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Konzertpause vor Bruckner: Symphonie Nr. 4, Es-dur, "Romantische"
SWR 2, Silvester, 31. Dezember 2007, 18.00 Uhr
von Jan Reichow
Redaktion: Rainer Peters

Menschen, die am Silvesterabend ein solches Musikprogramm verfolgen, gehören nicht zu denen, die Musik für einen bloßen Feiertagsschmuck halten: sie wollen mehr, - pathetisch gesagt: sie wollen ein existentielles Erlebnis.
Und das ist bei einer Bruckner-Symphonie, sofern man sie mit Aufmerksamkeit wirken lässt, geradezu unvermeidlich.
Zweifellos neigt man am Jahresende ohnehin dazu, auf das vergangene Jahr zurückzuschauen, vielleicht sogar sein ganzes Leben revue passieren zu lassen, und dann gibt es wahrhaftig keine bessere Vorbereitung als die Vierte von Anton Bruckner, deren Bezeichnung "Romantische" man am besten gleich vergisst. Er selbst hat sie wohl so genannt, aber nicht zu ihrem Besten: man begann sie alsbald auf Hörnerklang, Wald und Natur einzugrenzen, dabei hätte man sie ebenso auf den Weltlauf, auf das Schicksal, auf ein neues Zeitalter, auf "Weltenbrand" und "Götterdämmerung" beziehen können; kurz auf alles, was unser kleines individuelles Menschenleben überwölbt, überbietet, bedroht, in ewige Liebe hüllt, überflüssig macht oder mit einer Transzendenz verbindet.
Kein Wort mehr darüber, - auch Bruckners weitere verbale Hilfen waren ja eher kleinmütig, im Vergleich zu seiner leibhaften und überwältigenden Musik.

Meine Damen und Herren, denken Sie sich den Punkt der Sinfonie, der am weitesten von Ihnen entfernt liegt, in einer Distanz von etwa 60 Minuten, ganz am Ende des Finales, rund 3 Stunden vor Mitternacht.
Da findet das Blech, das so oft gestrahlt und gewütet hat, zu einer unendlich rührenden Abschiedgeste: Resignation wäre ein zu schwaches Wort, es wäre darin auch zu wenig von dem Glück wiedergegeben, das diese Wendung vermittelt. Und es folgt dort auch noch ein letztes großes Crescendo, vom Pianissimo über 20 lange Takte hinweg zum Fortefortissimo, der Rhythmus der allerersten Hornfanfare der Symphonie übertragen auf Trompeten, Posaunen, Pauken, - es ist durchaus kein abschließender Triumph, aber sicher auch kein Untergang. Es ist eine tiefe, ruhige Gewissheit.
1) Bruckner IV Tr. 4 ab 17:57 bis 19:57 2'00"
Wir haben an diesem Punkt einen weiten Weg zurückgelegt. Seine letzte und schwierigste Etappe hatte mit dem Finale begonnen:
Mit dem Hauptthema - das nicht eigentlich schön ist im Sinne von "ausgewogen": es wird vorbereitet durch Bilder des In-die-Tiefe-Steigens, zeichenhaft, dringlich, nichts als Erwartung... hören Sie auch, wie die Hörner sich lauernd und erregt einmischen?
2) Bruckner IV Tr. 4 Anfang bis 1:18 1'18"
Das Ergebnis ist Ausdruck eines hochfahrenden und tiefschürfenden Willens, der sich mit geballter kollektiver Kraft präsentiert, ...
3) Bruckner IV Tr. 4 ab 1:16 bis 1:29 0'13"
... ABER: es ist durchaus keine Basis, auf der man ein Fest feiern kann (Bruckner soll diesen Satz einmal - in Erklärungsnot oder warum auch immer - als "Volksfest" bezeichnet haben); nein, es ist eine grandiose These, die ein musikalisches Lösungspotential erst einfordert; schon die unmittelbar folgenden Takte stellen alles in Frage: das war zwar groß gesagt, jedoch - wir stehen erst am Anfang...
4) Bruckner IV Tr. 4 ab 1:29 bis 1:38, dann Text drüber 0'09"
... und das eigentliche Drama beginnt. Was wir eben als große Geste des In-die-Tiefe-Steigens bezeichnet haben, wird später in umgekehrter Zielrichtung erscheinen, mit sehr prekärem Ausdruck:
5) Bruckner IV Tr. 4 12:30 bis 12:47 0'17"
Und in einem noch späteren Aggregatzustand geht es in beide Richtungen gleichzeitig: in die Tiefe und in die Höhe, "zur Symmetrie gebracht" - die beiden Hälften eines größeren Ganzen- wie hier:
6) Bruckner IV Tr. 4 17:29 bis 17:55 0'26"
Was für ein Versprechen, was für eine Hoffnung liegt in diesen Takten!
Und was wird uns tatsächlich am Ende bleiben?
Wir sprachen von einer tiefen ruhigen Gewissheit - als Ziel einer riesigen Sinfonie scheint das wenig, ist aber unendlich viel; sie kann ihre überzeugende, ja überwältigende Wirkung nur entfalten, wenn wir alle Höhen und Tiefen erlebt haben.
Da gab es Momente wahrhaft Schubertschen Glücks.
7) Bruckner IV Tr. 4 ab 3:20 bis 3:34 0'14"
Vielleicht erinnert man sich dabei der freundlichen Vogelrufe im ersten Satz:
8) Bruckner IV Tr. 1 ab 2:25 bis 2:47 0'22"
Und gerade diese Glücksformel der fallenden Sext, - es ist merkwürdigerweise ein melodisch selten profiliertes Intervall -, es verwandelt sich im letzten Satz zur kollektiven Deklamation, zur pathetischen Forderung:
9) Bruckner IV Tr. 4 ab 8:19
Das Thema ist innerlich verbunden mit einer dunkelgetönten Melodie, die im Charakter deutlich an den Trauermarsch des langsamen Satzes anknüpft:
10) Bruckner IV Tr. 4 ab 9:22
Was darin an den Trauermarsch erinnert, ist der schreitende Charakter, die gehaltenen Einzeltöne, das gleichmäßig Pizzicato in den Bässen, aber dort im langsamen Satz hatte die Melodie noch nicht dieses tröstliche, selbstgenügsame Element, sie war zehrender, begehrender.
11) Bruckner IV Tr. 2 0:39 bis 1:09 0'30"
Dieses Thema aber hängt wiederum mit der Keimzelle der ganzen Sinfonie zusammen, mit dem Hornruf der allerersten Takte. Der innere Zusammenhang ist vielleicht erst zu fassen, wenn man die Themen unmittelbar in Verbindung bringt, - die Technik macht's möglich: Anfang erster Satz, Anfang zweiter Satz, und wieder Anfang erster Satz.
12) Tr. 1 ab 0:07 bis 0:21 //// Tr. 2 ab 0:08 bis 0:45 /// Tr. 1 ab 0:07 bis 0:21
Das elegische Thema des langsamen Satzes reflektiert also das Naturthema des ersten Satzes, den Quintsprung abwärts und wieder aufwärts, greift dann weit darüber hinaus mit einer zweiten Quinte, dann noch weiter zur Oktave - und noch weiter zur nächsthöheren Oktave, um dann unversehens zu verzagen.... und sich von neuem aufzubauen. "Gebet" hat Bruckner diesen Satz einmal genannt. Es ist ein neuer Weg, und der Fortissimo-Schluss des ersten Satzes ist vergessen. Der punktierte Rhythmus ergibt ein Schreitmotiv, aus der scheinbar großangelegten Melodie jedoch entwickelt sich ein durch und durch fragmentarisches Gebilde, Generalpausen, Ratlosigkeit, - mal ein Bild trostloser Melancholie, mal eine Art unverzagten Sisyphus-Gesangs, fortwährend innehaltend, immer wieder sich verwandelnd, fromm kadenzierend, eine andere Gestalt versuchend, - was bleibt uns am Ende? Gar nichts? Oder vielmehr:
Ein wunderbares Gleichnis, eine Meditation, die nicht in Worten zu beschreiben ist. Unwillkürlich denkt man an die Bibelworte:
"...wir werden aber alle verwandelt werden; und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune."
Aber so gerade nicht, es geschieht nicht plötzlich, es geschieht mit den Mitteln der Musik, also in der Zeit, also auch mit dem größtmöglichen Beziehungs- und Gestaltenreichtum, der sich in einem langen Prozess ausfächert und nicht nur der Meditation bedarf, sondern auch der unbändigen Freude des Scherzos.
Erinnern Sie sich, wie in den Hörner vorhin, im Zitat des Finaleanfangs Erregung nachzitterte (Musik beginnt), wie unterhalb der großräumigen Zeichen, mit denen das Finale-Thema vorbereitet wird, ein heimlicher Nachklang der fröhlichen Scherzo-Rhythmen zu hören war. Sie werden gewissermaßen aufgezehrt vom Feuer des neu sich formierenden Finale-Themas.
Im folgenden Beispiel lassen wir gerade an dieser Stelle einen Scherzo-Abschnitt aufleuchten, - wir befinden uns jetzt noch etwa 15 Sekunden im Finale-Zitat.
13) Bruckner IV Tr. 4 Finale Anfang noch unter Text hoch spätestens bei 0:50,
14) Bruckner IV Tr. 3 Horn-Scherzo ab 8:40 bis 9:19 0'39"
Es ist eigenartig, was der große Bruckner-Deuter Ernst Kurth aus dieser Symphonie heraushört, aber hier ist es besonders gut nachzuempfinden: ein fortwährend züngelndes Flammenspiel.
Und schon von Anfang an ein tiefes Leuchten (ein "Lebensleuchten"), schon beim ersten Hornruf über den farblich changierenden Harmonien: Und ganz am Ende gar der "Weltbrand", der alles aufzehrt, selbst den Hoffnungsträger, dieses Horn-Thema, aufzehrt oder im puren Es-dur-Klang verewigt. Vielleicht denken wir tatsächlich an den flammenden Schluss der Götterdämmerung: auch dort ist es kein wirklicher Weltenbrand, nicht die Welt endet im Feuerzauber eines allgemeinen Untergangs, nur Walhall, der Sitz der Götter, brennt!
Und Wagners letzte Regieanweisung lautet:
"Am Himmel bricht [...] von fernher eine dem Nordlicht ähnliche rötliche Glut aus, die sich immer weiter und stärker ausbreitet. Die Männer und Frauen schauen in sprachloser Erschütterung dem Vorgange und der Erscheinung zu."
Ähnlich, aber doch in ganz anderem Sinne könnte es bei Bruckner gedacht sein: wir hören die "Romantische" und ahnen allmählich, was es mit diesem Leuchten am Anfang, diesem Feuerzauber am Ende auf sich haben könnte, und schließlich verharren wir vielleicht auch in sprachloser Erschütterung.
Im antiken Drama sprach man von "Katharsis", nach Aristoteles ist damit die seelische Reinigung als Wirkung der Tragödie gemeint.
Die neuen Tragödien des 19. Jahrhunderts schrieb Richard Wagner, und in diesem Geiste und zugleich gegen ihn schrieb Bruckner unbeirrt seine altmodischen Symphonien.

Ernst Kurth gehört zu den ersten, die Bruckners Kunst radikal von Lohengrin-Allusionen (s. Wagners Bühnenanweisungen, zitiert bei Floros S.176!), von Rittern, mittelalterlichen Stadtbildern und kathedralischen Machtphantasien trennte. Bei ihm überwiegen Bilder aus dem archetypischen Bereich der Musik, - neben der Assoziation von Feuer und Licht - sind es die Metaphern aus dem ozeanischen Bereich, und sie weichen mehr und mehr einer Sicht psychodynamischer Bewegungen: ein Hauptkapitel seines Bruckner-Werkes heißt: "Die symphonische Welle." Er spricht über "Themen und Kraftlinien", über "nachflutende Tiefenwellen", über "das gestaltende Wellenspiel", über "Innendynamik und Gesamtumriss", über : "Kraftformen des Höhepunkts und seinen Übersteigerungen", und sogar über "Episoden der Leere und Wirrnis".
Letztlich sind auch allgemeinste Naturbilder nur ein schwaches Gleichnis, denn alles Materielle, das wir uns vorstellen können, ist doch viel träger als die Natur des Geistes, unseres ruhelos suchenden und assoziierenden Geistes, der sich von nichts so sehr wie von musikalischen Visionen und Auditionen entzünden lässt.

In allem stecken wir nun selbst (mit Bruckner), wenn wir hören und durch die gewaltig bewegten Musikwelten wandern, ja: wandern: es ist ein mystischer Weg, und der verläuft nicht einfach aus dem Nebel zum Licht: der angebliche Urnebel zu Anfang ist ja schon lichtdurchflutet, und die Gottverlassenheit des langsamen Satzes gehört ebenso dazu wie der Übermut des Scherzos und die Kraftausbrüche des Finales. Es könnten Bruckners Worte sein: "Wir werden alle verwandelt werden."
Peter Gülke hat Bruckner eindrucksvoll als den Bruder der großen alten Mystiker beschrieben: "Bei ihnen kann man massenhaft Stichworte finden für die Betrachtung seines Werkes"; und zugleich kennt er natürlich das moderne Misstrauen, das sich aufgeklärt dünkt, während es Mystik und Mystizismus verwechselt.
Mit dem Blick auf Bruckner zitiert er den altdeutschen Mystiker Jakob Böhme, der sagte:

"meine Erkenntnis steht in dieser Geburt der Sternen, inmitten wo sich das Leben gebäret und durch den Tod bricht und wo der wallende Geist entstehet und durchbricht. Und in dessen Trieb und Welle schreibe ich."
Jakob Böhme, so lesen wir bei Gülke, "formuliert immer wieder 'gegen die klügsten Doktoren' ein Pathos der Einfalt, wie es fast aus jedem Takt Brucknerscher Musik herausklingt..." (Gülke S. 97), und er fährt fort:
"Mystik ist sozial, philosophisch und theologisch 'Intention von unten', sie gehört dem Plebejer. Vor allem deshalb wurde sie, wo zum Bewußtsein ihrer selbst gebracht, der Ketzerei verdächtig."
Auch Bruckner, meint Gülke. "Seine Ketzerei bestand darin, daß er Sinfonien komponierte." Und dies zudem mit einer genialen musikalischen Vision, und mit einem peinlich genau erarbeiteten Sachverstand, der nicht nur in der mystischen Versenkung, sondern vor allem durch die Begegnung mit der avanciertesten Musik der Zeit, mit Richard Wagner, seine größte Krise und Ekstase erlebte. An diesem Punkt trifft sich Gülkes Sicht merkwürdig mit der des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt:
"Wie [Bruckner] der Musik Wagners verfällt, das erinnert mich an Tannhäuser, der der Venus verfällt. Dieses Hingerissensein von Wagner ist für ihn wie eine Sünde. Ich habe den Eindruck, er meint, er müßte nachher beichten gehen." (CD-Booklet)

Dies wäre ein anderer unlösbarer Widerspruch zwischen äußerer und innerer Realität im Leben Anton Bruckners. Lösbar und gelöst allein in der Realität seiner Musik.

Und was einem am Ende bleibt, - nach all den Blechgewittern, Offenbarungen, Apotheosen, prophetischen Exzessen - sozusagen in einer Nussschale, alles zusammenfassend, was die Sinfonie sagen wollte, das ist dieser verheißungs-volle Hornruf des Anfangs, der einem nicht aus dem Sinn geht und, im Nachhinein, wenn die Sinfonie vorüber ist, von allem zu wissen scheint, was da geschehen ist.
Oder auch: die Schlussszene des langsamen Satzes, die unendlich rührenden Gebärden, mit denen er verklingt: das klagende Horn, der Zuspruch der Viola, der Klarinette, - mag auch die Pauke in alle Ewigkeit weitermarschieren.

15) Bruckner IV Tr. 2 Langsamer Satz ab 13:41 bis (Ende) 14: 25 0: 44

Klicken zum Vergrössern! - Anton Bruckner um 1880 (Hanfstaengl) aus: Rudolf Louis: Anton Bruckner, München 1918

Musiklizenzen

Beispiele 1-15 10:20
Anton Bruckner: Symphony No.4 "Romantische" in Es-dur
Royal Concertgebouw Orchestra
Leitung: Nikolaus Harnoncourt
LC 6019 TELDEC 0630-17126-2

Literatur

  • Ernst Kurth
    Bruckner
    Berlin 1925

  • Peter Gülke
    Brahms Bruckner / Zwei Studien
    Kassel Basel 1989

  • Constantin Floros
    Brahms und Bruckner / Studien zur musikalischen Exegetik
    Wiesbaden 1980

  • Monika Mertl
    Sünder im Namen der Kunst / Nikolaus Harnoncourt über Anton Bruckner
    CD-Booklet 1997




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