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WDR 3 Abgehört Neue Schallplatten
Vogelstimmen
Sendung 8. Mai 1992 WDR 3 19:07 bis 19:30 Uhr
Skript der Sendung / Moderation: Jan Reichow
Redaktion:




WDR 3 Abgehört - Neue Schallplatten - 8. Mai 1992 - 19.07 bis 19.30 Uhr mit Jan Reichow

1) Musik CD Merles et Grives Tr. 1 Le Merle Noir / Provence


Das Kaspar Hauser Lied von Georg Trakl beginnt mit den Worten:

Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg,
Die Wege des Waldes, den singenden Schwarzvogel
Und die Freude des Grüns.
Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums
Und rein sein Antlitz.
Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen:
O Mensch!
Es ist ein seltsamer sakraler Zusammenhang, in dem der singende Schwarzvogel hier auftaucht; gemeint ist zweifellos die Amsel, auch Schwarzdrossel genannt, der wir heutzutage durchaus inmitten der Großstadt begegnen können, die uns in den Gärten durch ihr wenig zutrauliches und zugleich irgendwie dreistes Benehmen auf die Nerven geht; die uns die letzten Kirschen vom Baum pflückt, lange bevor sie reif sind. Aber sie singt! Im vorigen Jahrhundert galt sie noch als scheuer Waldbewohner, und ich glaube, wenn wir ihr nur dort begegneten, - oder nur nachts wie der Nachtigall -, wüssten wir das Wunder ihres Gesanges anders zu schätzen.
2) Musik CD Tr. 2 Le Merle Noir / Haute-Provence

Schwarzdrossel Solo mit einer Nachtigall im Hintergrund. Es gibt eine separate, sehr schöne CD mit lauter Nachtigallen, aber ich persönlich gebe dem musikalischen Einfallsreichtum des singenden Schwarzvogels den Vorzug. Dank seines Gesangs ist nicht nur die Art unverwechselbar, sondern meistens auch das Individuum. Mit ein bisschen Übung erkennen Sie die zentralen melodischen Motive der einzelnen Individuen, und im Verlauf der nächsten Tage und Wochen werden Sie beobachten können, dass die verschiedenen Sänger, offenbar im Wettstreit, an ihrem Repertoire arbeiten. Es war nicht anders zu erwarten: als am 28. April der in unserer Musikgeschichte ernsteste Fürsprecher des Vogelgesangs starb, der französische Komponist Olivier Messiaen, vergaß keine Zeitung, seiner skurillen Besessenheit ein paar Zeilen zu widmen; aber selbst in einem Nachruf darf an solcher Stelle eine gewisse Flapsigkeit zum Vorschein kommen:

(Sprecher:)
Amsel, Drossel, Fink und Star, Girlitz und Hotogisu, der kleine japanische Kuckuck mit dem grauen Kopf - die ganze Vogelschar hat ihn inspiriert, und aus dem globalen Tirili machte der komponierende Ornithologe klingende Eigenbrötlereien von wunderbarer, wundersamer Faszination. (Spiegel 19/1992)

Man kann es nicht deutlich genug sagen: für Messiaen ging die wunderbare Faszination bereits von dem aus, was hier als globales Tirili abgetan wird.

3) Musik CD Tr. 5 Le Merle Noir / Bourgogne


Am 15. April vor 50 Jahren starb einer unserer größten und am wenigsten gelesenen Schriftsteller: Robert Musil.
In seinem "Nachlass bei Lebzeiten", veröffentlicht 1936, gibt es ein ungeheures Prosastück mit dem Titel "Die Amsel". Der Erzähler, ganz trocken mathematisch Azwei genannt, sein Zuhörer Aeins, hält diesen Vogel, der ihm wie ein Bote aus einer anderen Welt begegnet, zunächst für eine Nachtigall.

(Sprecher:)

Und dann kam eben die Geschichte mit der Nachtigall.
Sie begann mit einem Abend wie viele andere. Ich war zu Hause geblieben und hatte mich, nachdem meine Frau zu Bett gegangen war, ins Herrenzimmer gesetzt; der einzige Unterschied von ähnlichen Abenden bestand vielleicht darin, daß ich kein Buch und nichts anrührte; aber auch das war schon vorgekommen. Nach ein Uhr fängt die Straße an ruhiger zu werden; Gespräche beginnen als Seltenheit zu wirken; es ist hübsch, mit dem Ohr dem Vorschreiten der Nacht zu folgen. Um zwei Uhr ist Lärmen und Lachen unten schon deutlich Trunkenheit und Späte. Mir wurde bewußt, daß ich auf etwas wartete, aber ich ahnte nicht, worauf. Gegen drei Uhr, es war im Mai, fing der Himmel an lichter zu werden; ich tastete mich durch die dunkle Wohnung bis ans Schlafzimmer und legte mich geräuschlos nieder. Ich erwartete nun nichts mehr als den Schlaf und am nächsten Morgen einen Tag wie den abgelaufenen.. Ich wußte bald nicht mehr, ob ich wachte oder schlief. Zwischen den Vorhängen und den Spalten der Rolläden quoll dunkles Grün auf, dünne Bänder weißen Morgenschaums schlangen sich hindurch. Es kann mein letzter wacher Eindruck gewesen sein oder ein ruhendes Traumgesicht. Da wurde ich durch etwas Näherkommendes erweckt; Töne kamen näher. Ein-, zweimal stellte ich das schlaftrunken fest. Dann saßen sie auf dem First des Nachbarhauses und sprangen dort in die Luft wie Delphine. Ich hätte auch sagen können, wie Leuchtkugeln beim Feuerwerk; denn der Eindruck von Leuchtkugeln blieb; im Herabfallen zerplatzen sie sanft an den Fensterscheiben und sanken wie große Silbersterne in die Tiefe. Ich empfand jetzt einen zauberhaften Zustand; ich lag in meinem Bett wie eine Figur auf ihrer Grabplatte und wachte, aber ich wachte anders als bei Tage. Es ist sehr schwer zu beschreiben, aber wenn ich daran denke, ist mir, als ob mich etwas umgestülpt hätte; ich war keine Plastik mehr, sondern etwas Eingesenktes. Und das Zimmer war nicht hohl, sondern bestand aus einem Stoff, den es unter den Stoffen des Tages nicht gibt, einem schwarz durchsichtigen und schwarz zu durchfühlenden Stoff, aus dem auch ich bestand. Die Zeit rann in fieberkleinen schnellen Pulsschlägen. Weshalb sollte nicht jetzt geschehen, was sonst nie geschieht? - Es ist eine Nachtigall, was da singt! - sagte ich mir halblaut vor.
Nun gibt es ja in Berlin vielleicht mehr Nachtigallen, - fuhr Azwei fort - als ich dachte. Ich glaubte damals, es gäbe in diesem steinernen Gebirge keine, und diese sei weither zu mir geflogen. Zu mir!! - fühlte ich und richtete mich lächelnd auf. - Ein Himmelsvogel! Das gibt es also wirklich! - In einem solchen Augenblick, siehst du, ist man auf die natürlichste Weise bereit, an das Übernatürliche zu glauben; es ist, als ob man seine Kindheit in einer Zauberwelt verbracht hätte. Ich dachte unverzüglich: Ich werde der Nachtigall folgen. Leb wohl, Geliebte - dachte ich - Lebt wohl, Geliebte, Haus, Stadt...! Aber ehe ich noch von meinem Lager gestiegen war, und ehe ich mir klargemacht hatte, ob ich denn zu der Nachtigall auf die Dächer steigen oder ob ich ihr unten in den Straßen folgen wolle, war der Vogel verstummt und offenbar weitergeflogen.
Nun sang er auf einem andern Dach für einen andern Schlafenden. - Azwei dachte nach. - Du wirst annehmen, daß die Geschichte damit zu Ende ist? - Erst jetzt fing sie an, und ich weiß nicht, welches Ende sie finden soll!
(Musil S. 316 f)

Schönere Worte über den Vogelgesang habe ich noch nicht gehört: Töne, die auf dem First des Nachbarhauses saßen und in die Luft sprangen wie Delphine... oder Leuchtkugeln beim Feuerwerk... sanken wir große Silbersterne in die Tiefe." --- Das ist Robert Musil.
Und dies sind Amsel, Singdrossel und Gartengrasmücke.

4) Musik CD Tr. 6 Le Merle Noir / Haute-Provence

Es gibt neuerdings ein ausgezeichnetes Buch mit dem Titel "Musik der Welt", und ich bin dem Autor David Reck besonders dankbar für den Beginn des Kapitels "Variationen zum Thema 'Melodie'":

(Sprecher:)

Im Anfang waren die Vögel. Zumindest ist dies die Auffassung etlicher Völker der Welt, wenn es zur Frage um den Ursprung der Melodie kommt. Mit ihrem Melodienrepertoire und bunten Federkostüm haben jene Tiere die Welt geschmückt, solange der Mensch zurückdenken kann. Und gleichzeitig verbinden sich mit ihnen Visionen und Träume: das Verlangen des Menschen, sich mit seiner Seele und seinem Körper in den Himmel aufzuschwingen, die Schwerkraft zu überwinden und frei dahinzufliegen.

Sie halten es für übertrieben, vom "Melodienreichtum" der Vögel zu sprechen? Ich nicht. Das ist doch der Grund, weshalb ich so wenig im Garten leiste: weil es da so viel zu hören gibt!
Und die neuen CDs des Labels Sittelle - im Vertrieb von Fono Münster - erlauben es mir - das bilde ich mir jedenfalls ein -, diesen ganz alltäglichen Geheimnissen des Vogelgesangs endlich auf die Spur zu kommen.
Zwei dieser CDs bieten zwar gerade nicht Alltägliches: ein "Mountain Medley" aus den Französischen Alpen z.B. oder 13 Nachtigallen von Finnland bis Rumänien. Aber von der dritten könnte man das schon sagen, die Drosseln aller Art präsentiert, in 24 Takes; die ganz gewöhnliche Schwarzdrossel allein in 6 ausgewählten Prachtexemplaren, - es könnte trotzdem sein, dass Ihnen die gewohnte Drossel auf dem Nachbarhaus noch musikalischer vorkommt als diese sechs.
Doch jetzt kommt der riesige Vorteil der CD-Aufnahme: Sie können jedes Motiv drei-, vier Mal wiederholen, bis Sie es sich vollkommen eingeprägt haben. Ich bin sicher, Sie werden ein kompetenterer Zuhörer die Drossel auf dem Nachbarhaus. Hören Sie nur, was die schlichte Wiederholung eines Motivs für unser Ohr ausmacht. Wir haben die Wiederholung in diesem Fall dem Track 1 der CD dank unserer Kopier- und Schneidetechnik hinzugefügt. Sie hören also jetzt jedes Motiv zweimal. Sie können das als kleinen Lehrgang betrachten und jeweils beim zweiten Mal mitpfeifen.

5) Musik (Sonderband: Tr. 1 der CD mit Wiederholungen) 3:54

Wir sind meist etwas schwerfällig in der Erfassung musikalischer Phänomene, die mit der Aneinanderreihung kurzer Motive operieren und das Erlebnis der Abwandlung, Variantenbildung, Permutation eine ebenso wichtige Rolle spielen lassen wie das der Wiederholung, der 'ewigen Wiederkehr'.
Unsere traditionelle klassische Musik hat sich mit anderen Dingen beschäftigt und unsere Wahrnehmungsfähigkeit, unsere Aufmerksamkeit nach ihrem Muster geprägt. Aber hören Sie nur Musik anderer Kulturräume, die sich z.B. vollkommen dem Erlebnis von Wiederkehr und Abwandlung verschrieben hat.

6) Musik (Sonderband) Indische Musik 2:39

Ich spiele Ihnen jetzt ein Klavierstück vor, das sich auch auf einen bestimmten Tonbereich konzentriert, nein, eigentlich kein Stück im konventionellen Sinne, sondern eine Improvisation, - aber nicht meine Improvisation, sondern die eines Meisters, die ich Ton für Ton nachzuahmen suche, was mir nur in Grenzen gelingt, die aber auch wiederum aufschlussreich sind.

7) Musik (Sonderband Eigenaufnahme J.R.) 3:44
Klavier-Motive, die später in die entsprechenden Drossel-Motive übergehen

Sie hatten es sicher gleich geahnt, dass mein Meister in dieser Sendung wieder eine Schwarzdrossel sein muss. Sie stammt aus der Hoch-Provence, unweit von Banon; Track 2 der CD "Larger Thrushes" oder "Merles et Grives". Erinnern Sie sich an das Beispiel vorhin, in dem unsere kunstvolle Kopier- und Schneidetechnik für die Verdopplung jedes Drosselmotivs gesorgt hatte? Verzichten wir nun auf diesen Trick: Take 1 der CD! Die Drossel aus St. Martin-de-Castillon in der Provence könnte zu Ihrem Meister werden! Und später dann die auf Ihrem Nachbarhaus!

8) Musik CD Tr. 1 ca. 3:00 Le Merle Noir / Provence




Vogel-Musik:

  • CD Merles et Grives / Larger Thrushes (Jean C.Roché)
    Sittelle 42809 (HD-806)
  • CD Rossignols / A Nocturne of Nightingales (Jeab C. Roché)
    Sittelle 43608 (HD-806)
  • CD Forêts de Montagnes / Mountain Medley (Jean C.Roché)
    Sittelle 23501 (HD-806)

Zitierte Literatur:

  • David Reck
    Musik der Welt
    Hamburg 1991 ISBN 3-8077-0249-0
  • Robert Musil
    Die Amsel (1936)
    in: Sämtliche Erzählungen
    Reinbek bei Hamburg 1968



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