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Zäsuren und Strukturen der Menschheitsgeschichte


I Der große Sprung (Dawkins)
II Die Achsenzeit (Jaspers)
III Die drei großen Zäsuren der Neueren Geschichte (Geiss)
IV Die große Zäsur zu Beginn der Neuzeit (Fink-Eitel)

Das systematische Denken ist offenbar erst verhältnismäßig spät zur Entwicklung gelangt; eine wirklich wesentliche Rolle hat es im menschlichen Leben erst in den letzten dreitausend Jahren gespielt. Und selbst heute sind jene Menschen, die ihr Denken wirklich beherrschen und ihre Gedanken ordnen, eine kleine Minderheit. Fast die ganze Menschheit lebt in Phantasie und Leidenschaft.
H.G.Wells: Die Geschichte unserer Welt
Wien Hamburg 1926/1953 (S.57)



I

Richard Dawkins
Geschichten vom Ursprung des Lebens
Eine Zeitreise auf Darwins Spuren
Berlin 2008

"Der große Sprung" (S.61 ff)

Die Geschichte des Cromagnon
Archäologischen Befunden zufolge widerfuhr unserer Spezies vor rund 40000 Jahren etwas ganz Besonderes. Anatomisch sahen unsere Vorfahren vor diesem entscheidenden Zeitpunkt genauso aus wie danach. Die Unterschiede zwischen ihnen und uns waren nicht größer als die zwischen ihnen und ihren Zeitgenossen in anderen Teilen der Erde oder als die zwischen uns und vielen unserer Zeitgenossen. Jedenfalls wenn man ihre Anatomie betrachtet.
Sieht man stattdessen ihre Kultur an, gibt es einen großen Unterschied. Natürlich bestehen auch heute große Unterschiede zwischen den Kulturen der verschiedenen Völker auf der Welt, und vermutlich war es auch damals so. Aber wenn wir weiter als 40000 Jahre in die Vergangenheit vordringen, gilt das nicht. Irgendetwas geschah damals - und zwar nach Ansicht vieler Archäologen so plötzlich, dass man von einem 'Ereignis' sprechen kann. Mir gefällt insbesondere der Name, den Jared Diamond ihm gab: der Große Sprung nach vorn.
Vor dem Großen Sprung nach vorn hatten sich die von Menschen hergestellten Gegenstände seit einer Million Jahre kaum verändert. Bei den Gerätschaften, die bis heute erhalten geblieben sind, handelt es sich fast ausschließlich um recht grob gestaltete Werkzeuge und Waffen aus Stein. Zweifellos diente auch Holz (oder in Asien Bambus) häufig als Werkstoff, aber hölzerne Überreste bleiben nur unter besonderen Umständen erhalten. Soweit wir wissen, gab es keine Malereien, keine Schnitzereien, keine figürlichen Darstellungen, keine Grabbeigaben, keine Verzierungen. nach dem Großen Sprung tauchen alle diese Dinge plötzlich in den archäologischen Funden auf, gleichzeitig findet man sogar Musikinstrumente, beispielsweise Flöten aus Knochen. Wenig später schufen Cromagnonmenschen atemberaubende Werke wie die Malereien in der Höhle von Lascaux (...).

Ein unbeteiligter Beobachter, der uns von einem anderen Planeten aus seit langem zusieht, hält unsere moderne Kultur mit Computern, Überschallflugzeugen und Raumfahrt möglicherweise nur für Folgeerscheinungen des Großen Sprungs nach vorn. In den sehr langen Zeitmaßstäben der Erdgeschichte sind alle unseren modernen Errungenschaften, von der Sixtinischen Kapelle bis zur speziellen Relativitätstheorie, von den Goldberg-Variationen bis zur Goldbach'schen Vermutung, nahezu zur gleichen Zeit entstanden wie die Venus von Willendorf und die Höhle von Lascaux: Alle sind Teil der gleichen kulturellen Revolution, alle gehören zu einem kulturellen Aufblühen, das auf die lange Stagnation des frühen Paläolithikums folgte. (...)

Manche Fachleute sind vom Großen Sprung nach vorne so beeindruckt, dass sie glauben, auch die Sprache sei zu jener Zeit entstanden. Was sonst, so fragen sie, kommt als Erklärung für einen derart plötzlichen Wandel in Frage? Die Vermutung, die Sprache könne plötzlich entstanden sein, ist nicht so verrückt, wie sie sich zunächst anhört. Niemand glaubt, die Schrift sei älter als ein paar tausend Jahre, und alle sind sich einig, dass sich die Anatomie des Gehirns nicht zu einem so späten Zeitpunkt geändert hat, dass der Wandel mit der Erfindung der Schrift zusammenfallen könnte. Theoretisch könnte es sich mit der Sprache genauso verhalten. Dennoch ist die Sprache nach meiner Vermutung, die auch durch maßgebliche Sprachforscher wie Steven Pinker unterstützt wird, älter als der Sprung. (...)

Vielleicht wurde mit dem Großen Sprung nach vorn nicht die Sprache selbst erfunden, aber er fiel möglicherweise mit einer Neuerung im Gebrauch der 'Sprachsoftware' zusammen. Vielleicht war es ein neuer Kunstgriff der Grammatik wie der Konditionalsatz, der mit einem Schlag die Möglichkeit eröffnete, Überlegungen nach dem Prinzip 'was wäre, wenn' anzustellen. Oder vielleicht konnte man die Sprache in der Frühzeit, vor dem Sprung, nur für Gespräche über Dinge benutzen, die unmittelbar im Gesichtsfeld lagen. Vielleicht kam irgendein vergessenes Genie auf die Idee, dass man Wörter auch als Platzhalter für Dinge verwenden kann, die gerade nicht gegenwärtig sind. Das ist der Unterschied zwischen 'die Wasserstelle, die wir beide sehen können' und 'angenommen, auf der anderen Seite des Hügels ist eine Wasserstelle'. Vielleicht war auch die darstellende Kunst, die in den archäologischen Funden vor dem Großen Sprung so gut wie nicht vorhanden ist, die Brücke zu einer begrifflichen Sprache. Vielleicht lernten die Menschen, Büffel zu zeichnen, bevor sie über Büffel sprechen konnten, die nicht unmittelbar zu sehen waren.

(...) (S. 61 - 63)




II

Karl Jaspers
Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949)
Frankfurt/M. - Hamburg 1956

Die Achsenzeit (S.33 ff)

Die Geschichte im engeren Sinne läßt sich im Schema etwa auf folgende Weise vor Augen stellen:
Aus der dunklen Welt der Jahrhunderttausende langen Vorgeschichte und des Jahrzehntausende währenden Lebens uns ähnlicher Menschen erwachen seit Jahrtausenden v. Chr. die alten Hochkulturen in Mesopotamien, Ägypten, im Indusgebiet und am Hoang-Ho.
Auf den Erdball im Ganzen gesehen sind das Lichtinseln in der breiten Masse aller übrigen Menschen, in dem noch immer, bis nahe an unsere Gegenwart, allumfassenden Raum der Naturvölker.
Aus den alten Hochkulturen, in ihnen selber oder in ihrem Umkreis, erwächst in der Achsenzeit von 800-200 v. Chr. die geistige Grundlegung der Menschheit, und zwar an drei von einander unabhängigen Stellen, dem in Orient-Okzident polarisierten Abendland, in Indien und China.
Das Abendland bringt seit dem Ende des Mittelalters in Europa die moderne Wissenschaft und mit ihr seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das technische Zeitalter hervor - das erste seit der Achsenzeit geistig und materiell wirklich völlig neue Ereignis.
Von Europa her wurde Amerika bevölkert und geistig begründet, wurde Rußland, das seine Wurzeln im östlichen Christentum hat, im Rationalen und Technischen entscheidend gestaltet, während es seinerseits ganz Nordasien bis an den Stillen Ozean besiedelte.
Die heutige Welt mit ihren großen Blöcken Amerika und Rußland, mit Europa, Indien und China, mit Vorderasien, Südamerika und den übrigen Gebieten der Erde ist im langsamen Prozeß seit dem 16. Jahrhundert zu der durch die Technik ermöglichten faktischen Verkehrseinheit geworden, die in Kampf und Spaltung doch zunehmend auf die politische Vereinigung drängt, sei es gewaltsam in einem despotischen Weltimperium, sei es durch Verständigung in einer Weltordnung des Rechts.
Man kann sagen: Es gab bisher noch keine Weltgeschichte, sondern nur ein Aggregat von Lokalgeschichten.
Was wir Geschichte nennen, und was im bisherigen Sinne nun zu Ende ist, das war der Zwischenaugenblick von fünftausend Jahren zwischen der durch vorgeschichtliche Jahrtausende sich erstreckenden Besiedlung des Erdballs und dem heutigen Beginn der eigentlichen Weltgeschichte. Vor der Geschichte fand in der Vereinigung der menschlichen Gruppen ohne Bewußtsein ihres Zusammenhangs ein durchweg nur wiederholendes Weiterleben statt, noch nahe verwandt dem Naturgeschehen. Dann aber war unsere kurze bisherige Geschichte gleichsam das Sichtreffen, das Sichversammeln der Menschen zur Aktion der Weltgeschichte, war der geistige und technische Erwerb der Ausrüstung zum Bestehen der Reise.
Wir fangen gerade an.

Es sind immer grobe Vereinfachungen, wenn wir die Geschichte in wenige Perioden strukturieren, aber diese Vereinfachungen sollen Zeiger auf das Wesentliche sein. Entwerfen wir noch einmal das Schema der Weltgeschichte, damit es nicht in falscher Eindeutigkeit erstarrt:
Viermal scheint der Mensch gleichsam von einer neuen Grundlage auszugehen:
Zuerst von der Vorgeschichte, von dem uns kaum zugänglichen prometheischen Zeitalter (Entstehung der Sprache, der Werkzeuge, des Feuergebrauchs), durch das er erst Mensch geworden ist,
Zweitens von der Gründung der alten Hochkulturen.
Drittens von der Achsenzeit, durch die er geistig eigentlicher Mensch in voller Aufgeschlossenheit wurde.
Viertens vom wissenschaftlich-technischen Zeitalter, dessen Umschmelzung wir an uns selbst erfahren.
Dementsprechend treten für unsere historische Entwicklung vier eigentümliche Fragegruppen auf, die heute als die Grundlagen der Weltgeschichte erscheinen:
1) Welche Schritte waren in der Vorgeschichte für das Menschsein entscheidend?
2) Wie sind die ersten hohen Kulturen seit 5000 v.Chr. entstanden?
3) Was ist das Wesen der Achsenzeit und wodurch kam es zu ihr?
4) Wie ist die Entstehung der Wissenschaft und Technik zu verstehen? Wodurch kam es zum 'technischen Zeitalter'?
Dieses Schema hat den Mangel, daß es vier zwar ungemein wirksame, aber dem Sinn nach heterogene Schritte der Weltgeschichte beschreibt: das prometheische Zeitalter, das Zeitalter der alten Hochkulturen, das Zeitalter der geistigen Gründung unseres bis heute gültigen Menschseins, das technische Zeitalter.
Sinngemäßer, aber in die Zukunft vorgreifend, würde das Schema vielleicht auf folgende Weise zu entwerfen sein: Die uns sichtbare Menschheitsgeschichte tut gleichsam zwei Atemzüge:
Der erste Atemzug führte vom prometheischen Zeitalter über die alten Hochkulturen bis zur Achsenzeit und ihren Folgen.
Der zweite Atemzug beginnt mit dem wissenschaftlich-technischen, dem neuen prometheischen Zeitalter, führt durch Gestaltungen, die den Organisationen und Planungen der alten Hochkulturen analog sein werden, vielleicht in eine neue uns noch ferne und unsichtbare zweite Achsenzeit der eigentlichen Menschwerdung.
Zwischen diesen beiden Atemzügen aber sind wesentlich Unterschiede. Wir können vom zweiten Atemzug, den wir gerade beginnen, den ersten kennen, das heißt, wir haben geschichtliche Erfahrung. Der andere wesentliche Unterschied ist: während der erste Atemzug gleichsam zerspalten war in mehrer nebeneinander hergehende, ist der zweite Atemzug der der Menschheit im Ganzen.
Im ersten Atemzug war jedes Ereignis, selbst in Gestalt der größten Reiche, lokal, nirgends im Ganzen entscheidend. Daher war die Besonderheit des Abendlandes und der von ihm ausgehenden Neugründung möglich, als die anderen Begegnungen von der Achsenzeit immer weiter abzusinken schienen, ohne vorläufig und absehbar aus sich heraus neue große Möglichkeiten zu zeigen.
Jetzt aber ist, was geschehen wird, universal und allumfassend, es gibt keine Begrenzung mehr auf China oder Europa oder Amerika. Die entscheidenden Ereignisse werden, weil einen totalen, auch einen ganz anders verhängnisvollen Charakter haben.
Die Entwicklungen aus dem ersten Atemzug in ihrer vielfachen Gestalt sehen im Ganzen für uns so aus, daß sie gescheitert wären, wenn nicht vom Abendland her ein Neues begonnen hätte. Jetzt ist die Frage, ob die kommende Entwicklung offen bleibt und durch furchtbare Leiden, Verzerrungen, durch schaurige Abgründe zum eigentlichen Menschen führt, - wie, das ist uns noch durchaus unvorstellbar. (S. 34 - 36)



III

Immanuel Geiss
Geschichte im Überblick
Reinbek bei Hamburg 1986

Die drei großen Zäsuren der Neueren Geschichte S. 22 f

Die drei großen Zäsuren der Neueren Geschichte - Expansion Europas in Übersee, Französische Revolution, Erster Weltkrieg - sind keine starren, gleichsam passiven Einschnitte, sondern in sich dynamische Orientierungskomplexe.
Sie weisen über sich hinaus jeweils auf ihre (relative) Vergangenheit (historische Voraussetzungen) und damalige Zukunft (Folgen):
Die Ältere Geschichte Europas seit dem Mittelalter, aber auch in Asien und Afrika, drängt zuletzt zur Expansion Europas in Übersee hin, zu deren Zustandekommen alle wichtigen Faktoren ihren welthistorischen Beitrag leisteten, so daß auch die Skizzen über Asien und Afrika unentbehrlich werden.
Die Auswirkungen der Expansion Europas in Übersee führen zur Industriellen Revolution und Französischen Revolution, aber auch weiter zu den nur universalhistorisch richtig zu erfassenden Voraussetzungen des Ersten Weltkrieges, der seinerseits auch ein Produkt von Industrieller Revolution (Imperialismus), moderner Revolution und des Nationalismus ist.

[Nach diesem Kurzüberblick] "verliert auch die Ältere Geschichte ihre Schrecken.
Mit agrarischer Produktion und komplexer Staatlichkeit schuf der Alte Osten elementare Grundlagen unserer gegenwärtigen Existenz, die sich in der europäischen Antike sowie in den großen Zivilisationszentren außerhalb Europas zunächst regional ausdifferenzierten und verfeinerten.
Europa fiel jedoch gegenüber dem klassischen Niveau wieder ab, bis zur ersten Hälfte des Mittelalters.
Die zweite Hälfte des Mittelalters (ab ca.1000) erzielte allmählich den Anschluß an das frühere Zivilisationsniveau durch Anknüpfung an die europäische Antike und Anregung aus den asiatischen Kulturzentren (Indien, China).
Expansion Europas in Übersee und Industrialisierung modernisierten durch kriegerische Konflikte hindurch die traditionellen Grundlagen unserer Existenz. "




IV

Hinrich Fink-Eitel
Die Philosophie und die Wilden
Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte
Hamburg 1994

Die große Zäsur zu Beginn der Neuzeit S. 9-11

Mein Stichtag ist der 12. Oktober 1492, der Tag, an dem Kolumbus die 'neue Welt' entdeckte. Mit ihm pflegt man die Neuzeit beginnen zu lassen. Das alte Europa begann die Geschichte der 'neuen Welt' mit dem größten Massaker, das Menschen je an Menschen verübten, mit dem Massaker an den Ureinwohnern des von den Europäern 'Amerika' genannten Kontinents. Als 'schwarze Legende' geisterte es seitdem durch die europäische Geistesgeschichte. Die 'schwarze Legende' wurde vor allem in zwei Formen weitererzählt, die sie zunehmend verschwiegen: als Mythos des Bösen Wilden und als Mythos des Edlen Wilden. Beide Mythen haben mit den 'amerikanischen' Ureinwohnern, die sie ursprünglich meinten, soviel zu tun wie der Gewaltherrscher mit den Beherrschten bzw. das schlechte Gewissen der willentlichen oder unwillentlichen Mittäter mit ihren noch unschuldigeren Opfern.

Die 'neue Welt' konfrontierte die Europäer mit fremden, archaischen Kulturen, die eine schockierende, beängstigende, abstoßend-faszinierende Alternative zu der ihrigen verkörperten. Sah man diese 'Wilden' indessen als 'primitive', tierische und/oder böse Untermenschen, dann konnte man sich die Herausforderung durch sie mit dumpfer Schlichtheit erleichtern, indem man sie zum Objekt eines kaum noch zu irritierenden Vernichtungswillens machte. Tatsächlich brachte man die 'Wilden' und ihre provozierend andersartige Lebensform in kürzester Zeit zum Verschwinden.

Das war das blutige Werk der Realgeschichte. In der europäischen Geistesgeschichte wirkte es in den genannten Mythen fort. Der Böse Wilde war das minderwertige Andere der eigenen, überlegenen Kultur, handle es sich nun um äußere oder innere Feinde, um fremdartige Völker oder Rassen, um 'unzivilisierte' oder 'staatsfeindliche' Aufrührer ('Anarchisten') oder einfach um diejenigen, die auffällig wurden und Anstoß erregten, weil sie von der gegebenen Norm erheblich abwichen. Kommunisten sind Kannibalen; sie fressen kleine Kinder - so lautet ein weitverbreiteter, politischer Mythos, den man sich lange Zeit selbst noch in unserem Jahrhundert erzählte, das sich für zivilisiert und aufgeklärt hält.

Steht die Mär vom Bösen Wilden in der langen Reihe der erfolgreichen Versuche, die Überlegenheit der eigenen, herrschenden Ordnung mit gewalttätig gutem Gewissen zu behaupten, so ist der Mythos des Edlen Wilden eine Ausgeburt des schlechten Gewissens. Die empfindsameren Europäer litten an der blutigen Gewalt, die die eigene Gesellschaftsordnung auf andere ausübte. Ihre Kritik stellte die herrschenden Werte auf den Kopf: Die eigene Kultur ist das eigentlich Böse und Barbarische, während die von ihr unterdrückte fremde Kultur das vorbildhafte Gute ist. Der Edle Wilde ist das fiktive Idealbild gewaltlos gelungenen Lebens, von dem her eine Kritik der eigenen Kultur normativ - im Vorgriff auf eine anzustrebende Alternative zu ihr - ausweisbar wird. Diese Kritik ist als solche im Recht, wie auch immer es um ihre Begründung und um ihre Fähigkeit bestellt sein mag, eine wirkliche Alternative auszuweisen. Daher beschäftigt sich das vorliegende Buch vor allem mit den erinnerungswürdigen und entwicklungsfähigen Gehalten im Mythos des Edlen Wilden. Soweit er indessen aus einer bloßen Umkehrung der herrschenden Werte resultiert, soweit bleibt er diesen ausweglos verhaftet. Affektiver Ausdruck solcher Ausweglosigkeit ist die Melancholie, die die Kehrseite des strahlenden Bildes des Edlen Wilden düster einfärbt, indem sie der Idealisierung des 'ganz Anderen' qualvolle Selbsterniedrigung zur Seite stellt. Die geistige Kraft der Melancholie und ihre gleichzeitige Selbstfesselung werden insbesondere im letzten Teil unter dem von Friedrich Nietzsche vorgegebenen Stichwort einer 'Geistes der Schwermut' analysiert.

In dieser Gestalt formierte sich der Komplementärmythos des Bösen und des Edlen Wilden zu einer kontinuierlichen Unterströmung der gesamten europäischen Geistesgeschichte seit dem 16. Jahrhundert. Das vorliegend Buch greift sich einige Stellen heraus, an denen der Unterstrom in den Hauptstrom einmündete, um ihn mit sich fortzureißen. Das geschah zum ersten Mal in der Renaissance, wiederholte sich dann des öfteren in der Neuzeit, und selbst noch die 'postmodernen' Bewußtseinsgestalten des Strukturalismus und des Poststrukturalismus haben es nicht vermocht, diesen Turbulenzen zu entkommen. Ich stelle beide anhand zweier Autoren dar, die ihre Theorien stets im Kontakt mit ebenso konkreten wie bedrängenden gesellschaftlichen Problemen entwickelten und in dieser Hinsicht innerhalb der geistigen Strömungen, deren Exponenten sie sind, ohne Vergleich dastehen: Claude Lévi-Strauss und Michel Foucault.

Die bis in die Gegenwart reichende Kontinuität der hier vorhandenen Problematik wurde bislang noch nicht bemerkt. Das gilt selbst für die umfassendste und detaillierteste geistesgeschichtlich-philosophische Diagnose der Neuzeit, die deren Verteidigung beabsichtigt: für Hans Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit. (*)
Die eurozentrische Konzentration auf die 'Genesis der kopernikanischen Welt' (*) läßt die kolumbianische Wende in der Weltgeschichte zur bloßen Metapher für die kopernikanische werden, die Immanuel Kant für die Philosophie wiederholte. (*)
Dieter Henrich, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Kantinterpreten, vergleicht Kants Wunsch, die Philosophie endlich 'auf eine sichere Heerstraße zu leiten', mit 'dem Aufbruch der Conquistadoren'. (*) Wie Kolumbus, der aufbrach, um das alte Indien auf dem Seewege zu erreichen, und stattdessen eine neue, unbekannte Welt vorfand, so wollte Kant den alten Kontinent der europäischen Metaphysik neu ergründen, fand aber stattdessen das Prinzip einer neuen Philosophie: das Selbstbewußtsein als den 'höchsten Punkt' der Transzendentalphilosophie. (*)
Die genannte Metaphorik deutet darauf hin, daß Lévi-Strauss' gegenethnozentrisches Beharren auf dem Blutzoll der imperialistischen Eroberung in einer keineswegs zufälligen Beziehung zu seiner 'postmodernen' Kritik des archimedischen Punktes neuzeitlicher Philosophie stehen dürfte, der den Eroberer Kant auf seiner Heerstraße leitete. In der Forderung nach einer Auflösung des (transzendentalen) Subjekts stimmen die meisten 'postmodernen' Philosophien überein. (*)

Die Eroberung der 'neuen Welt' war zugleich die Geburtsstunde einer neuen Wissenschaft, der Ethnologie. Auf die Eroberer folgten - mit den Händlern und Kolonialbeamten - die nicht ganz uneigennützig um das Verständnis der fremden Kulturen bemühten Missionare und die aus purer Neugier und Abenteuerlust Reisenden. Die ersten Reiseberichte aus der 'neuen Welt' schrieben die Einleitungskapitel für die spätere Wissenschaft der Ethnologie. Wenn die soeben aufgestellte Behauptung zutrifft, daß die europäische Geistesgeschichte durch und durch vom positiven oder negativen Staunen über die vielgestaltigen Konsequenzen jener epochalen Entdeckung geprägt ist, dann muß die Ethnologie in ihr eine ausgezeichnete Stellung einnehmen. Tatsächlich ist es insbesondere die Philosophie, die durch die sich explosionsartig ausbreitenden ethnologischen Diskurse eine für sie charakteristische Wandlung erfuhr. Als Wissenschaft vom Ganzen der Erfahrung konnte gerade sie von der neuen, ethnologischen Welterfahrung nicht unberührt bleiben, der sich nach und nach alle Weltkulturen erschlossen. Mit fremden Kulturen konfrontiert, vermochte die Ethnologie dank solcher Kontrasterfahrungen die eigene Kultur distanziert zu betrachten und daher als Ganze vor sich zu bringen. Die Beziehung von Ethnologie und Philosophie ist sogar, was die letztere betrifft, mehr als nur eine Beziehung unterschiedlicher Disziplinen.
Die Rückwendung des ethnologischen Blicks auf die eigene Kultur verwandelte die Philosophie zeitweise - so lautet eine der Hauptthesen des vorliegenden Buches - in Ethnologie der eigenen Kultur. Vor dem Hintergrund eines enzyklopädisch erfaßten Ganzen menschlicher Kulturen stellte die in Ethnologie verwandelte Philosophie die eigene Kultur - oft in Form einer Kritik der Gewalt - in Frage. (S.11)

(* Originaltext enthält Anmerkungen, die in dieser Abschrift weggelassen sind)



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