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DIE REISE VON GREIFSWALD NACH BAD OEYNHAUSEN
Zwei Briefe von Artur Reichow an seine kranke Frau Gertrud im Dezember 1945




Klicken zur Vergrößerung ! - Brief von Artur an Gertrud Reichow 1945 ( klicken zur Vergrößerung! )


[ Der erste Brief ist mit Bleistift geschrieben, zum Teil schwer entzifferbar; eindeutig identifizierbare Abkürzungen - wie "u.", "viell." oder "Bln." - wurden der besseren Lesbarkeit wegen ausgeschrieben, ansonsten Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originals beibehalten. Ellrich liegt im Harz. JR ]

Ellrich, 20.12.45
Meine ganz liebe Trude!

Täglich habe die Kinder und ich bei unserem schwierigen Unternehmen von Dir gesprochen. Nun sollst Du von mir einen zusammenhängenden Bericht haben, bis heute, Donnerstag. Also: die Fahrt hat an Mühen meine Erwartungen übertroffen, aber die Kinder an Tüchtigkeit und Bravheit ebenfalls. Nun bin ich heute bis direkt an die Grenze gekommen, habe den Passierschein und komme, falls ich eine Nacht bei Ruth
[ Ruth Rühling, geb. Reichow, seine Schwester, die bereits von Berlin nach Goslar gezogen war, später in Hannover lebte, gestorben 2005. JR ]
bleiben werde, Sonnabend oder Sonntag in Oeynhausen an. So wird die Reise also wenigstens nicht vergeblich sein, was ich zeitweise fast befürchtet habe. -
Nun von vorn: als Käthe uns am Sonntag verlassen hatte, kam der Zug gleich, fuhr aber mit erheblicher Verspätung ab. In Stralsund lagen wir 5 Stunden, um 17½ ging es los. Ankunft in Berlin gegen frühen Morgen. Das Abteil war noch leidlich geschützt gegen Kälte. Russen leuchteten gelegentlich hinein, doch habe ich nur einmal festgestellt, daß sie einen Koffer mitgenommen haben. In Berlin fuhren wir also gleich zu Dora Schmidt [ Schwester der Schwägerin Hildegard Reichow, JR ], die uns nett aufnahm, die Kinder mit Weißbrot behandelte und uns nachts gut erholen ließ. Meine Fahrt nach Werder [?]) wurde aber durch die Verkehrsverhältnisse verhindert.
[ Gemeint ist wohl das Werder westlich von Potsdam, heute Bundesland Brandenburg im Landkreis Potsdam-Mittelmark. JR ]
Es fahren nur ganz wenige Züge, sodaß man an einem Tage nur hin und zurück kommt, wenn man den ersten morgens schnappt. Den bekam ich nicht, der nächste fiel aus, sodaß ich erst am nächsten Vormittag hätte weiterkommen können, also über 2 Tage Aufenthalt. Nun war aber durch Plakate bekannt gemacht, daß vom 20.12. bis 3.I. absolute Grenzsperre ist. So entschloß ich mich, Werder auf die Rückreise zu verlegen. Am Dienstagmorgen kamen wir, da die S-Bahn zu spät für meinen 7° Zug begann, am Bahnhof Zoo an, als der bereits abgefahren war. Wir also in die S-Bahn, um ihn in Charlottenburg einzuholen. Auch dort war er bereits fort. Als wir dann auf dem Anhalter Bahnhof ankamen, sahen wir den 8.30 Zug gerade aus der Halle fahren. Nun hieß es warten bis 17° nachmittags. Du mußt Dir diese Fahrerei mal plastisch vorstellen. Und wenn es mal garnicht spannend genug war, mußte Jan plötzlich "klein" oder gar "groß" (dieses mindestens 2 x täglich. Bernd hält immer sehr lange aus. Meine Nerven hatten immer allerhand auszuhalten. Aber ich habe trotzdem fast nicht geschimpft mit den [ dem? ] Kleinen, u. Jan sagt immer wieder "mein lieber, lieber Papa". Aber auch von Dir sprechen sie immer. Weiter also: Am Anhalter Bahnhof war auch ein Lokal offen, dort gab es [ sogar? unleserlich JR ] Bohnenkaffee u. echten Tee, keinen


2.)
Ersatzkaffee, Tasse 10.- RM bez. 3.25. Einen Tee habe ich mir geleistet. Es war wunderbares Wetter bis jetzt. Gefroren haben wir überhaupt nicht, auch im Zuge war immer durch Mief geheizt. Nun begannen unsere Eßvorräte sich schon so zu lichten, daß mir Besorgnisse kamen. Eine Frau am Tische gab uns aber Kartoffelmarken, sodaß wir alle Kartoffeln mit Mohrrübengemüse essen konnten. Um 16° gingen wir zum Zuge, wo wir wieder einen ganz guten Platz bekamen. Leider warfen Russen 10 Minuten vor Abgang des Zuges alles aus dem Abteil heraus, sodaß es fast unmöglich war, wieder unterzukommen. Gott sei Dank brachte uns die Bahnhofsmission im (natürlich überfüllten) Packwagen unter. Der Zug ging nur bis Wittenberg. Dort übernachteten wir in einem bunkerartigen Warteraum, auf dem Boden auf der Decke liegend, die Rucksäcke als Kopfkissen, verhältnismäßig komfortabel, alle drei einträchtig nebeneinander. Am Morgen - 6.30 - brachte uns die nächste Etappe bis Bitterfeld u. gleich anschließend nach Umsteigen bis Halle. Dort wieder - also Mittwoch - Aufenthalt bis nachmittags 15.00. In den Zug, der nun über Nordhausen in Richtung Heiligenstadt fuhr, kamen wir nur deshalb hinein, weil wir gleich um die Maschine herumliefen u. von der anderen Seite in den Zug stiegen. Jan wurde oft von hilfsbereiten weiblichen Wesen auf den Schooß genommen. Ankunft in Nordhausen gegen 20°. Verpflegung bereits bedenklich knapp. Im Warteraum gab es eine Gänseschmalzstulle für jeden von einer gutgenährten Nachbarin. Und beim roten Kreuz - ein Wunder - süße Suppe. Aber die dummen Jungens wollten nichts essen, obwohl unser Brot schon rationiert war, 3 mal am Tage je 2 dünne Scheiben, wenig genug, da doch der Tag schon meist um4° begann. Ich habe 3 Teller Suppe dafür gegessen. Heute morgen - Donnerstag - fuhren wir also von Nordhausen, wo wir wieder komfortabel auf dem Fußboden genächtigt hatten, ab, aber nicht nach Heiligenstadt, sondern hierher nach Ellrich, ein Ergebnis der allerhand ??zähl??
Grenzübergang. Inzwischen war klar: Bis 19. ging es nicht mehr über die Grenze. Ab 20. Sperre. Schwarz hinüber ist nach Aussagen aller mit Kindern unmöglich u. nicht gut zu verantworten, da tatsächlich oft ohne Warnung geschossen wird. Nun kam der kritische Moment: Wäre gesperrt gewesen, wäre mir nichts übrig geblieben als wieder umzukehren, aber gänzlich ohne Verpflegung. Aber Gott sei Dank, sperrt man erst ab 23.12. So bekam ich also noch meinen Passierschein, mit dem ich morgen, Freitag, über die Grenze komme. Außerdem erstand [ich]


3.)
bei einem Bäcker für 20,- M ein großes Brot u. 6 Brötchen, sodaß ich aus der Sorge, die mich sehr beschäftigte, heraus bin. Hoffentlich komme ich morgen gleich weiter bis Goslar. Hier habe ich eine Privat-Unterkunft besorgt, u. seit 2° mittags - jetzt ists 20° - schlafen die Kleinen wie Murmeltiere, gleich durch bis morgen früh. Ich tue gleich dasselbe. Von Goslar aus kriegst Du mein Telegramm, das Du wohl früher hast als diesen Brief. Die Kleinen sind über alles Lob erhaben. Kaum hatte ich sie aus ihrem Schlaf in der Bahn gerissen zum Aussteigen, waren sie schon hellwach, und bald pfiffen und sagen [ soll heißen: sangen JR ] und jaulten sie wieder in bester Stimmung. -
(Fortsetzung folgt)

Wie mags Dir gehen, mein liebes, gutes Trudchen? Immer habe ich danach gefragt unterwegs. Ob ich Dich wohl schon gesünder antreffe? Hoffentlich. Mein Telegramm schicke ich mit Rückantwort, Telefonieren ist vielleicht zu riskant, falls niemand bei Scheuffele in der Wohnung ist. Es ist bitter, daß wir nun Weihnachten und vielleicht sogar Neujahr getrennt sein müssen. Aber andererseits ist kein Preis zu hoch dafür, daß die Kinder in guter Verpflegung sind, und vielleicht schaffe ich es doch noch zum 31.12., trotz der Sperre. Auf jeden Fall haben wir viel geschafft, wenn die Kinder in Oeynhausen sind.
Nun, meine Trude, sei nicht traurig zu Weihnachten, sondern freue Dich, daß Deine Familie sich wohl bei Deinen leiblichen Eltern befindet. Traurig ist, daß ich nun kein Material für Kuchen u.s.w. rechtzeitig zu Euch bringe, aber das kommt ja alles nach, hoffe ich.
Nun also eine ausgeglichene, hoffnungsvolle Stimmung für Weihnachten, einen guten Heiligen Abend, klare und zufriedene Festtage, hoffnungsvolle Tage am Ende des Jahres, glückliche Fahrt ins neue Jahr und kurz vor oder nachher frohes Wiedersehen mit Deinem Artur.
Grüße Käthe , Willi u. Kurt herzlichst und sage ihnen meine guten Wünsche fürs Fest u. ihre persönlich Zukunft.
An Dich denke ich jede Stunde, grüße Dich herzlichst und küsse Dich nochmals innig -
Dein Artur

Am 18. traf ich Lene Klotz in Berlin, ausg??? [ letzte Zeile unleserlich ] Mitte Dez. in Roggow gewesen!




[ Brief mit Tinte geschrieben ]
(Lohe bei Bad Oeynhausen)
23.12.45

Meine liebe, gute Trude!
Die erste Nacht in Oeynhausen liegt hinter uns. Gestern morgen kamen wir glücklich an und waren etwa um ½ 11° nach langem Marsch über Gohfeld und durch das Siekertal bei Euch. Gleich wollte ich auf der Lohe ein Telegramm aufgeben. Da aber die Post noch kein Telefon hat, sollte es erst am Montag, also morgen, zur Hauptpost gehen. Ich fuhr also mit Vaters Rad gleich runter zur Post u. hörte zu meinem Erstaunen, daß man hier noch nichts von der Eröffnung des Telegramm und Telefon-Verkehrs mit der russischen Zone weiß. Nun liegst Du also da und wartest auf das Telegramm und bist unruhig, da es nicht kommt. Das tut mir so leid. Zwar soll dieser Brief per Eilboten gehen, aber 5-6 Tage dauert es ja immer. Nun liegst Du also ohne einen Weihnachtswunsch zu Hause, und Deine Familie ist weit von Dir. Dafür sind aber unsere Gedanken unentwegt bei Dir, und sprechen tun wir fast dauernd von Dir. Mutter hat sich so gefreut über Deinen Brief. Deine Liste sind wir auch schon durchgegangen. Die Kinder spielen vergnügt in der warmen Küche, in der ein eiserner Ofen steht mit viel Ofenrohr (gleich links vom Eingang) gestern haben wir gleich zusammen Heu auf den Boden gehievt. Tante Jette schläft nun bei den Nachbarn (Lenchen),
[ Tante Jette, gestorben etwa 1949, Henriette Arnhölter, Schwester von Heinrich Arnhölter, dem Vater von "Trude". Nachbarn: Fam. Begemann, "Lenchen" Begemann, geb. Arnhölter; ihr Vater war ein Bruder von Heinrich A. ]

da ein Bett von den zweien aus dem Zimmer, in dem wir immer schliefen, verliehen ist an einen Kunden, der erst wieder ein anderes dafür geliefert bekommt. Jan schläft bei der Oma, Bernd bei mir. Die Butter ist knapp zur Zeit, da die eine Kuh schon Ende Dezember-Anfang Januar milch (melk) wird, die andere im März. Aber sonst wird wohl eine Menge mitzubringen sein. Wenn ich nur alles durchbringe! Eine Zigarre habe ich (mir) gestern abend schon genehmigt. Es ist hier alles beim alten. Die Eltern leben nicht schlechter als vor dem Kriege. Von der engl. Besatzung merken die Menschen sehr wenig hier (Ich kann mit diesem Tinten-Kuli noch schlechter als sonst schreiben.) -
Ich bin nun sehr froh, daß diese 7tägige Reise ein glückliches Ende gefunden hat. Ich möchte sie aber nicht gern noch einmal machen. Die Kinder haben sich wunderbar benommen, ich muß sie loben. Ich habe sie auch kaum beschimpft, trotzdem ich oft nervös genug war. Allein auf dem Heimwege vom Bahnhof mußte ich Jan 2x abknöpfen, erst für "klein" u. nach 10 Minuten für "groß", Im Gasthaus im Siekertal haben wir noch Einkehr gemacht. Als wir hier ankamen, war nur Tante Jette da, die Eltern kamen nach etwa einer Stunde und waren hocherfreut. Sie hatten sich schon viel Sorgen gemacht. Nun will ich Dir noch die Fortsetzung der Reise geben.


Bis Donnerstag [ in Ellrich, JR ] war ich gekommen. Die Kinder schliefen von 2° nachmittags bis 6° des folgenden Morgens durch. Dann wurde aufgestanden. Eine junge Heiratskandidatin, die auch bei den Leuten wohnte, half die Kinder anziehen. Diese ging übrigens, da sie schon einmal über die Grenze gewesen war und ein zweites Mal nicht gestattet wurde, als Gespannführerin mit hinüber (das Gepäck wurde vom Wagen hinübergebracht) Wir verstauten also unser

2)
Gepäck und gingen neben den von Kühen gezogenen Wagen her. Jan war mutig und hatte die Kühe schon oft angefaßt. Kurz vor dem Schlagbaum war erstmal eine Wartepause, dann ging es durch den ersten, wo nur unsere Registrierscheine geprüft wurden. Dann ging es etwa 500 m weiter, wo eine erneute Prüfung und Gepäckkontrolle war. Einiges wurde auch von den Russen geklaut, z.B. ein guter Koffer einfach ausgeleert und mitgenommen. Jan faßte die eine Kuh am Geschirr an und sang dauernd auf den Text: "ich bin ein guter (der beste) Kühelenker" u.s.w. Dann kam noch eine "ärztl." Untersuchung. Entlausung durch Einspritzen von einem weißen Pulver unter die Kleider. Dann gab es einen Stempel auf das Handgelenk und einen provisorischen Ausweis, und dann bekam man auch schon die ersten Engländer zu Gesicht. Ein Aufatmen war bei allen spürbar. In dem Harz-Kurort, dessen Bahnhof (nicht weit von Goslar) unseren neuen Aufenthaltsort bildete, gab es nun erstmal für jeden 6 Brötchen, 25 gr. Butter, 199 gr. Wurst und ein warmes Mittagessen. Ich habe mich satt gegessen wie lange nicht. Eigenartigerweise versagte Bernds Appetit, und auch Jan entsprach im Essen nicht meinen Erwartungen. Von diesem Ort, dessen Name mir entfallen ist, brachte uns eine Fahrt bei herrlichstem Frühlingswetter nach Osterode, wohin wir alle ins Durchgangslager mußten. Hier begann nun ein ewiges Anstehen, Registrieren u.s.w., daß die Geduld auf harte Proben gestellt wurde. Ein Transport sollte uns erst am Sonnabend Nachmittag über Hannover in Richtung Westen bringen. Da habe ich mit vieler Mühe erreicht, daß ich einzeln reisen durfte (hier bedarf es seit einigen Tagen wieder einer Reisegenehmigung, außerdem verkehren Sonntags gar keine Züge) Nun konnte ich Marschverpflegung empfangen, auch nahm ich noch einige Teller Mohrrübeneintopf zu mir, und kam dann noch Freitag abends 19.45 auf die Fahrt, die nach zweimaligen Umsteigen um 23° in Hannover endigte. Dort gerieten wir gleich nach der Ankunft in eine Razzia der Engländer, die etwa 3½ Stunden dauerte. Da ich die Kinder bei mir hatte, durfte ich aber bei den Frauen bleiben und mußte nur in der Vorhalle so lange warten. Anschließend konnten die Kinder noch 2 Stunden auf dem Fußboden im Bunker schlafen - was sie übrigens als komfortable Möglichkeit des Schlafens bezeichneten - dann kam auch schon um 5° morgens der Zug nach Oeynhausen, wo wir gegen 8° eintrafen. Es war natürlich gepfropft voll, aber es ging doch. Die Kinder fanden wieder gute Seelen, bei denen sie auf dem Schooße ein bißchen schlafen konnten, und waren im übrigen aber schon ziemlich munter wegen der bevorstehenden Ankunft. Da man vom Bahnhof nach der Stadtseite hin nicht passieren kann, mußten wir, wie erwähnt, den großen Umweg machen, womit die Kinder sich aber gut abgefunden haben. Gut hat sich auf der Reise die Einrichtung mit den Handschuhen bewährt. Nun ist alles überstanden und ich bin froh, daß die Kinder hier sind. Sie toben augenblicklich in ihren Holzschuhen draußen herum und sind schon ein bißchen übermütig. Sie werden ja stark

3)
ins Kraut schießen hier. Aber auch das wird reparabel sein. Mutter backt Kuchen, während ich schreibe und Tante Jette tut sitzen, nichts als sitzen. Was meine Stimmung stark bedrückt, ist, daß Du zu Weihnachten keine Telegramm von mir hast und nun auf Nachricht warten mußt, außerdem, daß ich nicht zu Neujahr bei Euch sein kann. Aber es ist doch gut, daß wenigstens die Kinder sichergestellt sind. Ich habe in Osterode auch den Vermerk auf ihren Flüchtlingsschein bekommen, nach Anstrengung aber erst, daß sie hier ihre Lebensmittelkarten bekommen. Zu Ruth bin ich nicht herangekommen, weil dadurch die fahrplanmäßige Folge meiner Züge zerstört worden wäre, denn der verkehrslose Sonntag stand bevor, und ich wäre dann vielleicht erst Montagnacht, also Heilig-Nacht, hier angekommen. Ob ich auf der Rückreise ankehren kann, muß ich erst abwarten. Es besteht die Möglichkeit, daß ich vielleicht erst gegen den 10. Januar in Greifswald ankomme. Hoffentlich geht bei Euch alles klar, auch mit den Lebensmittelkarten. Heute soll noch ein Päckchen fertig werden mit Wurst für Dich. Butter gibt es erst in 14 Tagen, dann aber sicher gut. hat Frau Lamp sich mal wieder bemerkbar gemacht, oder die Rodes aus Mesekenhagen? Ist Kurt schon nach Schwaan gefahren? Hoffentlich habt Ihr Euch wieder einen so guten Kuchen gemacht wie zu meinem Geburtstag. Aber meine Hauptsorge: wie gehts Dir gesundheitlich. Ich warte nun so begierig auf Nachricht von Dir, die ja auch wohl zu meinen Zeiten hier noch ankommen wird.
Grüßen soll ich von allen,
vor allem auch von Bernd u. Jan,
die trotz alles Neuen doch immer wieder von Dir sprechen. Morgen abend will ich ihnen ein bißchen weihnachtlich machen. Aber meine Gedanken werden doch bei Dir sein. Leider kann ich nun doch unseren guten, beziehungsreichen Weihnachtsbaum nicht miterleben. Trösten wir uns aber, denn mit dem Herüberbringen der Kinder ist etwas Notwendiges verwirklicht worden, das seine guten Folgen für lange Zeiten spürbar machen wird.
Mein liebstes, bestes Trudchen!
Alles, alles Gute für 1946 für Dich u. uns, für Dich aber vor allem die ersehnte Gesundung.
Innige Gedanken u.
einen lieben Kuß von

Deinem Artur
und den Kindern




DIE SITUATION IN GREIFSWALD

(S.42-45 aus dem Erinnerungsbuch für Jan, Gertrud Reichow 1990):

Klicken zur Vergrößerung ! - Erinnerungen von Gertrud Reichow an 1945, aufgezeichnet 1990 ( klicken zur Vergrößerung! )

Anfang Oktober (1945) ging ich in die Universitätsklinik zu Prof. Katsch. Die Röntgenaufnahmen ergaben einen Abszeß am 7. + 8. Brustwirbel. Ich mußte sofort dableiben, und weil man kein Gipsbett anlegen konnte, wurde ich ganz flach hingelegt. Wir lagen zu 10 Frauen auf dem Saal, auch Russinnen darunter. Das Essen war jämmerlich, trockenes Strohbrot und Wassersuppe. Keine Medikamente für TB. Der befreundete Arzt brachte mir Butterbrote, die er von Patienten geschenkt bekommen hatte und homöopathische Arznei. Artur und die Kinder wurden von einer älteren Flüchtlingsfrau so gut es ging, betreut. Eines Tages stand dann auch noch Kurt Rettmann barfuß und mit zerfetzter Kleidung vor der Tür. Er blieb dann bei uns, bis wir 1947 in den Westen gingen. Er hatte Erfahrung im Betteln, und er ging noch ein paarmal in seiner Gefangenenkleidung über Land und kam dann auch mit Butterbroten zurück, die von allen mit Heißhunger erwartet wurden. Bald mußte er aber auch arbeiten, Holz hauen. Abends in der Dämmerung zogen Artur und Kurt los auf die Felder und ernteten verbotenerweise Kohl, Mohr- und Steckrüben, auch Kartoffeln für den Winter. Es war ja nur Mundraub, und die Begriffe der Gebote hatten sich sowieso total aufgehoben. Man war stolz, wenn man Erfolg im "Klauen" hatte.
Sogar einen Kanonenofen hatten die beiden Männer aus einem Schrebergartenhäuschen "besorgt". Wir konnten ihn mit Holz heizen und darauf die nassen Brotschnitten rösten. D.h.: Ich kam erst Ende November dazu, wurde auf einem Karren, der einen Sargähnlichen Aufbau mit Planendach hatte, nach Hause transportiert. Die Kinder standen erwartungsvoll an der Straße und empfingen mich und warfen einen Blick in die kleinen Fensterchen zu mir herein. Inzwischen war auch Tante Käthe (die Frau von Kurt Rettmann) und Familie mit dem Flüchtlingsstrom bis Greifswald vorgedrungen und bei uns untergekommen. Sie war besonders lieb zu mir und kochte nun die Wassersuppen, nach deren Verzehr die Männer 8 x in der Nacht zum Klo liefen. Die Spülung lief immer, und die Gerüche, die sich im Badezimmer ausbreiteten und von da in die Wohnung, waren umwerfend.
Allmählich sahen wir ein, daß die Kinder fort mußten, wenn sie gerettet werden sollten. Jan hatte einen fest gespannten dicken Bauch. Wir hatten den ersten Kontakt mit meinen Eltern nach dem Krieg. Sie waren bereit, die Kinder zu nehmen. Kurz vor Weihnachten machte sich Artur mit den beiden auf den Weg - es waren 7 Reisetage. Als Proviant hatten sie einen Koffer voller Brotschnitten, die alle auf dem Kanonenofen geröstet worden waren d.h. getrocknet. Auf den Bahnhöfen breitete Artur seine Kriegsdecke aus und schob ihnen ihren Rucksack als Kopfkissen unter den Kopf. Sie waren trotz aller Strapazen immer bereit, den Mitreisenden ihre Russenlieder vorzusingen.
Zu Weihnachten waren sie dann auf der Lohe, und ich war glücklich, daß sie dort gutes Essen hatten. Mein Vater hielt außer einer Kuh auch noch 2 Schafe, so daß auch noch Wolle für Pullover und Strümpfe da war. Als Artur zurückkam, brachte er in einer Kiste, die mein Vater mit Gurten zum Tragen auf dem Rücken und ebenso als Sitzplatz angefertigt hatte, Butter, Eier, Schinken und alle Arten von Lebensmitteln mit, die uns für die nächste Zeit über Wasser und in Stimmung hielten.



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