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Konzerteinführung WDR Sinfoniekonzert Mahler IV und Sibelius IV Kölner Philharmonie 10./11. November 2006

WDR Sinfoniekonzert Mahler IV und Sibelius IV
Einführung: Jan Reichow

Ruth Ziesak, Sopran
WDR Sinfonieorchester Köln
Leitung Jukka-Pekka Saraste

WDR Sinfoniekonzert 10. und 11. November 2006

Kölner Philharmonie
Einführung jeweils 19 Uhr
Konzert jeweils 20:00 Uhr




Gustav Mahler: Symphonie Nr. IV G-dur
Jean Sibelius: Symphonie Nr. IV a-moll

Was an Gustav Mahlers Vierter Symphonie für manch einen schwer zu verkraften ist, liegt gerade in dem, was auf Anhieb besonders leicht erscheint.
Mahler selbst wusste, dass dieses merkwürdige Zwischenreich des Ausdrucks von vielen nicht recht verstanden wird; in diesem Sinne schrieb er auch am 18. Dezember 1901 an seine Frau Alma:

"Und doch wäre es so nötig, daß Du sie kennst - denn meine Vierte wird Dir ganz fremd sein. - Die ist wieder ganz Humor - 'naiv' etc.; weißt Du, das an meinem Wesen, was Du noch am Wenigsten aufnehmen kannst - und was jedenfalls in alle Zukunft nur die Wenigsten erfassen werden."
(Floros a.a.O. S.246)
Natürlich ist die Musik alles andere als naiv, ihre Naivität hat doppelten Boden. Vergleichbar der sokratischen Ironie, aber eben - naiv. Nicht ironisch oder gar parodistisch.
Und da haben wir's: nichts in ihr ist wohl genau das, was es zu sein scheint. Oder wenn doch, - fühlen wir uns oder das uns vorgesetzte Thema nicht richtig ernstgenommen. Nur - was ist das Thema?
Wenn wir dem Text des letzten Satzes trauen dürfen: "Das Himmlische Leben", - also das, was uns... vielleicht... nach dem Tode erwartet - , - wohlgemerkt, es bleibt verborgen, was Mahler eigentlich glaubt! - es wird ausgemalt in so naiver Weise wie in einer Bauernmalerei, ein Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Hühner freiwillig in den Mund fliegen, - werden wir nun ernstgenommen oder nicht?
Das allererste, was wir zu hören bekommen, ist eine Schelle: da trottet wahrhaftig jemand mit der Narrenkappe daher und öffnet den Vorhang für das Haupthema, - "nichts, was hier erzählt wird, ist wahr!" Das Thema selbst beginnt wie ein Wienerlied, und dann - meint man es doch schon ganz woanders gehört zu haben, vielleicht bei Haydn, vielleicht bei Mozart?
1) Mahler IV Satz I Takt 1 - 20 (Gielen) 0:54
So etwa hört man den Anfang der Sinfonie in neueren Interpretationen. Um so erstaunlicher, wie die Interpretation eines Dirigenten klingt, der Mahler noch persönlich kannte und seine Musik seit 1906 aufführte, und zwar zur größten Zufriedenheit des Komponisten. Diese Aufnahme stammt aus dem Jahre 1939.
Da wird das Thema wie aus weiter Ferne herbeizitiert. Auf die Bühne des Geschehens.
2) Mahler IV Satz I Takt 1 - 20 (Mengelberg) 1:00
Wilhelm Mengelberg 1939 mit dem Amsterdam Concertgebouw Orkest.
Vielleicht muss man heute nicht mehr so übertreiben, um ein déja vue zu kennzeichnen, aus der dunklen Erinnerung taucht eine Melodie ins Licht des Bewusstseins und ein seltsames Spiel beginnt. Merkwürdigerweise ein Beginn, obwohl es sich, wenn man seinem mutmaßlichen Ursprung nachgeht, um eine abschließende, antwortende Melodiewendung handelt, nämlich im zweiten Thema einer Schubertschen Klaviersonate, an das es sich anlehnt.
3) Schubert Klaviersonate in Es-dur D.568 1. Satz, 2. Thema 0:24
Es ist nicht einmal sicher, ob Mahler sich dieser Anlehnung an das Schubert-Thema bewusst war. Er brauchte diesen Hauch eines fernen, nicht verortbaren Glückszustandes, eine unbestimmbare historische Tiefe verbindet sich also mit den aus der eigenen Tiefe heraufsteigenden kindlich-heiteren Phantasien.
Von den ersten drei Sätzen seiner Sinfonie sagte Mahler: Darin sei die Heiterkeit einer höheren, uns fremden Welt, die für uns auch etwas Schauerlich-Grauenvolles habe. Im letzten Satz aber (im "Himmlischen Leben") erkläre das Kind, "welches im Puppenzustand doch dieser höheren Welt schon angehört" (so sagt er), "wie alles gemeint sei."
Ein merkwürdiger Satz, wenn man die Worte des Kindes nachliest. Wie soll das denn gemeint sein:
Johannes das Lämmlein auslasset,
Der Metzger Herodes drauf passet,
Wir führen ein geduldigs,
Unschuldigs, geduldigs,
Ein liebliches Lämmlein zu Tod!.
Sanct Lucas den Ochsen thät schlachten,
Ohn' einig's Bedenken und Achten,
Der Wein kost kein Heller
Im himmlischen Keller.

Liebes Kind, lieber Mahler, wie soll das denn alles gemeint sein?
Das ist doch merkwürdiger als alle programmatischen Hinweise, die Mahler später wieder zurückzog, immer in Sorge, man könnte seine Werke mit platten Details der Realität befrachten. Aber ist es hilfreicher, wenn man stattdessen eine Farbangabe wie die folgende bekommt?
"Was mit vorschwebte, war ungemein schwer zu machen. Stell dir das unterschiedliche Himmelsblau vor, das schwieriger zu treffen ist als alle wechselnden und kontrastierenden Tinten. Dies ist die Grundstimmung des Ganzen. nur manchmal verfinstert es sich und wird spukhaft schauerlich; doch nicht der Himmel selbst ist es, der sich trübt, er leuchtet fort in ewigem Blau. Nur uns wird er plötzlich grauenhaft, wie einen an einem schönsten Tage im lichtübergossenen Wald oft ein panischer Schreck überfällt."
(RSt Dok S. 27)
Der große Mahler-Exeget Theodor W. Adorno ging ohne Scheu in die bildhaften Details der Vierten:
"Ihre Bilderwelt ist die von Kindheit" (, sagt er,) "keine Vaterfiguren haben Einlaß in ihren Bezirk. Der Klang hütet sich vor jeder Monumentalität, die sonst seit Beethovens Neunter der symphonischen Idee sich gesellt."
(S.76)
... "Die gesamte Vierte Symphonie schüttelt nichtexistente Kinderlieder durcheinander..."
(S.77)
Unnachahmlich beschreibt Adorno den Übergang zur Reprise, zur Wiederkehr der Anfangsgedanken. Wir werden die Musik gleich hören.
"Auf dem Höhepunkt des ersten Satzes wird ein absichtsvoll infantiles, lärmend lustiges Feld erreicht, dessen Forte immer ungemütlicher wird bis zur Rückleitung mit der Fanfare." (...) "Wenn dann, nachdem die Durchführung, unterm Diktat der Fanfare, versickernd den Reprisenbeginn maskiert hat, die Musik mit einer Generalpause von der Szene gejagt wird, bis plötzlich das Hauptthema inmitten seiner Reprise fortfährt, so gleicht das dem Glück des Kindes, das jählings aus dem Wald durchs Schnatterloch auf dem altertümlichen Miltenberger Marktplatz sich findet."
(An dieser Stelle mischen sich Adornos eigene Kindheitserinnerungen aus der Gegend von Amorbach in die Mahler-Reflektion.)
"So wie jenes Lärmfeld machen Kinder Lärm, die auf Töpfe schlagen und womöglich sie zusammenhauen. Der Zerstörungsdrang, der böse hinter aller Triumphmusik lauert und sie beschämt, wird entsühnt als unrationalisiertes Spiel."
(S.79)
Soweit Adorno.
Hier folgt nun das von ihm beschriebene "Lärmfeld" samt Fanfare und heimlicher Wiederkehr des Hauptthemas, in das sich allerdings eine Generalpause senkt, - und mit der Fortführung befinden wir uns dann unvermittelt auf dem Miltenberger Marktplatz oder, meine Damen und Herren, was auch immer Sie sich an glückverheißender Szenerie aus Ihrer Kindheit herbeiwünschen...
4) Mahler IV Satz I "Lärmfeld" + Reprisenbeginn T.209 bis 245 1:35
Zum Programmatischen nur ein paar Worte: Mahlers Zeit um 1900 war ja auch die Zeit der programmatischen Werke von Richard Strauß, - von dem ihn Welten trennten; denken Sie nur, wie der das Narrenmotiv behandelte: das jämmerliche Ende Till Eulenspiegels am Galgen, in Gestalt der hohen Klarinette die umstürzende Keramik auf dem Markt; mit dergleichen Programmen wollte Mahler nichts zu tun haben, und zwar um so weniger, je mehr die Leute danach verlangten.
Bruno Walter schrieb im Jahre 1901:
"Mahler perhorresziert aufs energischste jedes Programm; muß man denn wirklich, so fragt er, ein Programm haben, um einen Satz mit erstem Thema, zweitem Thema, Durchführung und Reprise zu verstehen?"
(1901; RSt Gok S.33)
Ich habe Sie eben auf das Ende der Durchführung und auf den Beginn der Reprise aufmerksam gemacht und hätte diese Worte am liebsten vermieden, damit nichts Handwerkliches in unsere Höreinstellung gerät.
Diese musiktechnische Bescheidwisserei hilft ja nun auch nicht viel, zumal, wenn man uns von anderer Seite zugleich versichert:
Kaum ein Thema, geschweige ein Satz von ihm, der buchstäblich als das genommen werden könnte, als was er auftritt; ein Meisterwerk wie die Vierte Symphonie ist ein Als-Ob von der ersten bis zur letzten Note. Musikalische Unmittelbarkeit und Natur wird von dem angeblich so naturseligen Komponisten bis in die Zellen der Erfindung hinein in Frage gestellt. (Wiener Gedenkrede)
Wie sollen wir diese Doppelbödigkeit wahrnehmen, wenn nicht über Bilder und Vorstellungen, statt eines bloßen Benennens musikalischer Vorgänge?
Programmatisches ist heute auch deswegen wieder so wichtig geworden, weil die Gefahr groß ist, dass die Musik einfach als längst bekannt und neutralisiert vorüberrauscht. Wir identifizieren sie, erkennen sie, vor allem die Interpretationsunterschiede, - aber wir denken uns nichts mehr dabei, wir erkennen keine Bedeutungen!
Und auch in all diesem Frohsinn, diesen Kindereien müssten wir ja den Ernst der Lage wahrnehmen: "Das himmlische Leben" ist leicht gesagt. Was ausgespart wird, ist jegliche affirmative Prophetie, - aber was haben wir stattdessen? Es ist nicht einmal mit Sicherheit zu sagen, wer zu uns spricht. Ist es Mahler? Oder lässt er durchweg das Kind oder sogar "den Narren" sprechen? Mit solcher Kunst?
Ist es wirklich der Tod, der uns jetzt eins geigt? Finden Sie, dass dies eine Musik zum Fürchten ist? Mahler hat die Geige extra einen Ton höher stimmen lassen, damit sie schauerlicher klingt.
5) Mahler IV Satz II Anfang bis T. 22 0:33
Mahler selbst hat dazu den Hinweis gegeben "Freund Hein spielt auf", und auch sein Freund Bruno Walter lässt sich schließlich darauf ein:
"...der Tod streicht recht absonderlich die Fiedel und geigt uns in den Himmel hinauf. Ich bemerke nochmals, daß dies nur eine der vielen möglichen Bezeichnungen ist."
Der Dirigent Michael Gielen rühmt diesen Satz als den, der am polyphonsten gedacht ist in dieser Sinfonie, und beklagt die Überschrift:
"Mir wäre lieber, man wüsste nichts davon. Wenn sich das jemand zur Musik denkt, dann ist das sein gutes recht, aber wenn der Komponist das schon vorher sagt, bleibt dem Hörer gar kein Ausweg."
Also bitte, tun Sie, was Sie wollen!
Ich werde Ihnen auch nicht mitteilen, dass Mahler bei dem nächsten Satz, dem langsamen, einem der schönsten der gesamten Musikliteratur, gesagt hat, er habe an das Lächeln der Heiligen Ursula gedacht; ... die ihm als Heilige allerdings nicht besonders vertraut sei, nur deshalb habe er es so komponieren können, nein, er habe auch an das Lächeln seiner Mutter gedacht.
Meine Damen und Herren: Vergessen Sie's, es ist wichtiger, die Verwandlungen des wunderbaren Themas wahrzunehmen, und, wenn am Anfang in seiner einfachsten, "heiligen" Gestalt kommt, auch das Pizzicato der Kontrabässe zu hören: eine Art fernes Glockengeläut.
6) Mahler IV Satz III Ruhevoll Anfang bis ca. T. 10 0:44
Behalten Sie beides im Ohr und hören Sie zwei Formen der Verwandlung dieses Themas, es gehört ja zum Wesen der Variation, auch die Urgestalt durchschimmern zu lassen.
7) Mahler IV Satz III Takt 107 bis 120 0:13

Sie bemerken, das Tempo verändert sich, über dem Anfang stand "ruhevoll", über dieser Variation "anmutig bewegt".
Und in einer späteren Variation geht es in den Dreiertakt.
Aber hören Sie auch, dass das Pizzicato der Kontrabässe bleibt?

8) Mahler IV Satz III Takt 222 bis 246 0:55
Ganz am Ende dieses Satzes geschieht nun etwas, das weder mit technisch-musikalischem Sachverstand noch mit St. Ursula ausreichend zu deuten ist:
Der Musikwissenschaftler Hans-Ferdinand Redlich schreibt:
"Die Coda des Satzes - ein Hechtsprung in die Niederungen der Programmmusik - beschreibt die herzbewegende Vision eines Kindes: die Tore der Himmelsstadt öffnen sich weit im Getöse der Harfenglissandos und der arpeggierenden Streicher",
im Geschmetter des Blechs und einer Variante des Kontrabass-Pizzikatos..., das jetzt noch gleich zu Beginn zu vernehmen. Bevor der erwähnte "Hechtsprung in die Niederungen der Programmmusik" erfolgt.
Übrigens - erstmalig in der Geschichte der Menschheit - ein Hechtsprung nach oben!
9) Mahler IV Satz III T. 311 bis 330 1:20
Wie Sie wissen, steht diese Symphonie insgesamt in G-dur, nur dieser plötzliche Ausbruch, die Vision der himmlischen Stadt, steht in E-dur, - vielleicht eine Sphäre der Irrealität, ebenso wie der Schluss des letzen Satzes, die letzte Strophe des Liedes vom Himmlischen Leben. E-dur.
Dieses Lied ist ja der Ausgangspunkt und Kern der ganzen Symphonie: Mahler hat es neun Jahre vorher geschrieben, mit anderen Liedern nach Texten aus der romantischen Sammlung "Des Knaben Wunderhorn".
Manche der charakteristischen Motive in den vorhergehenden Sätzen haben in diesem Lied ihren Ursprung oder offenbaren ihren textbezogenen Sinn: die "Narrenkappe" etwa, das Emblem mit der Schelle, das nach jeder Strophe quer über die Szene eilt. (nachmachen!)

Oder lassen Sie mich ein Motiv unter vielen herausgreifen: die pompöse Fassung hat sich gerade in der E-dur-Vision vor Ihnen aufgebaut, aber schon Beginn der Durchführung des ersten Satzes war es aufgetaucht, wie ein Vogelruf: 4 Flöten unisono, ein zauberischer Klang; Adorno vergleicht ihn mit einer "Traumokarina":
"so müßten Kinderinstrumente sein, die keiner je vernahm,"
schreibt er. (S. 77)
Vielleicht haben Sie noch Zeit, zugleich auf das Motiv des Fagotts in der Tiefe zu achten.
10) Mahler IV Satz I Takt 124 bis 142 0:43
Im Fagott ist nämlich eine Art "Jodelmotiv" wiederzuerkennen, ein selbstvergessenes Motivmaterial, das sich nun im letzten Satz zusammenfindet, aus dem es sich in Wahrheit sozusagen rückwärts ausgebreitet hat:
jemand hat von einer Schubertschen Klarinette gesprochen, - in der Tat: das Kind hat etwas von Schuberts "Hirt auf dem Felsen".
11) Mahler IV Satz IV Anfang (Bernstein, Knabensopran) 1:06
Es muss nicht sein, dass man die kindliche, bäuerlich-anthropomorphe Vision des himmlischen Lebens von einem Kind singen lässt (wie hier in der Aufnahme mit dem Tölzer Knaben Helmut Wittek unter Leonard Bernstein): So, wie auch Schuberts "Hirt auf dem Felsen" besser von einer Sängerin imaginiert wird als von einem echten Hirtenknaben, und sei er noch so tüchtig.
Wenn die ganze Symphonie ein "Als-Ob" darstellt, und sich gerade am Ende auch verbal als solches enthüllt, kann dies niemand besser als eine Sängerin mit allen Mitteln der Kunst, auch der Kunst der Simplizität.
"Singstimme mit kindlich heiterem Ausdruck; durchaus ohne Parodie!"
merkte Mahler an.
Ich habe Ruth Ziesak vor einem Monat in einer Kammerensemblefassung dieser Symphonie in Heidelberg gehört und kann Ihnen versichern: es ist kein Zufall, dass gerade sie allenthalben für Mahlers Vierte verlangt wird.

Ich nenne Ihnen noch einmal die möglichen Überschriften der 4 Sätze:

  1. Die Welt als ewige Jetzzeit.
  2. Freund Hein spielt zum Tanz auf
  3. Das Lächeln der heiligen Ursula
  4. Das himmlische Leben

Meine Damen und Herren, es ist der Kindertraum in uns allen, der in dieser Symphonie Wirklichkeit wird, in einer Musik, von der es wahrhaftig mit vollem Recht am Ende heißt:

"Kein Musik ist ja nicht auf Erden, die unsrer verglichen kann werden."
Ich zitiere noch einmal den unvergleichlichen Mahler-Wieder-Entdecker und -Neu-Deuter Theodor W. Adorno, der die Strahlen dieser Kindlichkeit in allen Mahlerwerken bis hin zum späten "Lied von der Erde" wiederfindet:
dahinter, so schreibt er, stehe die Erfahrung,
"daß in der Jugend unendlich Vieles als Versprechen des Lebens, als antizipiertes Glück wahrgenommen wird, wovon dann der Alternde, durch die Erinnerung hindurch, erkennt, daß in Wahrheit die Augenblicke solchen Versprechens das Leben selber gewesen sind."
(S.196)



Soviel Adorno durch sein Buch, das im Jahre 1960 erschien, für das Verständnis Gustav Mahlers getan hat, soviel hat er wohl Sibelius durch einen Verriss im Jahre 1937 und später durch wiederholte abfällige Bemerkungen geschadet.
Es ist an der Zeit, sich davon freizumachen und Sibelius ohne präformierte Vorbehalte zu hören.
In einem Punkt haben wir es leichter als mit Mahler:
Sibelius ist kein Mann des "Als-Ob".
Er spricht aber auch nicht unentwegt von finnischen Wäldern, er spricht von sich selbst, wenn er Musik macht, - Eins zu Eins, seine Vierte nannte er eine "psychologische Symphonie", und seine Symphonien allgemein nannte er "Glaubensbekenntnisse aus meinen verschiedenen Altersstufen".

In den Jahren 1908-1911, an deren Ende die 4. Sinfonie steht, hat er eine schwere Zeit durchgemacht, - finanzielle Nöte, Operation eines Tumors am Kehlkopf, Angst, dass er wiederkehrt, überhaupt: bedrängende Todesgedanken, aber nicht ohne Hoffnungsschimmer.
Mein Eindruck beim Hören der Vierten ist der, dass an jedem Punkt das Eigentliche noch bevorstehe, fast bis zum letzten Takt. Alles ist Vorbereitung, - worauf? Wenn ich bei den Exegeten lese: das entscheidende Intervall sei die übermäßige Quart, "diabolus in musica", so hilft mir das wenig! Allerdings steigen aus den Intervallen und Motiven am Ende doch greifbare, expressive Gebilde empor. Es liegt an Ihnen, an uns, diese eigenartigen Erscheinungen zu deuten. Oder einfach: mit Sympathie zu erwarten.
Ich möchte Ihnen als Vorübung und Anreiz für die 4 Sätze der Vierten, - das sind knapp 40 Minuten reinster Sibelius -, genau 4 Formeln mit auf den Weg geben. Und wenn Sie die im Sinn behalten, werden Sie in etwa wissen, wohin die Reise geht.
Erster Satz: (Achtung: Sprechmikro auflassen!!!)

12) Sibelius IV Drei Beispiele aus Satz 1-3, nur durch Blenden getrennt 2:25
  • a) Satz I ab 8:09 bis 9:07 0:58
  • b) Satz 2 Anfang bis 0:35 0:35
  • c) Satz 3 ab 8:02 bis 8:52 0:50

(In die Pausen gesprochen:) "Zweiter Satz!"........"Dritter Satz!"
Und der vierte Satz, das Finale: die Spannung zwischen Abwärts und Aufwärts, wobei das Abwärts jetzt gleich durch das "Todesurteil" des Septimsprungs und die Chromatik gegeben ist, das Aufwärts durch aufsteigende Terzrufe und eine erweiterte B-A-C-H-Formel. In etwa so (transponiert!): B-A-C-H-D-Cis...
13) Sibelius IV Formel des 4. Satzes ab 7:24 bis 8:28= 1:04
Und mit diesen Formeln sind Sie wahrscheinlich schon ausreichend gewappnet.
Es wird auf jeden Fall ein interessanter Konzertabend werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit



Musik 12:56 Text ca. 21:00 insgesamt: 33:56
© Dr.Jan Reichow 2006



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