht die Quelle der Musik."
Sagt Wolfgang Hildesheimer.

Gespaltene Gefühle - auf der Bühne und sicher auch in unserem Herzen: soll es sich also hinreißen lassen auf der Basis der Selbsttäuschung?

Indien ist souverän im Umgang mit Illusionen aller Art: ein solcher menschlicher Zwiespalt wurde dort sozusagen direkt ins musikalische Material eingelagert, aus dem es der weise alte Sänger zu entbinden vermag, rauer und spröder als der sanfte Flötist, aber um so intensiver in der Vermittlung: hier verwandelt sich disparates Gefühl in reine Schönheit.
17) Sri Bhimsen Joshi CD 1 Tr. 1 Raga Lalit ab Anfang bis 5'43"

Die Originalaufnahme dauert 45 Minuten, deshalb haben wir hier einen kleinen Trick angewendet und die letzte Phrase verdreifacht; das entsprach also nicht dem Original und hatte nur den Sinn, uns die eigenartige Tonalität des Ragas abschließend einzuprägen. Bhimsen Joshi, einer der größten Sänger Indiens, sang die erste Phase des Ragas Lalit, den wir vorhin schon mit dem Flötisten Hariprasad Chaurasia gehört haben.

Wenn der Raga Lalit tatsächlich etwas von der Spannung problematischer Beziehungen enthält, - ein bezaubernder junger Mann kehrt nach einer Liebesnacht mit der Geliebten im Morgengrauen zu seiner Frau nach Haus zurück -, so ist es nicht abwegig, ein uraltes indisches Märchen in Erinnerung zu rufen oder vielmehr daran, wie Thomas Mann es 1945 ausschmückte zu seiner großen Erzählung "Die vertauschten Köpfe".

Bei Thomas Mann werden die beiden Gefährten, um die es geht, zu Sinnbildern des Geistes und des Leibes, die sich gerade auf grund ihrer Unterschiede besonders schätzen: der Geistesmensch bewundert den muskulösen Freund und umgekehrt. Wie aber ergeht es der schönen Sita, die zur Gemahlin des Geistesmenschen wurde? Ihr Blick verweilt für Augenblicke durchaus auf den breiten Schultern des anderen.
"Ich sah ihn nicht nur, ich betrachtete ihn, wie die heilige Ehe mich Männer zu betrachten und zu prüfen gelehrt hatte, und die Frage schlich sich in meine Gedanken und Träume, wie wohl er die Liebesvereinigung zu gestalten wissen würde und wie mit ihm, der bei weitem so richtig nicht spricht wie Schridaman, die göttliche Begegnung sich abspielen würde, statt mit diesem." (S. 604)

Das ist Thomas Manns hindisierter Erzählton!
Eines Tages geschieht das Entsetzliche: der kluge Schridaman gerät im Felsentempel vor dem Bilde der Kali in eine solche Ekstase, dass er ein bereitliegendes Schwert ergreift und sich den Kopf vom Rumpfe trennt. Nach einer Weile geht sein Freund, der mit Sita draußen gewartet hatte, auf die Suche nach ihm und gerät beim Anblick des Enthaupteten in solche Verzweiflung, dass er ebenfalls das Schwert ergreift und dem Freund in den Tod folgt - kopflos auch er.
Was geschieht mit Sita, als sie nach einer weile das Schlachtfeld der Freunde betritt? Sie verliert fast den Verstand und will auch nicht länger leben; jetzt schreitet allerdings die Göttin Kali persönlich ein und gibt ihr eine Chance: sie darf die Köpfe wieder an die Leiber fügen.
"Aber mach deine Sache ordentlich und setze ihnen nicht die Köpfe verkehrt auf in deiner Huschlichkeit, daß sie mit dem Gesicht im Nacken herumlaufen und das Gespött der Leute werden! Mach! Wenn du bis morgen wartest, ist es zu spät."

So lässt Thomas Mann die Göttin Kali sprechen.

Und was passiert Sita in ihrer "Huschlichkeit"? Sie setzt dem einen den Kopf des anderen auf die Schultern! Man kann das getrost etwas schmunzelnd zur Kenntnis nehmen, denn die gedankliche Problematik beginnt erst an dieser Stelle, besonders brisant in einer Zeit, da die Gentechnik alles möglich zu machen scheint, selbst einen Identitätswechsel:
Ist der Geistesmensch nun mit seinem neuen Body doppelt glücklich, und hat der andere über seinen neuen Körper ein wenig Zugang zu einer feineren Lebensart? Zu wem gehört Sita, zu Kopf oder Körper, und vor allem, von wem ist das Kind, das sie erwartet?

Eine alte indische Legende, für die Thomas Mann ein anderes Ende erfindet als der Geschichtenerzähler des 12. Jahrhunderts. Der unaufgelöste indische Zwiespalt zwischen Sinnenfreude und Askese trifft auf das abendländische Leib-Seele-Problem oder Thomas Manns Ambivalenz zwischen Kunst und Leben.

So fremd das alles klingt, - es ist unsere Sache geblieben, ob Sie nun, zwischen Befremdung und Begeisterung, "Così fan tutte" studieren oder einen skandalfähigen Roman von Michel Houellebecq lesen oder einer erfahrenen indischen Stimme lauschen, die Ihnen alles geben kann, die ganze Weisheit des Ragas, nur nicht das pure Belcanto-Vergnügen.
18) Sri Bhimsen Joshi CD 1 Tr. 1 Raga Lalit ab 5'40" bis 7'46"= 2'06"

Nach etwa 10 Minuten ist der Sänger dort angelangt, wo der konzentrierte Zuhörer eine Vorstellung von Ekstase bekommt: sein Geist hat eine andere Färbung angenommen, - die Bedeutung des Wortes Raga ist: "das, was den Geist färbt..."
Wir werden uns alsbald in eine andere Realität zurückbegeben.
19) Sri Bhimsen Joshi CD 1 Tr. 1 Raga Lalit ab 13'05 bis 17'36" = 4'31"
20) Mozart "Così..." CD 1 Tr. 10 "Bella vita militar!" 1'32"

Ist diese Musik leicht und die andere schwierig?

Man darf nicht vergessen, dass in dem indischen Beispiel mit äußerster Sorgfalt sehr komplizierte tonale Verhältnisse geklärt werden, die wiederum komplizierten Seelenlagen entsprechen und nur unter bestimmten Voraussetzungen ihre Schönheit preisgeben.
Man täusche sich aber nicht: bei Mozart ist es auch für Eingeweihte gar nicht soviel einfacher: die Schwierigkeit liegt allerdings nicht darin, sich mit ungewohnten Tonverhältnissen vertraut zu machen, sondern die bis zum Überdruss gewohnten Tonverhältnisse in ihrer absoluten Besonderheit zu erfahren. Zudem noch: Assoziationen zu verarbeiten, die überhaupt nicht dazu zu passen scheinen.
Dieser Marsch samt Loblied auf das schöne Soldatenleben ist bloßes Theater: die Trommel des Unheils hat zum Schein geschlagen, ein Boot legt an, die beiden Frauen sollen glauben, dass ihre Verlobten in den Krieg ziehen. Ein böses Spiel, aus dem dann diese unglaubliche Abschiedsszene entsteht, deren Stimmung auch die heuchelnden Männer zu überwältigen scheint. Wie sagte Wolfgang Hildesheimer?
"Moral ist nicht die Quelle von Musik."
21) Mozart "Così..." CD 1 Tr.10 ab 1'39" "Mio cor... "bis 1'56"= 0'17"
Tr. 11.1 Quintetto "Abracciami" u. "Di scriverni" 2'57"
Tr. 11.2 Coro "Bella vita militar!" 0'47

Es bleibt offenbar nur noch, den zum Schein Abreisenden eine gute Fahrt zu wünschen. Aber wie das geschieht! "Sanft sei der Wind, ruhig sei die Welle, und jedes Element erfülle gütig unsere Wünsche." In diesem Terzettino, schreibt Wolfgang Hildesheimer, stimmt selbst Don Alfonso in den Wunsch einer glücklichen Seereise ein, den die sordinierten Streicher in ihren Sechzehnteln uns so nahelegen, als fände diese Seereise - auf einem leicht gewellten Meer - wirklich statt. Hier scheint nichts anzudeuten, daß er fingiere, er scheint unwillkürlich Teilnehmer des Spieles geworden zu sein, und schließlich werden es alle, einschließlich Mozart selbst, der tief in die Fiktion gleitet, mitgerissen von ihrem trügerischen Zauber.
(Und jetzt zitiert Hildesheimer aus einem Aufsatz von Stefan Kunze:) Die Musik 'nimmt an der Täuschung nicht teil, realisiert aber auch nicht nur die äußere Situation und Abschiedswehmut. Mozarts Musik macht vielmehr deutlich, daß in diesem Abschied, dessen Epilog das Terzettino ist, ohne daß es den handelnden Personen bewußt ist, Unwiederbringliches verabschiedet wird.' (Stefan Kunze)"
22) Mozart "Così..." CD 1 Tr.11 ab 4'20" "Deh, faccia il cielo..." bis 4'24"
Tr. 12.1 "Faccia che al campo..." 0'13"
Tr. 12.2 "Soave sia il vento" 3'23"

Meine Damen und Herren, ... wenn Sie in die Noten schauen, da ist eigentlich nichts besonderes zu sehen, das sind doch - bis auf einen lang gehaltenen verminderten Septakkord - die altbekannten Akkordfolgen. Allerdings angeordnet und auf Stimmen verteilt von einem jungen Mann namens Mozart.

Ich muss auch von der Aufnahme sprechen! Die Sängerinnen sind Veronique Gens und Bernarda Fink, den Don Alfonso singt Pietro Spagnoli, die Herren, die sich auf sein Spiel einlassen, werden von Werner Güra und Marcel Boone dargestellt. Graciela Oddone als Despina nicht zu vergessen. Auch der Kölner Kammerchor war eben zu hören, und nicht zuletzt das fabelhafte Concerto Köln spielt unter der Leitung von René Jacobs. Es lohnt sich, sagen wir, für die nächsten 20 Jahre, diese Aufnahme zu besitzen, selbst wenn Sie die von Harnoncourt, Karl Böhm oder gar Karajan schon im Schrank haben. Es gibt dazu eine höchst instruktive CD-Rom, die Ihnen z.B. erlaubt, im Textbuch zu blättern und in jede beliebige Stelle reinzuhören. Natürlich auch mit historischen Informationen zur Entstehungsgeschichte usw. Ich bin stolz, dass der WDR Coproduzent einer solchen Aufnahme ist, Klaus L Neumann hat sie 1998 gemeinsam mit harmonia mundi France produziert.

Man sollte tatsächlich auch möglichst viel lesen, was zu diesem Gegenstand "Così fan tutte" geschrieben wurde, der uns nur an der Oberfläche so fremd geworden scheint - es hat merkwürdig viel mit unserem Leben zu tun: mehr als Michel Houellebecq, der seinen traurigen Roman "Plattform" offensichtlich über die verlorene Liebesfähigkeit des Westens geschrieben hat, die bereits das Thema dieser Mozart-Oper war und zunächst im 19. Jahrhundert mit romantischen Ideen über die Liebe zugeschüttet wurde.
Für Nikolaus Harnoncourt ist das Dramma giocoso "Così fan tutte" die traurigste Oper der Musikgeschichte. Er schreibt:
"Der Text sagt: 'Der Wind soll unseren Wünschen freundlich gesinnt sein.' Wenn ich das lese..., heißt das: 'Die sollen keinen Schiffbruch haben, das Schiff soll nicht untergehen, und der Wind soll sie dann möglichst bald zurückbringen.' Aber der Text weiß ja noch nicht, dass Mozart auf das Wort 'desir' eine ganz dissonante, magische Harmonie schreibt, und die sagt etwas anderes aus. Der Zuhörer hört eine große, wirklich magische Störung, die sagt: Mit unseren Wünschen ist irgendetwas nicht im Einklang. Sie verrät aber noch nichts Genaueres. Die Mädchen wollen, dass ihre Verlobten zurückkommen - aber da geschieht irgendetwas, da wird irgendetwas sein, vielleicht kommen sie verwandelt zurück oder vielleicht... Vielleicht werden wir mit unseren Wünschen in den nächsten zwei Stunden furchtbar betrogen werden. Diese magische Harmonie kann auch bedeuten: Vielleicht wünschen wir gar nicht, was wir wünschen. In diesem Moment kann man das noch nicht sagen. Aber es ist dieser 'zweite Text' wie ein Teufel hinter dem Engel: Beide sprechen dasselbe Wort und meinen Verschiedenes damit.
23) Mozart "Così..." CD 1 Tr. 12.2 "Soave sia il vento" ab 0'13" (unter letzte Worte) 3'23"

Schöner geht es nicht.
Meine Damen und Herren, gerade solche überirdischen Stellen machen es schwer, die Doppelbödigkeit dieser Oper bis zum Ende gutwillig durchzustehen oder sogar als komödiantisch zu empfinden; zu peinlich ist die Demütigung der Frauen am Ende, wo sie die vermeintlich neuen Partner heiraten wollen, zu unglaubwürdig der lärmende Schluss. Harnoncourt sagt allerdings, gerade dieser aufgesetzt-heitere Schluss mache für ihn das Werk noch abgründiger. Ein wirkliches happy end ist unmöglich. "Ich kann mir von keinem der vier Beteiligten mehr eine reine Beziehung zu irgendeinem neuen Partner vorstellen - zum alten Partner auch nicht."

Es könnte sein, dass sie zu ihren alten Partnern zurückkehren und wie ein ausgekochtes Ehepaar zusammenleben, ohne Illusion und ohne die Reinheit ihrer früheren Beziehung. Im übrigen: alles total irreparabel.

Man könnte ja auch folgern, wenn ewige Liebe und Treue eine Illusion sind, sind der liberalen Enthemmung keine Grenzen mehr gesetzt. Aber die emanzipatorische oder gar dionysische Entfesselung der Triebkräfte liegt keineswegs im Sinne dieses zynischen Experimentes.
Die Botschaft Don Alfonsos zielt auf den Sieg eines illusionsfreien Rationalismus, dessen Ergebnis in Sachen Liebe - ein Scherbenhaufen ist, kein Neubeginn. Das Geheimnis liegt in der begleitenden Musik, die Raum hat für alles: für die Liebe und deren Widerlegung, für die Sinnlichkeit und die Askese. Nur von Moral weiß sie nichts...
24) Hariprasad Chaurasia CD I Tr. 2 "Raga Lalit" ab 3'42" bis 8'40"

Noch einmal Raga Lalit. Meine Damen und Herren, für mich gab es beim Blick auf Indien immer einen schwierigen Widerspruch, ein geradezu unlösbares Problem: wie lässt sich eine so kunstfreundliche, sinnenfrohe Lebenseinstellung mit einer eher förmlichen und fast sinnenfeindlich wirkenden Moral im Alltäglichen vereinbaren?
Es scheint das typische Dilemma zu sein: wir Abendländer bestehen auf einem Entweder/Oder, der Inder antwortet nicht, nein, er lebt mit einem Sowohl/Als auch, ohne unter Widersprüchen zu leiden.
Ich gebe Ihnen eine Erläuterung, die ich einem Buch des Kulturwissenschaftlers Gerhard Schweizer entnehme:
"Tatsächlich haben Hindus schon um den Beginn unserer Zeitrechnung Kulte herausgebildet, in denen der Geschlechtsverkehr sogar zum Symbol der mystischen Vereinigung des Menschen mit dem Göttlichen wird. (...) Shiva und seiner Gattin Parvati (auch unter den Namen Durga und Kali) ist auf diese Weise im Verlauf der Jahrhunderte mit unterschiedlicher Intensität immer wieder gehuldigt worden. Neben ihnen ist aber auch Krishna eine Bezugsfigur für erotische Phantasie. In legendenhaften Überlieferungen seit dem 6. Jahrhundert finden wir die Liebesabenteuer des jugendlichen Krishna mit den Gopis, den Hirtenmädchen, detailreich ausgeschmückt. Viele Episoden waren geeignet, prüde denkende Europäer und Amerikaner bis weit in das 20. Jahrhundert herein zu irritieren, abzustoßen. Mit "Religion" könne das nichts zu tun haben. (...)
Eine erste Antwort finden wir in der hinduistischen Mythologie. Diese Götter zeigen neben ihrer Sexualität betont auch die Neigung zur Askese, sie alle geben zu erkennen, dass die Bindung an die 'Sinne' und die 'Lust' nur 'Illusion', nur Scheinhaftigkeit sei. So ist Shiva nicht nur der Gott, der sich mit phallischer Energie Welten erschafft und zerstört - er ist besonders auch der Gott, der vorbildlich für alle Asketen sich aus jeder Aktivität zurückzieht, in extremer Meditation das Sinnliche, die Scheinhaftigkeit 'zerstört' und so den Weg zur endgültigen 'Erlösung' weist. Die Mythen liefern hierzu eine bezeichnende Episode: der Liebesgott Kama (nach ihm ist das 'Kama'sutra benannt) wagt es, Gott Shiva in seiner Meditation zu stören und wird von dem erzürnten Weltenherrn zur Strafe in Asche verwandelt. Krishna ist ähnlich doppeldeutig. Dem übermütig jugendlichen Krishna, dem 'göttlichen Liebhaber' schlechthin, wie er in der heiligen Bhagavad Purana überliefert ist, steht der historrisch ältere Krishna aus der Bhagavad Gita gegenüber, und dieser predigt ein Leben voller Disziplin und Enthaltsamkeit, gebunden an die Kastenpflicht.
Solche Gegensätze mögen wir aus westlicher Sicht gerne als widersprüchlich bewerten. Tatsächlich lagen diesen unterschiedlichen Haltungen auch sehr unterschiedliche Gottesvorstellungen zugrunde (...). Aber Brahmanen haben ja (...) diese unterschiedlichen Verehrungsformen 'brahmanisiert', indem sie die gegensätzlichen Gottheiten und Religionsformen mythologisch miteinander verklammerten. So ordneten sie den von ihnen verehrten Hauptgottheiten das Wesen anderer Gottheiten zu - unter anderem verknüpften sie gerade so die ekstatische Erotik mit der Neigung zur Askese - und argumentierten, all diese Gegensätze seien nur unterschiedliche Äußerungen des 'All-Einen'. Sie folgten damit wieder einmal dem hinduistischen Prinzip des Sowohl-als-Auch und vermieden es, anderes Denken auszugrenzen (...). Aber unmißverständlich haben sie der Askese hierarchisch den höheren Wert zugemessen und gerade damit das Erotische unterordnend zurückgedrängt."
25) Hariprasad Chaurasia CD I Tr. 2 "Raga Lalit" ab 8'40" bis 11'18"

"Blicken wir auf zwei Jahrtausende hinduistischer Geschichte zurück, so stellen wir fest, dass die Anhänger mystisch-ekstatischer Erotikkulte stets nur eine Minderheit geblieben sind. Nicht zufällig waren es Fürsten, die die erotischen Figurenfriese von Khajuraho gestalten ließen. Nicht zufällig kannte vor allem ein höfischer Adel das Kamasutra und setzte die Anweisungen einer verfeinerten, religiös geprägten Kurtisanenkultur in die Praxis um. Diesem Vorbild höfischen Lebensstils folgte zwar zu wirtschaftlichen und kulturellen Blütezeiten auch ein Bürgertum reich gewordener Städte, ihre Schicht ist jedoch äußerst schmal geblieben. Fremd bleibt bis heute den meisten Hindus der Geist, der aus dem Kamasutra spricht. Ihnen gilt das 'Lehrbuch der Liebe', sofern sie überhaupt eine vage Kenntnis davon haben, nach wie vor als unanständig, ja als skandalös."
(Schweizer S. 163 f)
26) Hariprasad Chaurasia CD I Tr. 2 "Raga Lalit" 11'18" (12'18")-14'44"

Wo ist das Leben, das dieser freien, verführerischen und zwiespältig-schönen Musik entspricht? Gerhard Schweizer bezieht uns selbst in die Analyse mit ein:
"Überraschen muss es nicht," sagt er, "dass sich bei Hindus eine ähnliche Heuchelei wie bei sexuell verklemmten Europäern und Amerikanern breitgemacht hat."
Nur dass es im Westen eben nie diese freizügigen Tempel gab.
Und über die neuere Freizügigkeit des Westens muss man nur einmal bei Michel Houellebecq nachlesen! Wäre es Musik, klänge sie ganz sicher nicht wie diese:
(MUSIK beginnt)

Heuchelei, Verklemmung, das sind keulenartige Begriffe, mit denen man kompliziertesten psychologischen Verhältnissen nicht beikommt. Man könnte auch einmal fragen: wieviel Verdrängung ist notwendig, um den Kopf frei zu haben für wichtigere Dinge? Für die Musik, die Dichtung, die Philosophie, die Mathematik, - und für Ideen wie die von der "ewigen Liebe"?
Das ist eine teuflische Frage.
27) Hariprasad Chaurasia CD I Tr. 2 "Raga Lalit" ab 1'32" bis 4'11"?

Gespaltene Gefühle, - meine Damen und Herren, dies war die Fortführung einer früheren Sendung der Reihe Musikpassagen; einiges daraus wird am kommenden Samstag noch einmal in der WDR3.pm-Sendung meines Kollegen Werner Fuhr zu hören sein, auch Raga Lalit mit Hariprasad Chaurasia, dessen wunderschöne, übrigens vollkommen textfreie CD ich Ihnen ans Herz lege, ebenso wie die Gesamtaufnahme der Mozart-Oper "Così fan tutte" unter René Jacobs.

Ich hoffe, die heutige Sendung hat Ihnen etwas gegeben; unser Hörertelefon steht für freundliche Worte ebenso wie für kritische Nachfragen zur Verfügung, 0800-5678 333, Informationen zur indischen Musik für Neueinsteiger schicken wir Ihnen gerne per Post zu.
Die technische Realisierung dieser Sendung besorgte André Sperlich, am Mikrofon verabschiedet sich Jan Reichow.

(Musik hoch)

LITERATUR

  • Wolfgang Hildesheimer
    Mozart
    Suhrkamp Frankfurt am Main 1977

  • Nikolaus Harnoncourt
    Die Schule der Liebe oder die Verwirrung der Gefühle
    (Gespräch mit Anca-Monica Pandeles)
    CD Text Teldec Classics 9031-71381-1 (LC 3706)

  • Thomas Mann
    Die vertauschten Köpfe / Eine indische Legende (1940)
    in: Sämtliche Erzählungen
    Frankfurt am Main 1963 S. 566 - 640

  • Gerhard Schweizer
    Indien. Ein Kontinent im Umbruch
    Klett-Cotta Stuttgart 1995 ISBN 3-608-91410-2 S. 163 - 165



© Dr. Jan Reichow 2007, 2008Im Netz ... Jan Reichow < Startseite < Texte < fürs Radio <
Musikpassagen 24.April 2002 - Lug und Trug