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Schostakowitsch 4. Sinfonie, Hör-Anleitung von Jan Reichow

am 16. und 17. September 2005, jeweils 19.00 Uhr in der Kölner Philharmonie
als Einführungen in die Konzerte des WDR Sinfonieorchesters Köln

Ich möchte keine Zeit verlieren, indem ich erläutere, was ich warum hier nicht sagen werde. Weswegen ich z.B. Sibelius nicht behandeln möchte: es genügt wohl zu erwähnen, dass sein Violinkonzert 1903 entstanden ist, aber mit haargenau den gleichen Ohren gehört werden kann wie das von Tschaikowsky (1878) oder das von Dvorak (1880). Womit ich ihn keineswegs herabsetzen möchte. Unbegreiflich aus heutiger Sicht, dass man anfänglich gerade das, was anders, nämlich "finnisch" war, nicht zu schätzen wusste.
Aber Schostakowitsch können Sie nicht mit den gleichen Ohren hören wie ihn, oder - sagen wir - wie Brahms, nicht einmal wie Mahler, obwohl Sie damit schon besser beraten wären.
Ich will hier nicht über die Zeit um 1935/36 in der Sowjetunion sprechen, aus welchen Gründen genau damals die Uraufführung der 4. Sinfonie unterbunden wurde und weshalb sie dann erst 25 Jahre später erfolgte. Obwohl bzw. gerade weil das eine sehr ausführliche Darstellung der politischen und ideologischen Zwangslage jener Zeit fordern würde.
Meine Erfahrung ist: selbst im Urlaub auf La Palma kann man von dieser Sinfonie erschüttert werden und mein einziges Ziel ist nun, unsere Ohren in den Stand zu versetzen, diesem einstündigen sinfonischen Drama nachher aufmerksam und ohne gedankliche Sperren zu folgen. Also auch zwangsläufig - mit erhöhter Spannung.
Meine Damen und Herren, der unsinnigste Werbespruch, den ich in letzter Zeit gelesen habe, lautete:
"Pure Entspannung mit klassischer Musik".
Befinden wir uns hier etwa im WDR-Wellnessbereich?
Die Philharmonie - kein Kulturhaus, sondern ein Kurhaus?
Stellen Sie sich lieber auf beißende Ironie und bittere Wahrheiten ein. Gigantisch laut und überwältigend schön, alles, - nur nicht nett und entspannend.

Vorweg ein Zitat, das zwar aus den 50er Jahren stammt, aber wohl schon lange vorher für Schostakowitsch Gültigkeit hatte. Demnach soll er geäußert haben, dass "der letzte Satz des 'Liedes von der Erde' [von Gustav Mahler] das Genialste sei, was in der Musik je geschaffen wurde: 'Dies steht höher als Bach und Offenbach.' Er machte sich ein bisschen darüber lustig, dass bei Mahler die Ewigkeit mit der Celesta dargestellt werde..."
Bei der Erwähnung Offenbachs in einem Atemzug mit Bach handelt es sich durchaus nicht um einen Augenblicks-Gag: Schostakowitsch schätzte ihn als genialen musikalischen Satiriker, und gerade den Gebrauch dieser Mittel trieb er selbst ja auf die Spitze.
Allerdings ist der Schluss der 4. Sinfonie ganz sicher nicht ironisch oder satirisch gemeint, obwohl Schostakowitsch die Celestaklänge hier selbst im Mahlerschen Sinn anwendet.

Ich möchte nicht zu viel von diesem trotzdem ganz unvergleichlichen Ausgang der Sache vorwegnehmen, - lassen Sie uns in diesen zauberischen Klang, der am Ende des heutigen Abends 6 Minuten währen wird, nur kurz hineinhören, um eine Ahnung zu bekommen, vor welchen fernen Horizonten sich nachher die krassesten Realitäten entfalten.

1) Musikbeispiel 4. Sinfonie Satz 3 [ab 24:12 bis 25:01] 0:55

Dies im Ohr gehen wir nun zum Ausgangspunkt, zum Anfang des ersten Satzes: 60 Minuten liegen dazwischen. Und da klingt es so aufgesetzt fröhlich und schmissig, dass die Ahnung berechtigt ist: Nichts wird gut!

2) Musikbeispiel 4. Sinfonie Satz 1 [ab Anfang bis 1:31] 1:27

Es ist klar: da wird keine menschlich-gesellige Tanzlaune angesprochen, keine gemeinschaftsbildende Kraft, da ist etwas Mechanisch-Maschinenhaftes gemeint, mit einer Tendenz zum Willkürlichen, Mutwilligen und Gewaltsamen. Dass es gleichwohl fasziniert, ist vielleicht ein Problem der Gewalt überhaupt.

Und wir dürfen gespannt sein, wie der Komponist aus diesem initialen Kraftakt herauskommt. Wesentlich ist, nicht nur die Motorik dieses Blocks zu erfassen, sondern auch die Melodik, so martialisch typisiert sie auch auf den ersten Blick erscheint, - sie hat ja zugleich etwas Neo-Barockes:
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mit Widerhaken:
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und dann die äffende Figur:
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Dies letzte Motiv 0 0 00 bezeichnet Bernd Feuchtner in seinem Schostakowitsch-Buch - nach einem ähnlichen in der Oper "Lady Macbeth von Mzensk" - als Motiv der Gewalt:

3) Musikbeispiel 4. Sinfonie Satz 1 [ab 0:16 bis 0:40] 0:22

Nicht umsonst singe ich Ihnen hier manchmal etwas vor: es geht darum, uns mit allen Mitteln, auch den härtesten, Motive und Themen einzuprägen, um sie dann in allen möglichen Verwandlungen wieder erkennen zu können. Sonst erfährt man nichts über den Gang der Handlung! Es ist ja Ungeheuerliches geschehen, wenn dieses Thema, der ganze Anfang, am Ende des Satzes wiedererscheint und sozusagen auf Puppenstubenformat zusammengeschrumpft ist.

4) Musikbeispiel 4. Sinfonie Satz 1 [ab 24:32 bis 25:41] 1:05

Aber diese Version hatte bereits Vorläufer genau in der Mitte das Satzes, und ich bitte Sie gut zu beachten, an welcher Stelle hier ein energischer Einspruch erfolgt, - ich werde den Finger drohend erheben, wenn dann zunächst das Fagott und das Contrafagott, dann die Klarinette ein Thema anstimmen, das wir bisher noch gar nicht betrachtet haben: nennen wir es das Thema der Menschlichkeit (auch wenn es in diesem Zusammenhang fast etwas leichtfertig wirkt).

5) Musikbeispiel 4. Sinfonie Satz 1 [ab 13:16 bis 14:00] 0:45
(Thema singen)

Sie können jetzt noch nicht wissen, was für eine Kraft es gekostet hatte, dieses Thema vorher einzuführen und gegen die Macht des Motorischen durchzusetzen! Ich will Ihnen ganz kurz andeuten, was es mit seiner Menschlichkeit auf sich hat: vielleicht nur eine schöne romantische Formel, - der Aufstieg über den Dur-Dreiklang zur Oktave und das sanfte Nachgeben. Es ist nur eine melodische Anfangsgebärde natürlich, hier bei Brahms und bei Chopin.

6) Musikbsp. Brahms "Wann der silberne Mond" + Chopin Mittelteil Fant.Impromptus 0:40
DGG 429 727-2 (LC0173) Brahms/Hölty Die Mainacht op. 43,2
Anne Sofie von Otter / Bengt Forsberg 0:20
DECCA MCPS 417 476-2 (LC0171) Chopin Fantasie-Impromptu cis-moll op. 66
Vladimir Ashkenazy, Klavier 0:20

So singt es sich nicht mehr, wenn man den Motor der Gewalt hinter sich spürt. Es ist unglaublich, mit welchem Aufwand der Ansatz dieser romantischen Gebärde kommentiert wird, bevor sie wahrhaftig Luft und Raum bekommt.

7) Musikbeispiel Satz 1 Z. 29 bis Z.32 [ab 6:18 bis 7:35] 1:16

Ich gebe Ihnen noch eine spätere Version dieses Themas in der Bass-Klarinette, die Piccolo-Flöte gesellt sich ganz harmlos dazu, wie ein Mahlerscher "Naturlaut". 00! 00! Zunächst aber folgendermaßen:

8) Musikbeispiel Satz 1 Z. 36 [ab 9:05 bis 9:40] 0:40

...und dann so:

9) Musikbeispiel Satz 1Z.40 [ab 10:07 bis 10:28] 0:25

... und schließlich folgt die Zerschlagung mit Hilfe eben dieses Motivs:

10) Musikbeispiel Satz 1 Z. 47 bis vor 51 [ab 12:02 bis 12:39] 0:39

Ich will hier nicht die spektakulärsten Ereignisse vorwegnehmen, - kein Zweifel, es wird auch Stellen geben, die Ihnen langweilig erscheinen. Die gewinnen oft erst bei näherer Betrachtung.
Es ist wie im wirklichen Leben, eine Aneinanderreihung von Steigerungen und Höhepunkten würde eine Handlung - auch eine musikalische - völlig unglaubwürdig machen.
Nehmen Sie als Leit-Idee die dramatische Auseinandersetzung des Mechanisch-Motorischen mit dem Menschlichen oder umgekehrt. Meinetwegen heute auch als Globalisierungsmaschine gegen das Private/Individuelle. Wobei dergleichen auch wieder nicht schwarzweiß zu sehen ist: das Motorische hat eine unverkennbare Beziehung zu Witz, Esprit und Persiflage, das sogenannte Menschliche dagegen zum Sentimentalen, Schwerblütig-Schwerfälligen...
Wir sollten also immer auf der Hut sein: Schostakowitsch ist nicht Tschaikowsky und erst recht kein Sibelius.

Die "Durchführung" dieses ersten Satzes - ich gebrauche dieses Wort nur  e i n m a l , auch von Sonatensatzform möchte ich nicht sprechen, die sowjetischen Kulturapparatschiks könnten mir zufrieden sein: es ist mir einfach zu formalistisch! Hier geht es um die Auseinandersetzung mit Elementen des Lebens: Vitalität, Vorwärtsdrang, Steigerung zur Gewalt, Flucht, vorläufige, zwiespältige Schönheit und Vision des Menschlichen, Forcierung der Dramatik und Beschwichtigung im Witz.

Also: das alles wird hier nun weiter "durchgeführt", gegeneinander ausgespielt - wie Sie wollen - , die Verwandlung des Hauptthemas kennen Sie schon, eine wunderbar leichtfüßige Spottversion, die böse hämmernde Reaktionen auslöst... (sobald das "menschliche" Klarinetten-Thema einsetzt).

11) Musikbeispiel Satz 1 [ab 13:16 bis 14:03] 0:48
(wie Beispiel 5)

... bis hin zum unflätigen "Frulato" der Trompeten und Posaunen, das wiederum einen unerhörten Aktionismus der Streicher entfesselt, eine atemlose Hatz, ein Ausbruchsversuch, eine Flucht, eine wilde Fuge...

12) Musikbeispiel Satz 1 [ab 14:50 bis (Presto) 15:45 ] 0:59

Sie haben gerade den Beckenschlag gehört, - das ist ein erstes Signal. Das Schlagzeug wird massiv eingreifen, das Blech, alles wird in diesen Strudel hineingerissen.

13) Musikbeispiel Satz 1 [ab 16:50 bis 17:31] 0:45

Ich werde Ihnen nicht verraten, wie es ausgeht. Aber von dem anderen Thema, dem "menschlichen", muss ich doch sprechen: es taucht auf - Sie werden es nach diesem Chaos sofort erkennen, und dann kehrt überraschend der Anfang wieder, es ist die Reprise der motorischen Ausgangslage, nur - was ist mit dem Hauptthema passiert?? Es ist weitgehend ersetzt durch dieses menschliche Thema. Wie soll das zusammengehen? Was soll das heißen? Eine Versöhnung des Menschlichen und des Motorischen??
Der Kommentator Bernd Feuchtner sagt, das Thema klingt, als werde es abgeführt. Aber vielleicht kommen Sie zu einer anderen Folgerung?
Hier ist der Übergang in die Reprise; achten Sie auf die Trompeten.

14) Musikbeispiel Satz 1 [ab 20:12 bis 21:53] 1:41

Was widerfährt dem Thema der Menschlichkeit? Versöhnung oder Liquidierung? Das Hauptthema aber, das zu Beginn des Satzes dieser Motorik zugeordnet war, ist nicht etwa verschwunden. Geradezu korrekt wie der große "Formalist" Beethoven liefert Schostakowitsch das in der Reprise nicht eingelöste Material in der Coda nach, allerdings ins Neckische oder Schnippische gewendet. Wir haben diese Version vorhin schon mal angespielt. Danach folgen noch ein paar sparsame, aber sehr sprechende Gesten: Meine Damen und Herren, Sie sollten bis zuletzt wachsam bleiben, auch wenn der Sturm vorüber scheint. Ob etwa der erwähnte Kommentator recht hat, wenn er sagt: "Mit diesem Satz hat Schostakowitsch das grandiose Bild eines Scheiterns entworfen." (Feuchtner S. 120)

Der zweite Satz geht in eine ganz andere Richtung: das hübsche Tanzthema im Dreiertakt wird Ihnen auf Anhieb gefallen, aber wird merkwürdig. Bernd Feuchtner spricht von einem Melodiefluss voller Gleichgültigkeit, dann von Mahlers "Fischpredigt-Scherzo", von kreischenden Klarinetten, vom taumeligen und besoffenen Dudeln, von abstoßenden und geradezu schmierigen Läufen, schließlich einer dissonanten Hymne des Stumpfsinns. Schließlich: "Die Musik sinkt in sich zusammen, und der kurz abschließende Hauptteil wird vom Klappern der Mechanik des Schlagzeugs bestimmt." Das ist in der Tat auffällig, fast wie ein Fremdkörper, obwohl das Thema des Satzes darin enthalten ist, - aber die gedankliche Verbindung zum ersten Satz mit seiner Motorik ist offensichtlich.

15) Musikbeispiel: Ende des 2. Satzes 0:40

Das Ende des zweiten Satzes.
Der dritte Satz, das Finale, beginnt mit einer langsamen Einleitung, es ist die Parodie eines Trauermarsches, den man aus Mahlers Erster Sinfonie zu kennen glaubt: Sie erinnern sich bestimmt an diese nach Moll gewendete Melodie, "Bruder Jakob". Eine gespenstische, satirische Grablegung.
Was danach geschieht, hat Bernd Feuchtner in treffenden Worten geschildert: wie die grellen Triller der Holzbläser eine hektische Flucht auslösen. "Sie führt nach endlosem Hinken in einen Ausbruch von Begeisterung: Beckenschlag, Glockenspiel, folkloristisch gefärbter Jubel der Blechbläser - alles ganz in der russischen Tradition. Der hinkende Rhythmus sinkt nun matt zusammen und es tut sich eine Märchenwelt auf: im Walzer- und im Galopprhythmus ziehen Szenen aus feenhaften Balletten vorbei. Man meint die Elfen auf Zehenspitzen trippeln zu sehen, den Kuckucksruf im Walde zu hören, dem feurigen Reiter nachzuschauen... Die gängigen Klischees der populären Musik lösen sich der Reihe nach ab. (...) Die hübschen Episoden reihen sich formlos aneinander." (Feuchtner S. 120)
Selbst Papagenos Flöte ist dabei.
"Schließlich werden die Einfälle immer spärlicher, die Musik wird langweilig und scheint schließlich einzuschlafen." (a.a.O.)
Meine Damen und Herren, es handelt sich hier um parodierte Unterhaltungsmusik, Trivialitäten, aber so gekonnt gemacht und instrumentiert, dass es Ihnen unweigerlich Vergnügen bereiten wird, obwohl Sie sich zugleich fragen - was soll das? wo liegt der tiefere Sinn? Da gibt es keinen Zweifel: es geht nicht um unser harmloses Vergnügen. Eine grandiose Apotheose setzt ein, - ist das wirklich die Vision einer großen Zukunft, oder ist es die böse Überzeichnung einer "Morgenröte der Menschheit"? In die erhabenen Fanfaren mischt sich beharrlich ein falscher Ton. Aber dann - so sagt es Bernd Feuchtner -
"dann verklingt die Musik in eine ewige Sternennacht." (a.a.O.)
Ist das der Weisheit letzter Schluss?
Können wir einem solchen Ausblick trauen?
(Sie haben diesen Celesta-Klang vom Anfang dieses Vortrags sicher noch im Ohr.)
Es wäre schlechte Musik, wenn alle Rätsel mit einer einzigen Antwort gelöst wären.
Aber es ist ... sehr, sehr gute Musik.
Klassische Musik, - wie immer - nicht etwa "zur puren Entspannung" gedacht....

Übrigens, - falls Sie noch etwas nachlesen wollen: Sie haben ja auch ein schönes, ergänzendes Programmheft. Und das zitierte Buch von Feuchtner, der übrigens kein Musiker ist (!), ist insgesamt lesenswert.
Dieser Vortrag ist zwar nur als kleine Hör-Anleitung gedacht und hat wenig Sinn ohne die konkreten Klangbeispiele. Trotzdem können Sie ihn auch nachlesen, wenn Sie wollen, mit Quellenangaben zur Literatur, auf die ich mich beziehe, sowie mit weiteren Projekten, WDR-Sendungen zum Beispiel: und zwar im Internet, unter meinem Vor-und Nachnamen, in einem Wort geschrieben, also: www.janreichow.de


Ich freue mich nun auf einen großen Konzertabend, Sie bestimmt auch!
Gestern war hier eine Weltklassegeigerin zu erleben, - eine einzige Freude, Sibelius so zu hören und live entstehen zu sehen;
dazu ein fabelhaft aufgelegtes Orchester, mit phänomenalen Solisten in den eigenen Reihen. Sie werden wieder einmal wissen, was es bedeutet, in einem Konzert gewesen zu sein statt sich mit einer CD begnügt zu haben.
Obwohl Sie nachher, um 22.15 nicht pure Entspannung erfahren haben, hier im Kurhaus Philharmonie, sondern wirklich selbst etwas geleistet haben!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!





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