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Musikalischer Sinn
Buchbesprechung von Jan Reichow
(fertiggestellt 14. April 2008)

Musikalischer Sinn, Titelblatt Man könnte ja mit Fug und Recht behaupten, dass heute nur noch aus schlecht unterrichteten Kreisen Zweifel am Sinn der Musik geäußert werden. Rührt nicht die Musikpädagogik immer erfolgreicher die Trommel? "Musik macht klug!" "Jedem Kind sein Instrument!"
Aber wenn vor allem mit sekundären Zwecken gelockt wird: Instrumentalspiel sei gut für die geistige Entwicklung, auch die mathematischen Fähigkeiten blühten auf und die soziale Kompetenz wachse, möchte man doch mit Schiller rufen: "Ihr habt nur die Magd, niemals die Göttin gesehn!"
Aber was nun, wenn gerade die Göttin uns ratlos macht? Die autonome Kunst. Sobald man nämlich genauer nachfragt, - was bedeutet denn diese vielgerühmte Musik "in sich selbst"? Was bringt sie? Was bringt uns, sagen wir, Beethovens Kreutzer-Sonate verglichen mit Tolstojs "Krieg und Frieden"? Da zeigt sich nichts Vorweisbares, Greifbares, Beweisbares. Sie rauscht vorbei, ist allenfalls konsumierbar, in Einzelheiten nachpfeifbar, während Tolstojs Themen nach wie vor aktuell und diskutierbar sind.
Mit anderen Worten: Hat es Sinn, über musikalischen Sinn nachzudenken? Mehr denn je! Nehmen wir ein Buch, das offenbar den neuesten Stand reflektiert. "Musikalischer Sinn"!

Zunächst einmal: Vorsicht! Wenn Sie vielleicht als Laie, meinetwegen aber auch als Profimusiker in dieses Buch schauen, werden Sie schier verzagen: Sie müssen wohl einigermaßen philosophisch geschult sein, Adorno gelesen haben, Immanuel Kant oder Wittgenstein. Sie mögen noch so musikalisch sein, noch so gut Klavier spielen, - das Buch vom musikalischen Sinn werden Sie womöglich bald frustriert zur Seite legen.
Und das ist schade.
Es sind ja Fragen, auf die man in jeder Konzertpausendiskussion schnell kommen müsste, sofern man sich nicht in Interpretationsvergleiche flüchtet oder mit angelesenen Einzelfakten zu beeindrucken sucht. In Wahrheit meidet man instinktiv Fragen dieser Art, als seien sie längst gelöst:
Wie "puristisch" sollen wir uns eigentlich beim Musikhören verhalten? Wann waren wir wirklich bei der Sache? Was ist die Sache? Haben wir überhaupt etwas Wesentliches von dem wahrgenommen, was die Musik uns anbietet?

Adorno hat in einer Typologie des Musikhörers gewissermaßen ein Ideal des hörenden Experten entworfen, der sich auf die rein musikalischen Strukturen konzentriert: im Gegensatz zu dem, der sich außermusikalischen Assoziationen hingibt und sich in einem Sinfoniesatz ganze Dramen zusammenreimt.
Und Adorno verhält sich zweifellos von vornherein wertend.

Stattdessen schlägt Alexander Becker nun ein Modell der musikalischen Erfahrung vor, das "von einer Spannung zwischen 'zentrifugalen' und 'zentripetalen' Tendenzen geprägt" ist. Das heißt: "zentral" wäre in dieser Definition die bloße Musik, der Notentext, die tönend bewegte Form. "Zentripetal" wäre die Betrachtung, die sich etwa mit der Funktion eines Themas im Verlauf eines Sonatensatzes beschäftigt, eine Betrachtung, die sich also immer in Richtung Werk bewegt; "zentrifugal" dagegen wäre eine Analyse, die sich den Entstehungsbedingungen der Komposition widmet, bis hin zu den außermusikalischen Assoziationen, die den Komponisten beim Komponieren begleitet haben oder die sich in der Wirkungsgeschichte eingestellt haben.
Da tut sich also ein weites Feld auf: denn Becker konzediert, dass "die Musikerfahrung in ihrem Kern von musikfremden Vorstellungen oder Modellen durchsetzt" ist. Andererseits setzt er im elementaren Bereich an: die Musikerfahrung äußert sich zunächst nicht in Worten, sondern darin, dass man Passagen nachsingt oder sogar auf dem Instrument nachvollziehen kann. (S.285)
Schon ein innerliches Nachsingen würde genügen; wer kein Instrument spielt, ist nicht von der Erfahrung ausgeschlossen. Fragt man nun nach dem "Sinn" dessen, was man da nachvollzieht, bieten sich die typischen Warum-Fragen an: "Warum folgt dieses Motiv/diese Phrase/dieser Klang auf jene(s)/jenen?" Und jetzt kommt ein wesentlicher Punkt: nicht der Verweis auf Worte, verbale Beschreibungen, sondern auf das Gestische als Ur-Element der Musik. "Die Töne gewinnen ihren Zusammenhang [so] durch die Geschlossenheit der Geste; da wir nach dem inneren Zusammenhang der Geste nicht weiter fragen - denn sie ist uns vertraut -, genügt sie als Antwort auf die Frage, warum die Töne so und nicht anders aufeinanderfolgen." (S. 289f)
Vom Nachsingen und vom Ablesen einer Geste, von der Wahrnehmung des Gestischen in der Musik, kommen wir alsbald zu der Verallgemeinerung, dass der "Sinn" der Musik überhaupt nur im realen Nachvollzug zu erfassen ist: nicht durch Benennen, sondern durch eine geradezu körperlich vorstellbares Nachvollziehen. (S.291).

Das klingt hier in meinen Worten recht simpel, bedeutet aber, dass wir bereits im elementaren Bereich des Musikhörens weit über das "rein Musikalische" hinausgehen: die Geste steht ja bereits in "anderen Kontexten, hat andere Konnotationen, gehört vielleicht zum Ausdrucksrepertoire einer bestimmten Emotion, so dass über den Nachvollzug eine Verbindung zu Bereichen geschlagen wird, die weit über das Musikstück hinausgehen, aber trotzdem für die Erfahrung, die jemand an ihm macht, konstitutiv sein können." (S.293) Vor allem: wir befinden uns bereits in der Welt des Körperlichen, von der man behaupten könnte, sie öffne äußeren, "zentrifugalen" Elementen, die der eigentlichen Musik fremd sind, Tür und Tor. (S. 296)
Alexander Becker konkretisiert seine Beobachtungen plausibel durch den Bezug auf Schuberts Lied "Der Doppelgänger" und auf den gespenstischen Schlusssatz der b-moll-Sonate von Chopin, ein schlechthin nicht analysierbares Stück Musik.

Mir scheint der Autor aber schließlich an einer Stelle weit übers Ziel hinauszuschießen, nämlich dort, wo er über den Nachvollzug und die elementare Bedeutung der Atmung spricht :
"Einer in lange, gleichmäßige Perioden gegliederten Melodie folgt man mit einer entsprechend gleichmäßigen Atmung; kurz aufeinanderfolgende, sich in Dynamik oder Tonhöhe steigernde Phrasen lassen die Atmung flach und hektisch werden..." (S. 292)
Wie soll man sich das wohl vorstellen?
Schon für den Instrumentalisten wäre es eine Katastrophe, die seine interpretatorische Kontrolle über das Werk grundsätzlich in Frage stellen würde.
Aber auch für den Zuhörer wäre allenfalls ein vorübergehendes Stocken der Atmung denkbar, alles andere - abgesehen davon, dass es im Konzertsaal peinlich wäre - findet doch mehr oder weniger imaginär statt.

Matthias Vogel behandelt diesen Aspekt in seinem Beitrag deutlich vorsichtiger und spricht nur von "Relationen zu Gesten, Atemrhythmen und Tanzschritten", d.h. von plausiblen Modellen, die wir nicht nur als Musiker, sondern auch "als bloße Hörer" heranziehen, (ich zitiere) "weil wir bestimmte kulturelle Erfahrungen teilen und weil wir körperliche Erfahrungen - einen jagenden Puls, das Gleichmaß des Atmens beim Einschlafen oder die Anspannung beim Heben von Lasten - teilen." (S. 327)
Wir wissen davon und erkennen all dies wieder, aber wir schlafen nicht ein, wir heben den Vordermann nicht vom Sitz.
Wir bleiben also bei dem Aspekt des Verstehens als einem inneren Nachvollziehen. Womit dennoch die grundlegende Frage nicht gelöst ist: "Warum wir Musik hören" (S.335).
Und hier greift Vogel auf einen alten, nach wie vor ergiebigen Punkt zurück: "Die Lust am Spiel". Was ist es eigentlich, was uns im ästhetischen Spiel GELINGT?
Letztlich kommt er dann zu einem für die Musik ganz wesentlichen Punkt unter der Überschrift: "Die Lust an der Erkenntnis":
"Die Musik wäre sozusagen ein Sensorium für Prozesse, denen wir begrifflich (noch) nicht gewachsen sind, sie könnte psychische oder soziale Stimmungen und Formationen artikulieren, die wir (noch) nicht beschreiben können." (S.351)
Dieser Satz allein ist nicht befriedigend, wie auch das eingeklammerte "(noch) nicht" anzeigt, - so als könne Musik bei genauerer Begrifflichkeit überflüssig werden. Zurück also zur LUST. In einfacherer Form die "Lust an der Nachahmung", ein Wort, das Vogel von dem schlechten Ruf simpler Imitation zu befreien sucht: es ist Nachvollzug, genauer: gelingender Nachvollzug, und am Ende geht es noch deutlich darüber hinaus:
Da "ästhetische Lust nicht einfach eintritt, wenn uns ein Nachvollzug gelingt, sondern dann, wenn der jeweils gefundene Nachvollzug noch den Charakter einer Herausforderung hat, wenn er also noch vor der Alternative des Gelingens und Scheiterns steht, und uns das Musikstück nicht erscheint, als seien alle seine Aspekte in unseren Nachvollzug integriert." (S. 363)

Aus derartigen Überlegungen ergibt sich u.a. eine Erklärung für das merkwürdige Phänomen, dass wir ein und dieselbe Musik immer wieder hören wollen: Schönheit wäre keine ausreichende Erklärung, es ist die Herausforderung, die erhalten bleibt, und die Lust am ästhetischen Spiel in Gang hält.
Da bleibt ein ungelöster, unlösbarer Rest. Wie Adorno sagt: der Rätselcharakter der Kunst.
Oder winkt uns schließlich doch noch ein Entgelt - auf anderem Terrain???
Bei Matthias Vogel heißt es gegen Ende: "Insofern also gelingende Nachvollzüge [großer Musik] Modelle für andere Wahrnehmungen darstellen können, ist es möglich, dass musikalische Erfahrungen unsere Sicht auf die Welt verändern." Doch er nimmt diesen Gedanken sogleich wieder zurück, - das ist nicht der Grund, weswegen wir Musik hören. Aber immerhin, es steht da: möglicherweise verändern "musikalische Erfahrungen unsere Sicht auf die Welt". Nur noch ein kleiner Schritt, und wir hätten die Musik in dienender Funktion - für edelste Zwecke, gleichwohl als Magd, vielleicht sogar als Modell eines besseren Lebens. Da wäre also einerseits die Göttin Musik, die uns eine Welt bedeutet, - und andererseits die Magd, die unsere Sicht auf die Welt verändern kann... Oder gilt beides, wie Vogel nahelegt?

Wenn wir das Wort "Musikalischer Sinn" streng werkbezogen sehen, bleibt Schillers Spruch nach wie vor akut:

"Was bedeutet dein Werk?" so fragt ihr den Bildner des Schönen.
Frager, ihr habt nur die Magd, niemals die Göttin gesehn.

Musikalischer Sinn, Inhaltsverzeichnis
  • Musikalischer Sinn
    Beiträge zu einer Philosophie der Musik
    Herausgegeben von Alexander Becker und Matthias Vogel
    suhrkamp taschenbuch wissenschaft stw 1826
    Frankfurt am Main 2007
    ISBN 978-3-518-29426-0



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