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Die Nachtigall hinter der Stirn...
Was bewegt uns in Liebesliedern: Trieb, Symbolik oder reine Empfindung?

Donnerstag 4. Oktober 2007, Altes Hallenbad, Heidelberg
im Rahmen des Projektes Fremde Liebeslieder
Initiator: Walter Nußbaum & KlangForum Heidelberg e.V.
Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.
Das ist die erste Strophe eines schönen Gedichtes von Theodor Storm. (Der junge Alban Berg hat es vertont.) Es steht in der alten Tradition der Liebeslieder, die den Gesang der Nachtigall mit der Rosenblüte in Verbindung bringt. In Persien oder in der Türkei würde man sagen: es ist Gül-bülbül-Poesie, "gül" - Rose, bülbül - Nachtigall; böse Zungen behaupten, dass diese Worte überhaupt nur wegen ihres Reimes zum großen Thema der Lyrik avancierten, vergleichbar mit unserem Wortpaar "Herz-Schmerz".
Vielleicht darf auch deshalb die Rose bei uns schon mal ihren Platz tauschen mit der Lilie oder gar der Lotosblume, zur Not auch mit den Blumen in ihrer Gesamtheit:
Und wüßten's die Blumen, die kleinen,
wie tief verwundet mein Herz,
Sie würden mit mir weinen,
Zu heilen meinen Schmerz.

Und wüßtens die Nachtigallen,
Wie ich so traurig und krank,
Sie ließen fröhlich erschallen
Erquickenden Gesang.
Nach Blumen und Nachtigallen folgen dann bei Heinrich Heine als drittes die "Sternlein", die ganze arglose Natur wird also zum Zeugen der unglücklichen Liebe angerufen.
In manchen Fällen sehen wir allerdings, dass die Blumenmetapher so arglos nicht ist: bei der Lotosblume z.B. handelt es sich um ein "unverblümt" erotisch-exotisches Gewächs: ihr "frommes Blumengesicht" steht zweifellos "pars pro toto" oder auch "pars pro parte" - wenn ich das mal so verschleiern darf. Der Mond, dem sie sich entschleiert, ist "ihr Buhle", "sie blüht und glüht und leuchtet". Die Blüte ist geöffnet, empfängnisbereit, - das wird nicht gesagt, aber gedacht, - an Stelle der Nachtigall steht merkwürdigerweise der Mond, aber er ist im Deutschen immerhin männlich. Die weibliche Sprachform des männlichen Sängers Nachtigall wird zwar nicht immer ignoriert, aber ihr Gesang ist durchaus nicht stillvergnügt aufs heimelige Nest bezogen; unüberhörbar gesellt sich dem sehnsüchtigen Ziehen ein echter "Schlag", ein "Schlagen" mit durchaus zudringlichem oder sogar aggressivem Charakter (ich zitiere):
"So soll nach einer estnischen Sage eine Nachtigall mit ihrer überlauten Stimme einen pflügenden Ochsen buchstäblich tot in die Furche gesungen haben, worauf der Bauer die Täterin bei Gott verfluchte. Der hatte ein Einsehen und pegelte den Nachtigallenschall auf angenehme Lautstärke. - Und in diesem gottgefälligen Volumen, so die Quintessenz einer maltesischen Sage, war die Nachtigall dazu ausersehen, als Künderin der Himmelskönigin Maria zu sprechen beziehungsweise zu singen."
(Lieckfeld S. 180)
In der Tat, die Nachtigall wurde nachhaltig christianisiert, vielleicht in diesem Zusammenhang auch deutlich femininisiert: "Lieb Nachtigall wach auf", Sie kennen das Lied, nicht wahr? "...lob und preise, laut und leise, sing, sing, sing dem süßen Jesulein!"

Doch kommen wir zurück zu Theodor Storm. Das merkwürdigerweise selten vertonte Gedicht ist ein Musterbeispiel für die musikalische Logik der ABA-Form: drei Strophen also, die erste kehrt Wort für Wort wieder, hat aber durch die Einfügung der Strophe B einen neuen, tieferen Sinn bekommen. (Genau so erhält auch der A-Teil der Sonate oder der Sinfonie in der Reprise einen neuen Sinn.)

Die Nachtigall (Theodor Storm)

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.

Sie war doch sonst ein wildes Blut,
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut
Und weiß nicht, was beginnen.

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.
Das Wort "Blut" taucht nicht zufällig im Zusammenhang mit dem Symbol der Rose auf, selbst wenn es hier konterkariert wird; es hat nicht nur Bezug zum Rot der Rose und der Liebe, - denken wir etwa an Hebbels Gedicht "Sommerbild":
"Ich sah des Sommers letzte Rose stehn, sie war, als ob sie bluten könne, rot."
Ein blutiges "Rot" also, das sich auf "Tod" reimen soll, während Storms Gedicht diese Tendenz beschwichtigt, das Wort "Blut" reimt sich bei ihm auf "Sommerhut": es ist kein "wildes Blut" mehr (oder auch: noch nicht?), man möchte fast von Domestizierung sprechen: sie "duldet still der Sonne Glut", nein, zweifellos nur ein vorübergehender erster Aggregatzustand der Liebe, dem ein anderer, wilderer folgen wird, und dafür spricht auch die Wiederkehr der ersten Strophe, - nach dem Sonnentag der erneute Hinweis auf die Nacht.
Eine recht vorsichtige, aber deutliche Metaphorik.

Die ewige Liebe, das Herz, das Blut, die Glut des starken Gefühls, - wir wissen, dass dieses ganze Liebesvokabular durch das Christentum eine Umdeutung erfahren hat, die sowohl ein Verschweigen und Verhüllen des Fleischlichen zur Folge hatte als auch eine Überlagerung des Psychophysischen mit erbaulichen oder salonfähigen Leerformeln.

Heinrich Heine, der die innigsten Lieder des Gül-Bülbül-Modells geschrieben und Liebesglut auf Blut gereimt hat, war zugleich ein großer Spötter, der zuweilen romantisches Dichten und Fühlen mit einem Clou umdrehte.
Im Anfang war die Nachtigall
Und sang das Wort: Züküht! Züküht!
Und wie sie sang, sproß überall
Grüngras, Violen, Apfelblüt.

Sie biß sich in die Brust, da floß
Ihr rotes Blut, und aus dem Blut
Ein schöner Rosenbaum entsproß;
Dem singt sie ihre Liebesglut.

Uns Vögel all in diesem Wald
Versöhnt das Blut aus jener Wund;
Doch wenn das Rosenlied verhallt,
Geht auch der ganze Wald zu Grund.

So spricht zu seinem Spätzelein
Im Eichennest der alte Spatz;
Die Spätzin piepet manchmal drein,
Sie hockt auf ihrem Ehrenplatz.

Sie ist ein häuslich gutes Weib
Und brütet brav und schmollet nicht;
Der Alte gibt zum Zeitvertreib
Den Kindern Glaubensunterricht.
Heinrich Heine. - Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir die Nachtigall und andere Vögel einmal selbst sprechen lassen:
1) a) Nachtigall b) Pied Butcher Bird c) Flageoletzaunkönig 2:08
Ist es die Biologie, die uns wie jene zum Singen treibt?

Der französische Philosoph Roland Barthes sagt:
"In den 'Kreisleriana' von Schumann höre ich eigentlich keine einzige Note, kein Thema, keine Grammatik, keinen Sinn, nichts, was eine irgendwie geartete intelligible Struktur des Werks wiederherzustellen erlauben würde. Nein, was ich höre, sind Schläge: ich höre das, was im Körper schlägt, was den Körper schlägt, oder besser: diesen Körper, der schlägt."
Barthes könnte natürlich sagen: der ganze Körper schlägt wie ein Herz, aber er versucht, mutigere Metaphern für das zu finden, was er an musikalischer Substanz in der Tiefe des Körpers wahrnimmt:
"Das romantische 'Herz'... ist ein starkes Organ, Extremum des Körperinneren, wo gleichzeitig und wie im Widerspruch zueinander die Begierde und die Zärtlichkeit, das Liebesverlangen und der Lockruf der Wollust sich mit Gewalt vermischen."
Und er wird noch deutlicher in der Physiologisierung ätherisch-ästhetischer Begriffe:
"'Seele', 'Gefühl' und 'Herz' sind die romantischen Namen für den Körper. Alles wird im romantischen Text klarer, wenn man den verströmenden, moralischen Begriff mit einem körperlichen, triebhaften Wort übersetzt - und nichts nimmt dabei Schaden: die romantische Musik ist gerettet, sobald der Körper zu ihr zurückkehrt..."
Was Roland Barthes zunächst auf Schumann gemünzt hat, gilt also für die ganze Epoche. Es scheint in der Tat eine Frage der Konvention, wie deutlich etwas ausgesprochen wird und ausgesprochen werden darf:
Und wenn man einmal von Goethe absieht, der in physischen Dingen nicht zimperlich war und in einem Fall sogar seinen "Meister Iste" mit Versen bedacht hat, nämlich dessen Versagen und glückliche Wiederauferstehung, so musste doch das ganze 19. Jahrhundert vorübergehen, ehe das körperliche Tabu im lyrischen Bereich gebrochen wurde, sehr vorsichtig und ausgerechnet von einem Meister der strengsten Stilisierung, Stefan George:
"Wenn ich heut nicht deinen leib berühre
wird der faden meiner seele reißen..."
Arnold Schönberg hat es vertont, und zwar mit einem merkwürdig hektischen Gestus, als sei der Faden gerade gerissen.

Es ist zu erwähnen, dass man von der "Gül-bülbül-Poesie" des Orients bisweilen auch mit leicht verächtlichem Unterton gesprochen hat. Schon der große Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall, dessen Übersetzungsarbeit "Diwan des Hafis" immerhin die große Anregung für Goethes "West-östlichen Divan" gab, schrieb: "Der Perser erstickt die Stimme der Natur, indem er den Mund mit Perlen oder Rosenblättern vollnimmt."

Da hatte sich in der europäischen Lyrik längst der Riss vollzogen, der auch "die Stimme der Natur" suspekt machte und jegliche Tradition von der Moderne trennt: mit Baudelaire und dem jungen Rimbaud, der es sich erlaubt, Théodor Banville, den Dichter der Blumen, zu verspotten:

Immer dasselbe Grünzeug in Frankreich,
Verdrossen, schwindsüchtig, lächerlich,
Durch das am Abend friedlich
Die Dackel ihren Bauch schleifen.
(Bonnefoy S. 52)
Meine Damen und Herren, der Überdruss war zweifellos ein guter Motor der westlichen Moderne, aber er ist kein guter Ratgeber in Kulturen, in denen die Tradition ein Koordinatensystem bereitstellt, das nicht in Frage gestellt wird, weil es offenbar noch jede Nuancierung erlaubt.

Hier ist der Text eines Liebesliedes aus Afghanistan, wir haben es 1974 dort aufgenommen, zweifellos Volksmusik; mir scheint aber, dass das Volk sich nicht an den Regelkanon der verordneten Sitte hält.

In deinem Nachtgewand habe ich dich
wie einen schönen Pfau gesehen,
ich sah dich fröhlich, keck und trunken vor Freude.
Besser noch ist es, deine Schönheit ohne Gewand zu sehen.
Ich freue mich, du meine Blume,
dich ohne Gewand zu sehen.
Ein Begeisterungsschrei ist
von meinem Körper ausgegangen,
Frühling der Hoffnung, als ich dich
von Kopf bis Fuß sah!
Das ist eine Sache der Liebe, du Dichter Khalil, dass ich dich im Greisenalter
mit solchen Versen im Mund, Aufruhr im Kopf und Wein im Glase antreffe!
Ein solches Gedicht hätte in die romantische Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" vermutlich keinen Einlass gefunden.

Derselbe Sänger, Mohammed Takhari aus Takhar, sang für uns auch das berühmte Farkhari-Lied, das ich Ihnen gleich anspielen werden.
Deine Gestalt ist schöner als die der Zypresse und die der Tanne.
Schön ist dein Muttermal, und deine Lippen sind schöner als Achat.
Deine Zähne übertreffen Perlen und Edelsteine.
O du singende Nachtigall im Garten! Singst du schöner als ich?
Du singst für die Blume, ich für meine Liebste,
aber weder die Blume noch die Liebste bleiben uns treu.
Da haben wir die alten Motive wieder beisammen, zur Nachtigall gehört natürlich das fröhliche Pfeifen.
Es ist verlockend, die melodische Struktur dieses Liebesliedes mit dem Inhalt in Zusammenhang zu sehen: 2 eng nebeneinander liegende Töne, der Grundton und der benachbarte höhere Ton. Bei uns heißt es von den Königskindern "Sie konnten zueinander nicht kommen"; diese aber sind einander schon sehr nah!
2) Afghanistan, Mohammed Takhari: Farkhari-Lied 0:44
Dieselbe Melodie hört man auch zu anderen Texten, zum Beispiel:
"Wenn ich vor dem Tod Angst gehabt hätte, wäre ich nicht dorthin gekommen, wo die Verliebten leiden."
So beginnt die Zwiesprache der Liebenden, doch die letzte Strophe weiß noch anderen Trost:
"Wenn ich sterbe, wascht mich mit Wein, ich war ein Freund des Weines.
Wenn ihr mich am Auferstehungstag wiedersehen wollt,
sucht mich unter Erde, vor der Tür des Weinkellers."
Ein anderes Lied beschreibt ein Mädchen, das heiratet, allerdings wohl nicht den Sänger, der seiner Phantasie freien Lauf lässt:
"Wenn du zur Hochzeit gehst, Massuma,
machst du dich und deine Haare schön.
Ich kann ohne dich nicht leben, Massuma.
Du hast schöne Locken,
deine Hose hat hübsche Muster..."
usw. er beschreibt sie noch ein paar Zeilen lang, dann plötzlich heißt es:
"Von abends bis morgens denk ich an dich, Massuma.
Wäre ich ein Opfer deiner weißen Beine, Massuma!
Gehst du baden, wäre ich doch dein Opfer, Massuma,
hast du keine Seife, könnten meine Lippen deine Seife
und meine Zähne der Bimsstein deiner Füße sein."
Und das Lied endet mit den Worten:
"Deine Augenbrauen sind wie Schlangen,
ein Wort nur will ich von dir hören,
ich warte darauf Tag und Nacht."
Wir kennen das von Schubert:
" 'Ja' heißt das eine Wörtchen, das andre heißet 'Nein'. Die beiden Wörtchen schließen die ganze Welt mir ein."
Nur die Frage, wozu "Ja" gesagt werden soll, ist unterschiedlich kaschiert.
Wir fragen uns vielleicht, wie dergleichen überhaupt im Herrschaftsbereich des Islam möglich war? Es war im Jahre 1974, lange bevor das Desaster der ganzen Region begann. Unsere Aufnahmeserie war vielleicht der letzte Querschnitt einer glücklichen musikalischen Zeit.
Der Sänger hieß Bangicha, er lebte in Khulm bei Mazar-e-Sharif. Sie sehen ihn auf dieser Afghanistan-CD im Kreise seiner Musiker. Er fand später ein schreckliches Ende: ein Taliban-Gouverneur ließ ihn festnehmen und ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen.
Er starb aber nicht etwa wegen des Inhalts bestimmter Lieder, schuldig war er schon durch die Tatsache, dass er Sänger war und dem unschuldigen Vergnügen Vorschub leistete.
Nuristan ist ein Gebiet in den Bergen Ost-Afghanistans, in dem der Islam erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde. (Vorher: Kafiristan).
Solche Liebeslieder hatte ich auch in Afghanistan bis dahin nicht gehört. Die Sängerin Bibi Zulaika singt mit ihrem halbwüchsigen Sohn.
3) Afghanistan, Bibi Suleika aus Nuristan (Sprecherin:Gisela Claudius) 1:18
"Oh, du junger Mann! Spiel nicht mit meinem Leben.
Ich bin verheiratet und mein Mann beobachtet mich.
Es ist unmöglich, dass wir uns wiedersehen.
Geh und lass mich in Ruhe!"
(...)
Ich bin eine verheiratete Frau.
Ich bin keine freie Frau.
Doch ich möchte dich gern sehen
und mit dir über unsere Liebe sprechen
und dir etwas von meinem Herzen sagen.
Ich bin keine freie Frau, ich bin verheiratet.
(...)
Mein Herz ist wie eine rote Blume.
Ich habe ein wundes Herz ohne Liebe. Hätte ich doch nie geheiratet.
Wäre ich doch wie ein Mädchen oder wie eine Witwe zuhaus geblieben!"
Auch das folgende Liebeslied aus Nuristan kann ich Ihnen nicht vorenthalten, zumal es ein Liebeslied ist, das von drei Kindern gesungen wird.
"Oh, meine Geliebte! Du bist so hübsch wie ein Pfau.
Diese lange Nacht geht nicht zuende, und mein Pfau steht fortwährend vor meinen Augen."
4) Afghanistan, drei Kinder aus Nuristan 0:27
In dem Lied an das Mädchen Massuma haben wir gehört, dass der Sänger gern Opfer ihrer weißen Beine würde und dass er ihr, falls sie badet, vorsorglich seine Lippen als Seife, seine Zähne als Bimsstein anbietet.
Ich vermute, dass solche Gedanken in der hohen Lyrik fehlen: da ist vom Feuer die Rede, das in der Seele brennt. Selbst Béla Bartók, "der mit einer wunderbar minutiösen Sorgfalt die rauhe Oberfläche tausender Melodien der Volksmusik nachzeichnete" (Rw 1983), setzte neben den Liedtext eines ungarischen Schäfers die Warnung: nicht zur Veröffentlichung: es handelt sich um das Betasten eines weißen Schenkels.

Ich zitiere die erste Strophe:

"Flusswasser liebt den Abhang, nicht die Höhe,/ mein lieber Engel, deine Schenkel sind sehr weiß. / Wenn ich sie berühre, niemand sollte es wissen, / Mein lieber Engel, deine Schenkel sind sehr weiß."
(Nach der engl.Übs. JR)
In der zweiten Strophe ist bereits vom Baby die Rede, das nicht getauft werden kann, weil ein Vikar, ein Pate und auch das Geld fehlen. Der Kodex ist also nicht einmal in Frage gestellt.

Wen wundert es, dass Bartóks Oper "Herzog Blaubarts Burg" wenig über das Triebleben des Frauenmörders aussagt, vielmehr "die Gewölbe unseres Herzens" freilegen will, am Ende aber "durch die letzten Pforten schreiten / Öffnend in Unendlichkeiten, / Wo wir in uns selbst - verwehn." (Prolog)

Da war doch schon Jacques Offenbach in seiner Blaubart-Operette deutlicher:
(BLAUBART:)
"Mich hält gefangen heißes Verlangen,
ein heiß' Verlangen hält mich gefangen
nach einem schönen, blonden Kind,
das ich noch eh' der Tag verinnt
mir als sieb'te Frau will fangen!"
Auch im Volkslied - bei aller Symbolik - verwehn wir nicht in Unendlichkeiten.
Über den "Tristan" wäre hier übrigens ein Extra-Kapitel einzufügen, Fazit:
"...in des Weltatems wehendem All - ertrinken, versinken...":
In jener Zeit plante Wagner ganz konkret auch eine theoretische Entgegnung auf Schopenhauers "Metaphysik der Geschlechtsliebe", er machte sich daran, den
"Heilsweg zur vollkommenen Beruhigung des Willens durch die Liebe, und zwar nicht einer abstrakten Menschenliebe, sondern der wirklich aus dem Grunde der Geschlechtsliebe, d.h. der Neigung zwischen Mann und Weib keimenden Liebe nachzuweisen." (Zitatende)
1. Dez. 1858
Vollkommene Beruhigung: so verweht das Physische im Metaphysischen.

Wahrscheinlich muss man grundsätzlich unterscheiden zwischen dem idealistischen, überhöhenden Symbolgebrauch der Oberschicht und der realistischen Metaphorik der Unterschicht, die genau weiß, was sie mit Worten verhüllt.
Um beim Verwehen zu bleiben:

"Ich hab mir mein Weizen am Berge gesät, hat mir'n der böhmische Wind verweht."
Was es damit auf sich hat, deutet die übernächste Strophe an:
"Der Apfel ist sauer, ich mag ihn nicht"
- es hätte Evas Apfel der Verführung gewesen sein können - aber das Lied fährt unvermittelt fort:
"'s Mädel ist falsch, ich trau ihr nicht."
Auch sonst vergleicht der Mann, der über Untreue oder Fremdgehen klagt, "seine Mühe mit dem Mißerfolg des Bauern, der durch ein Unwetter Schaden leidet" (Meinel S.168).
"Hätt mir zur Freuden ausgesät,
Ein Ander hat mirs abgemäht..."
Oder es heißt:
"I han es Hämpfeli Haber g'streut,
Do chund de Wind und het's vertreit..."
Nichts anderes besagt das Lied:
"Ich hab mir einen Garten gepflanzet
Von Rosen und gelbem Klee"
In der nächsten Strophe ist er von Unkraut überwachsen:
Und das
".... ist mir gerathen im Mondenschein,
Da ich und mein Herzliebchen bei'nander sein."
Was auch immer da passiert sein mag.

Die Volkskundlerin Gertraud Meinel hat die Pflanzenmetaphorik genauer untersucht, sie schreibt:

"... wenn im Lied von 'Gras schneiden' und 'Korn schneiden' die Rede ist, von 'Blumen brechen' und 'Zweig brechen oder von 'Brombeeren pflücken' und 'Pflaumen pflücken', von 'Äpfeln schütteln' und 'Nüsse schütteln' etc., immer haben die Metaphern dieselbe Bedeutung von Liebesbegegnung und sexueller Vereinigung, obwohl die in ihnen genannten Pflanzen eine ganz unterschiedliche Symbolik besitzen können."
(Meinel S. 164)
"'Ach Mutter, ich bin im Rosengarten gewesen,
Da hab ich mir einen Dorn in den Fuß getreten.'-
(Sagt die Mutter:)
"Ja wohl einen Dorn in den linken Fuß,
Davon du dreiviertel Jahr hinken mußt.'
Da weinte das Mädchen so sehre."
"...dreiviertel Jahr" - das heißt 9 Monate!
"Die wichtigsten Pflanzenmetaphern, die das Sommerglück umschreiben, sind 'Rosen brechen' und 'Kranz winden'. Das Überreichen eines Kranzes beim Tanz galt als Zusage des Mädchens" (...) (S. 171),
sie verliert ihn - er erscheint auch als Jungfernkranz - und sie erhält ihn womöglich in recht veränderter Form zurück:
"Onn wi dray Vietel Joer eimm woer,
Dar Kranz hôt sich gefounde;
So honn ien ai a Wigle gelät,
Meit gruner Said eimmwounde..." (aus dem Kuhländchen)
(S. 172)
Auf Hochdeutsch:
"Und wie dreiviertel Jahr um war / Der Kranz hat sich gefunden;
Sie hat (haben?) ihn in ein Wieglein gelegt, / Mit grüner Seid' umwunden."



"Es wollt ein Meyer meyen, / Wollt meyen auff grüner Heyd, / Was trug er auff sein Rücken? / Ein Sänsslein, das war breit, / Damit wollt er abmeyen / All Blümlein auff grüner Heyd"
- dies ist ein Lied, das in älteren Liederbüchern noch ganz harmlos dastand, es wanderte 1925 in die Berliner Sammlung "Das schamlose Volkslied"; man hatte bemerkt, was sich hinter dem fröhlichen Landmann verbarg: das Lied besteht "praktisch nur aus erotischen Metaphern" (Meinel S. 165 f).

Aber schamlos ist es keineswegs, sonst würden ja keine Metaphern gebraucht.

Metaphern haben nicht nur den Sinn, gesellschaftlich Tabuiertes wie z.B. Sexualität, Defloration, Schwangerschaft, Geburt usw. zu verhüllen und ins Privateste zu verbannen (wie in der Oberschicht):
"Durch die Pflanzenmetaphorik (sagt Gertraud Meinel) wird das menschliche Geschick (also) nicht von den Geschehnissen der Natur als grundlegend verschieden, anders- oder sogar einzigartig abgehoben, sondern vielmehr bewußt in den größeren Zusammenhang eingeordnet. Dadurch kann es verständlicher, verzeihlicher und für den einzelnen auch erträglicher werden, wenn er sich im Einklang mit dem ihn umgebenden Leben und seinem ewigen Kreislauf weiß."
(Meinel S. 164)
Nach unserer Aufnahmereise in Afghanistan 1974, die eine erstaunlich große Anzahl von Liebesliedern ergab, kamen wir, d.h. ein Ton-Ingenieur und ich, fünf Jahre später nach Sri Lanka und wunderten uns, wie wenig Lieder sich hier mit diesem Thema beschäftigten.
Ich erinnere mich an ein einziges tamilisches Lied, das sich auf eine entsprechende mythologische Angelegenheit bezog: eine Menschenfrau beklagt den Tod ihres Löwenmannes, zweifellos eine Liebesklage, von einer jungen Frau sehr ergreifend gesungen.
Aber im Kontrast dazu hat mich eine ganz andere Szene um so merkwürdiger berührt: in einem sinhalesischen Dorf begegnete uns ein Sänger, der gemeinsam mit 4 Mädchen sein Repertoire vortrug und dann die einzelnen Lieder erläuterte. Eins davon erzählt von einem Eremiten, der sich durch eine Blume in seiner Meditation gestört fühlt, - warum? Ihre Blüte gleicht nicht nur dem weiblichen Geschlechtsteil, beide tragen auch den gleichen Namen.
Er erzählte es genauso, als wenn es sich um irgendein Lied beim Reispflanzen handelte. Warum auch nicht. Die Grenzen verlaufen dort anders als bei uns, aber ist nicht in Melodie und Vortrag nicht doch - milde gesagt - von entwaffnender Harmlosigkeit?
5) Sri Lanka "Narilata Sinduva" 1:03
Die Irritation in der Begegnung unserer Kulturen beruht u.a. auf den unterschiedlichen Strategien des Verhüllens und des Entblößens, des Verschweigens und des Offenbarens.
Wenn der Gott Krishna sagt: "Ich bin die Lust, die alles erschaffen hat", so hat das mit unserer Libertinage nicht das Geringste zu tun.

Es gibt einige Rätsel in der Vorstellungswelt Indiens, die wir in diesem Vortrag über Liebeslieder sicher nicht auflösen werden.
Wir wissen einerseits, dass der indischen Gesellschaft die moralische Bedenkenlosigkeit des modernen Westens völlig fremd ist; man sieht in den zahllosen Liebesfilmen aus Bombay keinen entblößten Körper, es ist geradezu Gesetz, dass Liebesszenen vor dem Kuss ausgeblendet werden. Es gibt auch keine Bikini-Schönheiten am Strand des Indischen Ozeans; Frauen, die auf sich halten, begeben sich in ein Gewand gehüllt ins Wasser.
Wie passt das zusammen mit der freizügigen Darstellung sich liebender Körper an indischen Tempeln? Auch der heutige Inder kennt sein Kamasutra und die entsprechenden Skulpturen der Tempel von Khajuraho oder Konarak. Unübersehbar auch die zahllosen Lingam-Säulen, das Phallussymbol, oft ergänzt durch den weiblichen Widerpart:

"Die Yoni-Lingam-Skulptur versinnbildlicht den Schöpfungsakt. Sie verweist auf die Vereinigung des Gottes Shiva mit Shakti, seinem weiblichen Aspekt. Shiva wird durch einen Phallus (Lingam) und Shakti durch eine Vulva (Yoni) symbolisiert. Beide Zeichen können auch einzeln dargestellt sein. Wenn nur ein Shiva-Lingam abgebildet wird, ist damit das Prinzip der Ruhe gemeint. Erst Shakti bewegt den meditierenden Gott, sie ist das energetische Prinzip. Die Verschmelzung der beiden Aspekte wird zum Sinnbild der Schöpfung als neue Einheit aus aktiven und passiven Wesenszügen."
(Ausstellung "Altäre - Kunst zum Niederknien" 2001/2002 im "museum kunst palast" Düsseldorf)
Wie also lässt sich dieses visualisierende Prinzip praller Symbole mit der vorherrschenden Prüderie des Verhüllens vereinbaren? Die Inder selbst verweisen vielleicht auf den Einfluss des Islam oder auf die viktorianischen Engländer, wahrscheinlich gab es aber schon entsprechende Brahmanen-Gebote,- und die uralte Polarität, die der indischen Weltanschauung eigen ist:
Einerseits gibt es keine Verteufelung der Sinnlichkeit (etwa nach dem christlichen Sündenprinzip), so dass auch die Liebeskunst im antiken Sinn ihre Unschuld behält, andererseits gibt es diesen unerschütterlichen Glauben an eine höhere Ebene der Wirklichkeit, der man allein über Spiritualität und Askese teilhaftig wird.

Aber es gibt die merkwürdigsten Zwischenstufen: wenn man z.B. die neue Bibel der auch im Westen weit verbreiteten Krishna-Bewegung liest, bemerkt man die fortwährende Tendenz, den Lust-Aspekt Krishnas ins Transzendente abzubiegen: Das ist gar nicht so einfach, denn Krishnas Flötenspiel bezaubert die Gopis, die Hirtinnen, nicht nur rein musikalisch. Dass er ihnen beim Nacktbaden auflauerte, ihre Kleider stahl und sie auf diese Weise neckisch zwang, unbekleidet vor ihm zu erscheinen, - dies Spiel wird durch fromme Deutung nur mühsam im Lustfaktor gemildert.

An anderer Stelle wird der heilige Tanz des Gottes mit den Gopis beschrieben:
"Als Krsna die verschiedenen Teile ihres Körpers berührte, fühlten die Gopis, wie sie von spiritueller Energie durchdrungen wurden. Sie versuchten vergeblich, ihre gelockerten Kleider wieder richtig anzuziehen. Ihr Haar und ihre Kleider gerieten durcheinander, und auch ihr Schmuck löste sich, als sie sich völlig Krsnas Gemeinschaft hingaben und alles andere vergaßen." (S.216)
Wenig später wird versichert, was das Wunderbarste an Krsnas Spielen mit den Gopis war: "daß es dabei nicht die geringste Spur von sexuellem Verlangen gab." (S.217)
An anderer Stelle wird allerdings dergleichen eingeräumt, aber ausdrücklich auf "die sittenlosen Eingeborenenmädchen" bezogen; die sahen das von seinen Lotosfüßen gefallene rötliche Pulver auf dem Waldboden, rieben sich damit ein und waren augenblicklich zufriedengestellt.

Ich möchte Ihnen jetzt ein Liebeslied aus Rajasthan vorspielen, vorgetragen von einer umwerfenden Militärkapelle, aus deren schneidig auftrumpfenden Gebärden sich eine bezaubernde Sopranstimme windet, womöglich genau die eines "sittenlosen Eingeborenenmädchens".
Meine Damen und Herren, lassen Sie sich um Gottes willen nicht durch grob-sinnliche Elemente ablenken: versuchen Sie doch wahrzunehmen, was die tonalen Verhältnisse der Musik über die emotionale Situation aussagen.

"Die Abenddämmerung naht. Enttäusche mich nicht, ich warte auf dich."
6) Rajasthan "Shyam Bhaee" 1.Teil 1:14
Es ist eine unerhörte Spannung in diese Tonfolgen eingebaut, die so selbstverständlich daherkommen, als stünden sie ganz sicher auf der Basis des Grundtons, obwohl sie ihn permanent in Frage stellen.
etc. etc. (vorweg durch Singen andeuten!)
7) Rajasthan "Shyam Bhaee" 2.Teil 1:03
Genau so geht es in manchen großen Ragas der indischen Kunstmusik zu.
Von dem frommen und meditativen Raga Lalit heißt es in einer Fussnote, er gleiche einem bezaubernden jungen Mann, der seine Frau betrügt. Nach der Liebesnacht mit seiner Geliebten kehrt er im Morgengrauen nach Haus zurück.

Wer also wagt es, Lug und Trug in der Struktur des Ragas Lalit wahrzunehmen? Gleich wird eine einzige große Phrase zu hören sein, und Sie werden feststellen, dass er auch noch betörend schön ist.
Aber er wird an anderer Stelle glücklicherweise auch noch etwas anders beschrieben: Als eine Göttin, deren Stimme mit dem Ruf des Kuckucks am Frühlingsmorgen verwechselt werden kann. Der Mond verlässt den Himmelsraum, nimmt die Form ihres Gesichtes an und glänzt als kostbare Ambrosia auf ihren Lippen. Lalita tritt aus ihrem Gemach und hält Ausschau nach ihrem Geliebten; sie wartet auf Vereinigung mit ihm. Der Kommentator ergänzt: das bedeutet, die Melodie sucht die Töne Dha, Ni, Sa, Ga und Ma.
Sa ist der Grundton, Sie werden ihn gleich zu Anfang als ewigen Dauerton hören, als Bordun, dann aber beginnt die Melodie der Flöte und sie spielt genau unterhalb und oberhalb dieses Grundtons, berührt ihn sehr kurz, er ist gewissermaßen für sie nicht wirklich da. (Ein Neapolitaner, der sich nicht auflösen will!) Sie konzentriert sich dagegen auf einen anderen - konsonanten - Ton, eine Quart höher, und umgibt ihn mit einer sehnsüchtigen Glissando-Geste.
Diese Grundfigur des Ragas Lalit oder Lalita ist sozusagen das strukturell eingearbeitete Liebesmotiv.

8) Hariprasad Chaurasia "Raga Lalit" 1:16
Die Theorie ist hochkomplex, ich habe nur eine winzige Andeutung gegeben.
Ein Zwielicht also, die Sehnsucht (ein Zustand zwischen Bangen und Hoffen), die gespannte Relation zwischen zwei Tönen oder Tonreihen.
Natürlich enthält ein solcher Raga keine Story, und wenn man im Fall des Ragas Lalita zuweilen eine problematische Dreiecksgeschichte suggeriert, so liegt das daran, dass man bildliche Darstellungen gesehen hat, die von den Gefühlen dieses Ragas inspiriert sind: die expressive melodische Entfaltung seines klar definierten Tonvorrats kann und soll ja Gefühle auslösen, und offenbar nicht nur harmonische, meditative, sondern auch zwiespältige. Natürlich, - der ewige Grundton im Hintergrund scheint Ruhe und Frieden zu verströmen, aber in dem Moment, wo man spürt, dass die Melodie den Grundton überspringt und auf dissonanten Intervallen verweilt, fragt sich der aufmerksame Hörer: "Was geht hier vor? Welche Töne werden statt des Grundtons favorisiert, woher kommt dieses merkwürdige tonale Schwindelgefühl?"
Die indische Musik setzt darauf, dass die Hörer tonale Spannungen sehr präzise wahrnehmen. Ähnliches wird in unserer Musik von uns erwartet, aber da sie uns völlig vertraut erscheint, spürt man diesen Anspruch vielleicht nicht so. Z.B. in dem folgenden Thema von Anton Bruckner, in dem seine Verehrer eine überwältigende metaphysische Spannung wahrgenommen haben, - da ist ein Mensch, der das Allerheiligste schaut!
Ein Halbton oberhalb, ein Halbton unterhalb, und eine allumfassende Geste.
9) Anton Bruckner VIII. Sinfonie Adagio 2:02
Bruckner selbst hat nicht vom Allerheiligsten gesprochen, er meinte zu diesem Thema: "Da hab' ich zu tief in ein Mädchenauge geblickt".
(s. Floros S. 197: "Werner Wolff, der diese 'Erläuterung' - zu Recht - reichlich unangemessen findet, fragt: 'Haben wir alle den Ausdruck dieser ergreifenden Melodie seit ihrer Entstehung mißverstanden?'")

Wir bleiben beim Liebeslied in seiner Vielgestaltigkeit. Und Sie werden sehen, - so fern auch die Region liegt, der wir uns zuwenden -, der Anfang des Bruckner-Thema klingt in uns nach.
Nicht weit vom Dach der Welt, in der Pamirprovinz Badakhshan gibt es ein Melodiemodell, das ausschließlich für Liebeslieder gebraucht wird, es heißt "Dargilik" - "Lied der Trennung", es kann auch die Trennung von einem nahen Verwandten betreffen, in einer andern Region heißt es "Bulbulik" - "Lied der Nachtigall", - und die Nachtigall ist, wie wir wissen, ein Symbol des Liebenden, der die Trennung von der Geliebten beklagt.
Es gibt darin eine merkwürdige Polarität zwischen zwei Tönen, und vor allem eine zusätzliche mikrotonale Spannung, die in diesem ersten Beispiel noch weniger hervortritt, - zwei Töne!

10) Bulbulik (von 2 Stimmen unisono gesungen) 0:50
Das ist die einfachste Version.
Und nun folgt die künstlerische Entfaltung dieses Modells bei einem professionellen Ensemble dieser Region, nur ein paar Auszüge; die ganze Aufnahme dauert fast 9 Minuten.
Hier ist der Anfang:
11) Dargilik Einleitung (freier Rhythmus) 1:17
Jetzt greifen wir die Stelle heraus, an der zum erstenmal ein auffällig mikrotonal abweichender Ton erscheint. Wie wesentlich er ist, das erkennen Sie schon daran, dass er nicht nur auf einem Saiteninstrument erscheint, sondern auf dem Akkordeon fest installiert ist.
12) Dargilik Forts. (rhythm.) 1:32
Es gibt eine ekstatische Lösung dieser Spannungen, das Tempo steigert sich, inhaltlich wandelt sich der Gegenstand des Liedes - wenn ich dem Bookletkommentar glauben darf - von einem geliebten Kind zu einem geliebten jungen Mann.
13) Dargilik Forts. (schneller) 1:13
Zwei Pole also, einer der scheinbar ruht, einer der ihn in Frage stellt. Oder auch nur: irritiert. Es ist - die Alterität, das "Andere", auch: der oder die Andere. Nicht unbedingt eine rein musikalische Angelegenheit. Aber, meine Damen und Herren, man könnte natürlich zweifeln, "ob dies alles wirklich so gemeint ist". Beziehungsweise: ob dies den Beteiligten wirklich bewusst ist.
Nein, vielleicht denken sie nur: das passt! Zu mir und zur Liebe! Diese Melodie existiert nicht umsonst. Sie hat sich schon bei unsern Großeltern bewährt.
Es ist etwas, was uns alle verbindet, etwas Umfassenderes, Allgemeineres als die eine private Liebe.
14) Vogelgesang (Sprosser) beginnt und bleibt unter Text bis Ende 3:13
Man könnte auch sagen: diese Spannung ist in allen Dingen, die leben : da ist das warme Sonnenlicht und das feuchte Dunkel des Erdreichs, die ganz nach außen gewandte Pflanze. Auch die kugelförmig geschlossene Hülle des Tieres, das über Körperöffnungen und die Haut mit der Außenwelt kommuniziert, ein Innen und Außen. Schließlich der Mensch, der in exzessivem Maße eine Innenwelt pflegt, ohne der Welt abhanden kommen zu können.
Eine Weile lang wollte man seine Innenwelt psychoanalytisch aufdecken, bewusst machen, auf dass man Herr im eigenen Hause wird. Im gemeinsamen Haus des Bewussten und des Unbewussten. "Wo Es war, soll Ich werden."
Heute besteht die Tendenz, dass man alles gehirnphysiologisch dingfest zu machen sucht. Das war auch kritisch angepeilt mit dem Titel dieses Vortrags: Die Nachtigall hinter der Stirn (oder wo auch immer), der physiologische Sitz des Triebs, der uns singen, Madrigale erfinden und Sinfonien schreiben lässt.

Um wenigstens zum Schluss auch wieder auf die Nachtigall selbst zurückzukommen:
Von verschiedenen Philosophen wurde vehement abgestritten, dass der Gesang der Vögel irgendetwas mit Musik zu tun habe, wir selbst seien es, die alles hineinlegen.
Aber es sind doch Töne und Motive, die vom Singvogel oder der ihm innewohnenden Natur ausgewählt wurden, und sie folgen nicht willkürlich aufeinander, manches bleibt gleich, manches verändert sich, und ein Prinzip der Selektivität waltet zweifellos darin. Es gibt Dialoge, Wechselgesänge, sie hören einander zu, respektieren durch Rufe und Gesang markierte Reviere, und es besteht Grund zur Annahme, dass die Weibchen sich durch die kreative, variative Fähigkeit der singenden Männchen beeindrucken lassen.

Wir müssen nicht sagen "Die Nachtigall klagt" (sie klagt nicht!), richtig aber bleibt: "Die Nachtigall singt".
Und das soll uns nicht bewegen?
Dass dieses Prinzip, mit sorgfältig ausgewählten Tönen Verbindungen unter den Lebewesen zu schaffen, in der Geschichte der Evolution zweimal erfunden wurde? Und auch nicht ausgeschlossen ist, dass das ältere System der Vögel uns Menschen erst angeregt hat, - wie es übrigens ein hochdifferenzierter Mythos der Kaluli auf Papua-Neuguinea nahelegen will.

Das alles motiviert doch auch uns: wir markieren unser Ich, unsere Individualität, versuchen die Frauen zu beeindrucken, (nicht weniger diese allerdings auch uns Männer), vor allem aber auch: all dies musikalisch auszudifferenzieren- möglicherweise weil es der Differenzierung unseres Gehirns auf wunderbare Weise entspricht, wir versuchen in Symbolen zu sprechen, Metaphern zu verwenden, die - ob sie nun auf Sexuelles verweisen oder partout nicht, aber dann doch auch in einer reinen Metaphernwelt ein wunderbares Sinngewebe ergeben, und am Ende - Tonstrukturen, die all dies in sich enthalten. Wir können von hier nach dort wandern, ohne dass irgendeine Ebene ausschließliche Geltung beanspruchen kann, weder die fleischliche noch die des ätherischen Verwehens. Und das kleine Gebilde eines Liebesliedes kann uns ebenso bewegen wie ein anderthalbstündiger Raga oder eine abendfüllende Oper.

Die drei Strophen des Nachtigallenliedes von Storm bewegen uns vielleicht ebenso wie die drei Akte des Tristan: dort erscheint statt der Polarität von Nachtigall und Mädchen oder Rose nun die von Ich und Du, - und statt der Wiederkehr des Teiles A haben wir im Tristan die Andeutung einer finalen Lösung. Die drei Aufzüge gipfeln in den Formeln:
I)
"Du mir einzig bewußt,
höchste Liebeslust."

II)
Nicht mehr Tristan, nicht mehr Isolde -
"Einbewußt: (...) höchste Liebeslust"

III)
[Tristan ist tot, und Isolde stirbt ihm nach mit den Worten:]
"Ertrinken, versinken, -
unbewußt, -
höchste Lust"
Sehen Sie? Sogar die Liebe ist am Ende gestrichen, im nur so genannten "Liebestod", alles aufgelöst... in Weltatems wehendem All.

Aber nun die Hauptsache: die Wagnersche Musik ist uns erhalten geblieben, sie lebt unerhört weiter!!! Gerade "Tristan und Isolde"!

Wir wollen also nicht zu ätherisch enden, sondern lieber etwas handfester (denken Sie an den Schlag der Nachtigall und an das Schlagen der Laute):

Der palästinensische Musiker Adnan Joubran, ein Virtuose der arabischen Laute Oud, erzählt:
" Das erste Mal hielt ich eine Oud in der Hand, weil ich sehr verliebt war. Es war, als wollte ich der ganzen Welt meine große Liebe zeigen. Ich liebte meine Freundin so sehr, dass ich ein Oud-Spieler werden wollte."
Und auf einer ganz anderen Ebene (zugegeben: dieses Beispiel stammt aus dem Kabarettprogramm meines Neffen Lars Reichow, es ist der Schluss eines herrlich unbeholfenen Liebesbriefes):
"Liebe Susanne,
für Dich haue ich das ganze Palm Beach zusammen.
Dein Michael "
Immer die gleiche Logik, aber doch auch wieder nicht ganz vergleichbar!

Ich danke Ihnen.

Zitierte oder konsultierte Literatur

  • Roland Barthes
    Was singt mir, der ich höre, in meinem Körper das Lied
    Merve Verlag Berlin 1979
    ISBN 388396-008-X

  • Roland Barthes
    Fragmente einer Sprache der Liebe
    Frankfurt am Main 1977
    ISBN 978-3-518-38086-4

  • Béla Bartók
    Herzog Blaubarts Burg
    Universal Edition Wien 1925 / Boosey & Hawkes 1952

  • Yves Bonnefoy
    Arthur Rimbaud in Bildzeugnissen und Bilddokumenten
    Reinbek bei Hamburg 1962

  • Urvashi Butalia (Hrsg.): Frauen in Indien - Erzählungen
    dtv München 2006 ISBN 3-423-13508-5

  • Peter Dronke
    Die Lyrik des Mittelalters - Eine Einführung
    dtv München 1973

  • Ottmar Ette / Gertrud Lehnert (Hrsg.)
    Große Gefühle - Ein Kaleidoskop
    darin (u.a.) Hans-Christian Stillmark
    Vom Umschlag der Gefühle (S. 12 - 32)
    Kadmos Verlag Berlin 2007
    ISBN 3-86599-006-1

  • Steven Feld
    Sound and Sentiment - Birds, Weeping, Poetics, and Song in Kaluli Expression
    University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1982
    ISBN 0-8122-1124-3

  • Constantin Floros
    Brahms und Bruckner
    Wiesbaden 1980
    ISBN 3-7651-0172-9

  • Eva Illouz
    Der Konsum der Romantik - Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus
    Campus Verlag Frankfurt/New York 1997
    ISBN 3-593-37201-0

  • Sudhir & Katharina Kakar
    Die Inder - Porträt einer Gesellschaft
    Verlag C.H. Beck München 2006
    ISBN 3-406-54969-1

  • Walter Kaufmann
    The Ragas of North India Bloomington / London 1968

  • Claus-Peter Lieckfeld / Veronika Straaß
    Mythos Vogel - Geschichte / Legenden / 40 Vogelportraits
    München 2002
    ISBN 3-405-16108-8

  • Heinrich Lindlar
    Lübbes Bartók Lexikon Bergisch Gladbach 1984
    ISBN 3-7857-0362-7

  • Niklas Luhmann
    Liebe als Passion - Zur Codierung von Intimität
    Suhrkamp Frankfurt am Main 1982
    ISBN 3-518-06747-8

  • Laura Macy
    Speaking of Sex - Metaphor and Performance in the Italian Madrigalin: The Journal of Musicology XIV 1 Winter 1996 (S. 1 - 35)

  • Abdul Wahab Madadi (Übersetzung)
    Afghanische Volklieder (ungedruckt)
    Köln 1974

  • Gertraud Meinel
    Pflanzenmetaphorik im Volkslied
    in: Jahrbuch für Volksliedforschung (Festschrift für Lutz Röhrich zum 60. Geburtstag) 1982/83
    Erich Schmidt Verlag Berlin (S. 162 - 174)

  • Geoffrey F. Miller
    Evolution of Human Music through Sexual Selection
    (London 2000) [als html-Version im Internet]
    / print publ. in: N. L. Wallin, B. Merker, & S. Brown (Eds.), The origins of music, MIT Press (pp. 329 - 360)

  • Friedrich Pohlmann
    Liebe, Erotik und Sexualität - Zur Anthropologie der Geschlechterbeziehung
    SWR2 Essay 22.05.2007 (Skript)

  • Bhaktivedanta Swami Prabhupada
    Krsna - Die Quelle der Freude
    1987 The Bhaktivedanta Book Trust
    ISBN 0-89213-083-0

  • Walter Reese-Schäfer
    Niklas Luhmann zur Einführung
    Junius Verlag Hamburg 5/2005
    ISBN 3-88506-305-0

  • Jan Reichow
    Die literarischen und philosophischen Anregungen zu Wagners "Tristan" und ihre Wiedergabe bzw. Umbildung in diesem Werk
    Staatsarbeit (ungedruckt), Köln 1964

  • Birgitt Röttger-Rössler und Eva-Maria Engelen (Hrsg.)
    "Tell me about love" - Kultur und Natur der Liebe
    Verlag mentis Paderborn 2006
    ISBN 3-89785-556-9

  • Michael Rüsenberg
    Ist Musik ein evolutionäres Produkt sexueller Auswahl? Ein Ausflug in die Bio-Musikologie (betr. u.a. Geoffrey Miller)
    HR2 17.11.2004 (Skript)

  • Annemarie Schimmel
    Rose und Nachtigall
    in: Numen, Vol. 5, No. 2 Apr.1958 (pp. 85 - 109)

  • Gerhard Schweizer
    INDIEN - Ein Kontinent im Umbruch
    Klett-Cotta Stuttgart 1995
    ISBN 3-608-91410-2

WDR-Sendungen von Jan Reichow:

  • 14.12.2001 Open Freiraum (55' WDR 3 JR gemeinsam mit Abdul Wahab Madadi)
    "Wir sind das afghanische Volk" Stimmen aus der Vergangenheit"

  • 30.01.2002 Musikpassagen (115' WDR 3) "Körper, Trieb, Gewalt und Geist - Was die Musik zusammenhält..."

  • 24.04.2002 Musikpassagen (115' WDR 3) "Gespaltene Gefühle: Von Lug und Trug (und ewiger Liebe)"

Zitierte Tonaufnahmen

  • 1) Vogelstimmen 2:08
    a) Rossignols en Bourgogne Jean C. Roché: "A Nocturne of Nightingales"
    Sitelle Réf. 43608 (1991)
    b) Dawn Solo from Pied Butcherbirds of Spirey Creek (Australia)
    rec. by David Lumsdaine "Mutawinji" Tall Poppies TP 091
    c) Flageoletzaunkönig (Cyphorinus arada)
    Jean C. Roché Kassette "Die schönsten Vogelstimmen der Welt"
    Kosmos Best.Nr. 3-440 05957, Stuttgart 1988

  • 2) Afganistan: "Farkhari-Lied" mit Mohammed Tahari aus Tahar 0:44
    "Deine Gestalt ist schöner als die der Zypresse" (darin: "Bulbul" und Pfeifen)
    Afghanistan - Traditional Musicians - A Journey to an unknown musical world
    World Network (Zweitausendeins) 56986 (LC6759)
    Reichow/Gallia WDR-Aufnahmen 1974

  • 3) Afghanistan: "Oh du junger Mann" Bibi Suleika aus Nuristan 1:18
    Afghanistan - Traditional Musicians - A Journey to an unknown musical world
    World Network (Zweitausendeins) 56986 (LC6759)
    Reichow/Gallia WDR-Aufnahmen 1974

  • 4) Afghanistan: "Oh meine Geliebte" Drei Kinder aus Nuristan 0:40
    Afghanistan - Traditional Musicians - A Journey to an unknown musical world World Network (Zweitausendeins) 56986 (LC6759)
    Reichow/Gallia WDR-Aufnahmen 1974

  • 5) Sri Lanka "Narilata Sinduva" 1:03
    WDR-Aufnahme Reichow/Gallia Sänger & 4 Mädchen (Chor) 6.2.1979

  • 6) Rajasthan "Shyam Bhaee" 1.Teil 1:14
    (La tombée du jour / Nightfall) Le soir arrive, ne me deçois pas, je t'attends.
    Jaipur Kawa Brass Band Fanfare du Rajasthan (Hameer Khan) 1997
    CD Kardium KAR 077

  • 7) Rajasthan "Shyam Bhaee" 2.Teil 1:03

  • 8) Hariprasad Chaurasia: Raag Lalit 1:10
    Chhanda Dhara Stuttgart SNCD 70898

  • 9) Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 8 c-moll Adagio 1:50
    Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester Leitung Günter Wand
    RCA Victor GD 60083 BMG (LC 0316)

  • 10) Badakhshan "Bulbulik" 0:50
    Ausführende: Manzura Badirkhanova & Sharifa Sayfullabekova
    "Mystical Poetry and songs from the Isma'ilis of the Pamir Mountains"
    PAN 2024CD Holland

  • 11-13) Badakhshan "Dargilik" und "Lala'ik" 1:17 / 1:32 / 1:13
    Ausführende: Zaragul Iskandarova und Ensemble, Kharagh, 4.8.1992
    Pamir Mountains PAN 2024 CD
    "Mystical Poetry and songs from the Isma'ilis of the Pamir Mountains"
    PAN 2024CD Holland

  • 14) Vogelstimme: Sprosser 3:13
    Meistersinger Hörbilder von Walter Tilgner
    Wergo 2000 SM 9010 2

© Dr.Jan Reichow 2007



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