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Schopenhauer kritisieren
"Jene ganze Irrung", - wie Georg Simmel einen logischen Fehler in der Pessimismus-Theorie Schopenhauers nachweist

(Simmel S.986)

Die entscheidende Folgerung aus dem Willenscharakter des Glücks zieht Schopenhauer mit folgenden Worten:
Alles Glück ist "wesentlich immer nur negativ. Wunsch, d.h. Mangel ist die vorhergehende Bedingung jedes Genusses. Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folglich der Genuß auf. Daher kann die Beglückung nie mehr sein, als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Not. - Wenn endlich alles überwunden und erlangt ist, so kann doch nie etwas anderes gewonnen sein, als daß man von irgendeinem Leiden oder einem Wunsche befreit ist, folglich nur sich so befindet, wie vor dessen Eintritt."
Diese einfachen und scheinbar rein logisch entwickelten Sätze rücken das Leben in einen tieferen Schatten, als irgendeine Aufzählung seiner positiven Leiden oder vorenthaltenen Beglückungen vermöchte. Denn nun mag das Maß dessen, was wir Glück nennen, noch so groß sein - es ist von Geburt her mit Negativität geschlagen, das Leben gewährt uns hier nie einen eigentlichen Gewinn, sondern nur das Ausfüllen einer Lücke, das Abzahlen einer Schuld an den Willen.
(...)

(Simmel S. 989 f)

Der Irrtum, den Schopenhauer hier offensichtlich begangen hat, um, im Interesse des Pessimismus, die ganze Periode des Nicht-Habens in jedem Willensprozeß als Leiden zu denunzieren, ist dieser: daß er mit scheinbar logischer Begrifflichkeit das Leben in Haben und Nichthaben des Begehrens aufteilt. Dies gilt zwar zweifellos für die äußere, physische, rechtliche Seite des Daseins, aber gerade für diejenige nicht, auf die es für die Frage des eudämonistischen Pessimismus ankommt. Denn angesichts der häufigen Kontinuität der eudämonistischen Stufen; angesichts der großen Unabhängigkeit von dem realen, definitiven Haben, mit der sie sich entwickeln und die so weit geht, daß das eigentliche Glück oft gerade nur das Streben, Ringen, Suchen begleitet und das erreichte Ziel uns nichts mehr an Glück zu geben weiß, sondern sich als so gleichgültig enthüllt, wie das Leuchtfeuer, dessen Strahlen den Weg des Schiffers erhellten, es nach Erreichung des Hafens ist - angesichts all dessen fehlt hier ganz die logische Basis für den Schluß: so lange wir noch wollen, haben wir noch nicht, also sind wir elend und leidend, so lange wir wollen. Gälte dieser Schluß, so wäre der Pessimismus allerdings gerechtfertigt, weil das Leben im wesentlichen in Willensvorgängen verläuft und das schließliche Erreichen nur die Unausgedehntheit eines Momentes erfüllt. Aber nur durch die falsche Übertragung der Verhältnisse des äußeren Habens und Nichthabens auf die Verhältnisse ihrer hier allein entscheidenden gefühlsmäßigen Reflexe kann Schopenhauer jenem Schlusse eine logische Bündigkeit erschleichen.
Das letzte Motiv für diesen Mißbrauch des Willensbegriffes scheint mir in folgendem zu liegen. Das Wesentliche und Originelle der Schopenhauerschen Leistung knüpft sich an zwei große Akzentverschiebungen innerhalb des philosophischen Weltbildes: zunächst daran, daß an die Stelle der typischen "Vernunft", die in den mannigfaltigsten Ausgestaltungen - von der "Weltvernunft" der Stoiker bis zur "praktischen Vernunft" Kants - als der subjektive und objektive Träger des Daseins zu gelten pflegte, jetzt der Wille in den Wurzelpunkt der Seele und der Welt gesetzt wird.
Und dann an das andere: daß gegenüber der nicht weniger optimistischen Verklärung der Wirklichkeit das Leiden der Welt in seiner ganzen Tiefe und Unwiderruflichkeit seinen ersten wirklich prinzipiellen Ausdruck fand.
Jene ganze Irrung Schopenhauers geht nun darauf zurück, daß er zwischen diesen beiden großen Denkresultaten, die an und für sich voneinander unabhängig sind, durchaus eine systematische Einheit schaffen wollte.
Darum mußten die Begriffe von Wollen und Fühlen so gedehnt oder geformt werden, daß jener in die nur seiner Äußerlichkeit eigene Alternative des Habens und Nicht-Habens den ganzen Gegensatz von Lust und Leid aufnahm; denn nun konnte aus dem Gewicht und der Extensität des Willensmomentes in unserem Leben das entsprechende Übergewicht des Nicht-Habens, d.h. des Leidens gefolgert werden; und nun konnte das Glück, als das bloße Aufhören des Leidens der Entbehrung, als etwas schlechthin Negatives aufgezeigt werden.

Darum hat Schopenhauer der Lust und dem Leide von vornherein nicht einmal diejenige seelische und begriffliche Selbständigkeit gegönnt, die er doch der Vorstellung läßt, sondern hat sie ihrem Wesen - nicht etwa nur ihrer Verursachung - nach als Befriedigung und Nichtbefriedigung des Willens bestimmt. Er hat damit ersichtlich das Qualitative des Gefühles, das Spezifische und Elementare seines Wesens, unterschlagen, das sich weder in Willen noch in Vorstellung auflösen läßt. Auf diese beiden aber mußte die Welt beschränkt werden, wenn die Willensmetaphysik die Begründung des Pessimismus werden sollte. Unser inneres Schicksal mußte, dem Willensbegriff gemäß, in Haben und Nichthaben zerrissen werden, und neben jenem konnte nur sie "Vorstellung" zugelassen werden, weil sie in ihrer Idealität und Objektivität auf die Entscheidungen des Pessimismus ganz ohne Einfluß bleibt.

Es ist ein denkwürdiges Schauspiel, wie Schopenhauer, der zu den freiesten und intellektuell reinlichsten Geistern der ganzen neueren Zeit gehört, sich hier von dem systematischen oder Stimmungsbedürfnis nach einer Einheit vergewaltigen ließ, die aus der völlig ehrlichen Auffassung seines Gegenstandes nicht hätte hervorgehen können.
Hätte er dem Gefühl seinen eigenen, der Logik des Willens tatsächlich unfolgsamen Rhythmus gelassen, so hätte die Willensmetaphysik sich nicht so einfach in den eudämonistischen Pessimismus fortsetzen können. Daß ihm, unter Ausschaltung der Besonderheit des Gefühls, die elementaren Faktoren der Menschenseele nur "Wille und Vorstellung" sind, enthüllt sich als Folge des systematischen Triebes, der aus der einen jener beiden großen Entdeckungen die andere meint logisch ableiten zu müssen. (S. 991)

Quelle: Georg Simmel: Philosophische Kultur, Frankfurt am Main 2008
Verlag Zweitausendeins (Nach Klaus Wagenbach, Berlin 1983)
ISBN 978-3-86150-887-8

(Zitate aus: Schopenhauer und Nietzsche, 1906, S. 935 bis 1104)




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