" (...) Paradox mußte Schopenhauers Philosophie wirken in einer Zeit, die sich einer erneuerten Metaphysik des Absoluten hingibt; für die das transzendentalphilosophisch ausgegrenzte "Ding an sich" voller Verheißungen steckt, Verheißungen, die nicht ruhen lassen und die man durch die Arbeit der Selbstreflexion und die Arbeit der Geschichte einlösen zu können glaubt. (Gemeint ist hier die Zeit Hegels. JR)
Schopenhauers Zeitgenossen kommen von der transzendentalen Kritik zur Transzendenz: Sie entdecken am Grunde oder am Zielpunkt des Seins einen Sinn, etwas Transparentes, das auf etwas Gemeintes hinweist. Das "Ding an sich" will uns etwas sagen, es bedeutet. Philosophie entziffert diesen Sinn; neu ist das Eingeständnis, diesen 'Sinn' zuletzt doch nur in sich selbst finden zu können. Schopenhauer, ebenfalls transzendentalphilosophisch beginnend, kommt zu keiner transparenten Transzendenz: Das Sein ist nichts anderes als "blinder Wille", etwas Vitales, aber auch Opakes, das auf nichts Gemeintes, Bezwecktes hinweist. Seine Bedeutung liegt darin, daß es keine Bedeutung hat, sondern nur ist. Das Wesen des Lebens ist Wille zum Leben, eingestandenermaßen ein tautologischer Satz, denn Wille ist nichts anderes als Leben, 'Wille zum Leben' enthält somit nur eine sprachliche Verdopplung. Der Weg zum "Ding an sich", den auch Schopenhauer beschreitet, endet in der dunkelsten und dichtesten Immanenz: in dem am Leibe gespürten Willen. Paradox für alle, die sich ans Licht hinausdenken und -arbeiten wollen.
Trivial aber wird diese Einsicht, wenn sie nicht erst am Ende, sondern bereits am Beginn des Weges steht; wenn ein materialistisch ausgenüchterter Biologismus den Willen als Kraft definiert, die aus dem Stoff die Gestaltenfülle des Lebendigen hervortreibt; wenn mit der inflationär gehandhabten Formel 'nichts anderes als' das Lebendige auf Chemie, Mechanik und Physik reduziert wird. Das ist dann jene selbstverständliche und deshalb triviale naturwissenschaftliche Immanenz, die aber mit der Immanenz Arthur Schopenhauers wenig zu tun hat. Schopenhauers Immanenz ist eine, die auf eine metaphysische Frage (Was ist das "Ding an sich"?) antwortet; die naturwissenschaftliche Immanenz ist eine, die von vornherein jede metaphysische Fragestellung abschneidet.
Schopenhauers Denkweg führt bis zu jenem Punkt, wo traditionellerweise mit der Frage: Was verbirgt sich hinter der erscheinenden Welt? der Übergang zum Transzendenten erfolgte. Auch Schopenhauer stellt diese Frage. Er schlägt dieselbe Bühne auf, wo sonst nur Gott, das Absolute, der Geist usw. ihre Auftritte haben. Doch statt dieser erlauchten Gestalten der Sinngebung tritt der 'Wille', diese Immanenz schlechthin, aus den Kulissen. Aber auf dieser Bühne muß auch der Schopenhauersche 'Wille', der die alte Metaphysik aufzehrt, eine metaphysische Rolle spielen. Denn es ist die metaphysische Neugier, die das ganze Spiel inszeniert. Herausgerissen aus diesem Bedeutungsspiel einer letzten Metaphysik, kann es Schopenhauers Einsichten allerdings widerfahren, daß man sie für trivial hält, weil man sie mißversteht.
Schopenhauer beginnt also, an seine Dissertation anknüpfend, transzendentalphilosophisch: Die Welt ist meine Vorstellung. Die vorstellende Tätigkeit umfaßt beide Pole: Subjekt und Objekt. Sie sind Wechselbegriffe: kein Subjekt ohne Objekt, kein Objekt ohne Subjekt. Im transzendentalphilosophischen Vorspiel bereitet Schopenhauer sehr sorgfältig den Übergang zum nächsten Akt vor. Er will einen Weg zeigen heraus aus dieser geschlossenen Welt der Transzendentalphilosophie, er will zum "Ding an sich" kommen, doch die zwei von der zeitgenössischen Philosophie am häufigsten frequentierten Ausgänge will er zunächst verriegeln. Weder über das Subjekt noch über das Objekt führt ein Weg hinaus. Um das zu zeigen, bedarf es einer nochmaligen Besinnung auf das Subjekt-Objekt-Verhältnis. In diesem Verhältnis, das zeigt Schopenhauer, gibt es kein logisches Prius: Weder läßt sich das Subjekt aus dem Objekt erklären, noch das Objekt aus dem Subjekt. Bei dem jeweils einen ist das andere immer schon mitgedacht und vorausgesetzt: Indem ich mich als erkennendes Subjekt vorfinde, habe ich Objekte, und umgekehrt: Ich finde mich als Subjekt nur vor, sofern ich Objekte habe. Die trügerischen Ausgänge sind nun aber die fälschlichen Versuche, entweder die Welt der Objekte aus dem Subjekt hervorgehen zu lassen (so vor allem der Fichtesche Subjektivismus), oder aber das Subjekt aus der Welt der Objekte zu erklären (so der Materialismus eines Helvétius und Holbach).
Den Subjektivismus fertigt Schopenhauer mit wenigen polemischen Worten ab, die Abgrenzung gegen den materialistischen Objektivismus, von dem er ahnt, daß man ihn mit seiner Willensmetaphysik verwechseln könnte, ist demgegenüber sehr gewissenhaft durchgeführt: " Dieser (der Materialismus, R.S.) setzt die Materie, und Zeit und Raum mit ihr, als schlechthin bestehend, und überspringt die Beziehung auf das Subjekt, in welcher dies alles doch allein daist. Er ergreift ferner das Gesetz der Kausalität zum Leitfaden, an dem er fortschreiten will, es nehmend als an sich bestehende Ordnung der Dinge...; folglich den Verstand überspringend, in welchem und für welchen allein Kausalität ist. Nun sucht er den ersten, einfachsten Zustand der Materie zu finden, und dann aus ihm alle andern zu entwickeln, aufsteigend vom bloßen Mechanismus zum Chemismus, zur Polarität, Vegetation, Animalität und gesetzt, dies gelänge, so wäre das letzte Glied der Kette die tierische Sensibilität, das Erkennen: welches folglich jetzt als eine bloße Modifikation der Materie, ein durch Kausalität herbeigeführter Zustand derselben aufträte. Wären wir nun dem Materialismus mit anschaulichen Vorstellungen bis dahin gefolgt; so würden wir, auf seinem Gipfel mit ihm angelangt, eine plötzliche Anwandlung des unauslöschlichen Lachens der Olympier spüren, idem wir, wie aus einem Traum erwachend, mit einem Male innewürden, daß sein letztes, so mühsam herbeigeführtes Resultat, das Erkennen, schon beim allerersten Ausgangspunkt, der bloßen Materie, als unumgängliche Bedingung vorausgesetzt war und wir mit ihm zwar die Materie zu denken uns eingebildet, in der Tat aber nichts Anderes als das die Materie vorstellende Subjekt, das sie sehende Auge, die sie fühlende Hand, den sie erkennenden Verstand gedacht hätten...: plötzlich zeigte sich das letzte Glied als den (der? JR) Anhaltspunkt, an welchem schon das erste hing, die Kette als Kreis; und der Materialist gliche dem Freiherrn von Münchhausen, der, zu Pferde im Wasser schwimmend, mit den Beinen das Pferd, sich selbst aber an seinem nach Vorne übergeschlagenen Zopf in die Höhe zieht." In der dritten Auflage (1858) setzt Schopenhauer hinzu: "Demnach besteht die Grundabsurdität des Materialismus darin, daß er vom Objektiven ausgeht..., während in Wahrheit alles Objektive, schon als solches, durch das erkennende Subjekt, mit den Formen seines Erkennens, auf mannigfaltige Weise bedingt ist und sie zur Voraussetzung hat, mithin ganz verschwindet, wenn man das Subjekt wegdenkt" (I,61).
Aus diesem Zirkel (wie auch aus dem Zirkel des Subjektivismus) kommt man, so Schopenhauer, nur heraus, wenn ein Punkt zu finden ist, wo wir die Welt nicht nur als Vorstellung, nicht nur im Subjekt-Objekt-Verhältnis, haben. Die Erkenntnis des Zirkels soll gerade darauf leiten, "das innerste Wesen der Welt, das Ding an sich, nicht mehr in einem jener beiden Elemente der Vorstellung (Subjekt und Objekt, R.S.), sondern vielmehr in einem von der Vorstellung gänzlich Verschiedenen zu suchen" (I,68).
(...) Wenn nun die Welt meine Vorstellung ist, so lehrt mich mein alltäglicher Umgang mit ihr doch noch etwas anderes, die Welt zieht nicht nur als Vorstellung an uns, den erkennenden Subjekten vorüber, sondern sie erregt in uns ein "Interesse", "welches unser ganzes Wesen in Anspruch nimmt" (I,151). Die Philosophietraditionen, die das Wesen des Menschen ins Denken und Erkennen setzte, hatte alles "Interesse" an der Welt aus dem Erkennen hervorgehen lassen müssen. Bei Spinoza etwa ist auch noch die Bearbeitung von Gegenständen oder der Liebesakt primär eine Art des 'Erkennens'. In solcher Deutung ist Triebnatur verdunkelte Erkenntnis. Das Bild des Menschen ist vom Kopf her entworfen. In der Regel läßt der nachdenkende Kopf den Menschen, über den er nachdenkt, auch beim Denken beginnen. Anders Schopenhauer: Das "Interesse" entspringt nicht aus Erkenntnis, sondern geht dem Erkennen voraus und engagiert uns in einer ganz anderen als nur der Erkenntnisdimension. "Was ist diese anschauliche Welt noch außer dem, daß die meine Vorstellung ist" (I,51), fragt Schopenhauer und gibt die, uns schon inzwischen bekannte, Antwort: Wille.
Der Wille ist das Gewisseste. 'Wille' ist der Name für die Selbsterfahrung des eigenen Leibes. Nur der eigene Leib ist jene Realität, die ich nicht nur als Vorstellung habe, sondern die ich selber bin. Da ich mich aber auch zum eigenen Körper zugleich vorstellend verhalten kann, so ist mir also der eigene Leib "auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: einmal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten...; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnete" (I,157). Ich kann Aktionen meines Leibes 'erklären', d.h., sie nach dem Satz vom Grunde als Objekt aus anderen Objekten kausal hervorgehen lassen. Doch nur am eigenen Leib bin und spüre ich zugleich das, was ich im Vorstellungsakt erklären kann. Ich kann mich selbst in die Welt der Objekte versetzen und bin doch zugleich das "Ding an sich". Die Selbsterfahrung des eigenen Leibes ist der einzige Punkt, wo ich erfahren kann, was die Welt ist, außer daß sie meine Vorstellung ist.
Schopenhauer belegt den so definierten Willen deshalb auch gelegentlich mit einem Terminus, der in der scholastischen Philosophie Gott als das Allergewisseste bezeichnet hatte: Er nennt den am eigenen Leibe erlebten 'Willen' das "Realissimum". So wie die scholastische Philosophie aus Gott alle anderen Gewißheiten ableitete, so verfährt Schopenhauer mit seinem neuen "Realissimum". Daß die Welt außer mir mehr und noch anderes ist als bloße Vorstellung, zu dieser Gewißheit berechtigt mich die Selbsterfahrung des eigenen Leibes. "Wenn wir die Körperwelt, welche ... nur in unserer Vorstellung dasteht, die größte und bekannte Realität beilegen wollen; so geben wir ihr die Realität, welche für jeden sein eigener Leib hat: denn der ist jedem das Realste" (I,164).
Bei diesem heiklen Übergang vom Realsten des am eigenen Leib erlebten Willens zu der Außenwelt bedient sich Schopenhauer des Verfahrens der 'Analogie': "Wir werden... die... auf zwei völlig heterogene Weisen gegebene Erkenntnis, welche wir vom Wesen und Wirken unseres eigenen Leibes haben, ... als einen Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur gebrauchen und alle Objekte, die nicht unser eigener Leib, daher nicht auf doppelte Weise, sondern allein als Vorstellung unseres Bewußtseins gegeben sind, eben nach der Analogie jenes Leibes beurteilen und daher annehmen, daß, wie sie einerseits, ganz so wie er, Vorstellung und darin mit ihm gleichartig sind, auch andererseits, wenn man ihr Dasein als Vorstellung des Subjekts beiseite setzt, das dann noch Übrigbleibende seinem Wesen nach, das selbe sein muß, als was wir an uns Wille nennen. Denn welche andere Art von Dasein oder Realität sollten wir der übrigen Körperwelt beilegen? woher die Elemente nehmen, aus der wir eine solche zusammensetzen? Außer dem Willen und der Vorstellung ist uns gar nichts bekannt, noch denkbar" (I, 149).
Dieser Gedanke ist von suggestiver Schlichtheit. Der analogische Schluß besteht in der Annahme, daß man diese doppelte Seinsweise (eine vorgestellte Welt zu haben und Wille zu sein) auch der Natur insgesamt zubilligen muß, wenn man sie nicht nur auf die unserem Vorstellungsvermögen zugewandte Seite beschränken und damit zum Phantom machen will - eine Ansicht, die, wenn man nicht gerade hyperskeptischer Philosoph ist, so Schopenhauer, fürs 'Tollhaus' prädisponiert.
Die suggestive Plausibilität dieses Gedankens verdankt sich dem konsequenten Festhalten an der Transzendentalphilosophie. Diese lehrt: Alle erkannte und wahrgenommene Welt ist unsere Vorstellung. Da aber unser Vorstellen nicht alles ist, muß das, was von keiner Vorstellung erreicht wird (bei Kant das "Ding an sich"), dort gesucht werden, wo wir selbst, und zunächst einmal nur wir selbst, noch etwas anderes als vorstellende Wesen sind.
Von Nietzsche bis in unsere Tage (z.B. von Gehlen) kann man den Vorwurf hören, Schopenhauers Willensphilosophie hätte sich den transzendentalphilosophischen Umweg sparen können. Tatsache ist aber: Nur der transzendentalphilosophische Weg verhindert, daß vom 'Willen' unversehens doch wieder wie von einem Objekt unter Objekten gesprochen wird. Das ist dann aber nicht mehr der 'Wille', den Schopenhauer meint (der Wille, der man selbst ist, noch ehe man sich ihn vorstellt). Der transzendentalphilosophische Weg umgrenzt (zunächst einmal nur negativ) am Sein dasjenige, was nicht in Vorstellung, Objektsein, Kausalität usw. aufgeht. In diesem Sein ohne Vorgestelltsein steckt für Schopenhauer der 'Wille'. Nimmt man ihn aus diesem Bereich heraus, wird der Wille zu einem Vorstellungsobjekt unter Vorstellungsobjekten, und damit in der Kausalitätskette der Objekte zu einem Erklärungsglied.
Schopenhauer wird nicht müde, vor solchem Mißverständnis zu warnen. Der Bezug auf den 'Willen' erkläre nichts, sondern zeige nur, was die Welt ist noch außer dem, daß wir sie als eine (naturwissenschaftlich) erklärungsbedürftige und erklärbare Welt vorstellen und handhaben, betont er. "Man darf, statt eine physikalische Erklärung zu geben, sich so wenig auf die Objektivation des Willens berufen, als auf die Schöpferkraft Gottes. Denn die Physik verlangt Ursachen; der Wille aber ist nie Ursache: sein Verhältnis zur Erscheinung ist durchaus nicht nach dem Satz vom Grunde; sondern was an sich Wille ist, ist andererseits als Vorstellung da, d.h. ist Erscheinung: als solche befolgt es die Gesetze, welche die Form der Erscheinung ausmachen" (I,208).
Schopenhauers Willensphilosophie steht nicht in Idealkonkurrenz zu den erklärenden Naturwissenschaften. Deshalb habe ich Schopenhauers Verfahren, die Welt aus dem von innen erlebten Willen zu verstehen, eine Daseinshermeneutik genannt. "
(Safranski S.320)