Es ist ein romantisches Klischee, dass die Musik uns in eine andere, womöglich bessere Welt versetzt (Schubert: "Du holde Kunst"). Für Zyniker klang das immer schon verdächtig nach Wolkenkuckucksheim. Aber selbst Musiker, die deutlich spüren, dass sie sich mit einer Materie beschäftigen, die zwar materiell nicht zu verorten, aber keineswegs irreal ist, wären wohl ratlos, wenn sie den imaginären Schauplatz ihrer Tätigkeit genauer beschreiben sollten.
Besonders gefährlich wäre es, auf die Emotionen zu verweisen, die ja zweifellos mit dem Musikerlebnis verbunden sind; die Frage ist aber gerade, auf welche Wirklichkeit sich solche Emotionen eigentlich beziehen. Jemand mag noch so sehr von Liebe erfüllt sein, - der reale Mensch, auf den sich die scheinbar weltbewegende Liebe bezieht, spielt bekanntlich eine tragende Rolle.
Wie sollte es in der Musik anders sein? Sie ist offensichtlich keine monadische Angelegenheit im Kopf der Rezipienten, kein "Privatvergnügen".
Der zu Unrecht in Vergessenheit geratene Musikdenker Victor Zuckerkandl (1896 - 1965) hat sich ein Leben lang mit dem Problem befasst: Was ist die Wirklichkeit der Musik? Er hat es in sorgfältig durchdachten Schriften behandelt und immer wieder einer Überzeugung Ausdruck gegeben, die auf den ersten Blick paradox wirkt: "Musik ereignet sich dort, wo die Sonne auf- und untergeht, wo Vögel vorüberfliegen, wo ein Ruf laut wird: außen, außer mir, nicht in mir." Der Raum, in dem sie wirklich Gestalt annimmt, ist für ihn aber nicht der Aufführungsraum, noch weniger das Innere des Menschen. Die beiden Welten, die der Körper und die der Töne, die Welt des physischen und des rein dynamischen Geschehens, ruhen in Wirklichkeit auf den gleichen Grundlagen. Die Wand, die die Töne durchstoßen, trennt also nicht zwei Welten, das heißt zwei Stufen der Realität, sondern zwei gleich reale, einander durchdringende Seinsweisen ein und derselben Welt, der Welt nämlich, die unseren Sinnen begegnet. "Man braucht sozusagen nicht den Ort zu wechseln, um von einer in die andere zu kommen. Die Töne bringen ans Licht, was die Körper verstellen." Musik als unerhörte Erkenntnisquelle!
Je mehr man sich in die vielleicht allzu stimmige Welt Zuckerkandls vertieft, desto mehr gerät man ins Staunen - über das Erscheinungsbild der "
bloßen" Töne, angefangen mit dem Dreiklang oder dem "Wunder der Oktave".
Das musikalische Kunstwerk jedoch ist wieder eine Sache für sich, - da könnte ein Blick über Zuckerkandl hinaus nützlich sein: das Phänomen "Musikalischer Sinn" wird von einigen modernen Wissenschaftlern mit ganz neuen Aspekten bedacht, weit vorsichtiger präsentiert als bei Zuckerkandl, aber nicht minder erkenntnisträchtig.