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WDR 3 Konzert (Sendung) 13. September 2007, 20:05 - 22:00 Uhr
Raga Puriya Kalyan
Indische Abendmusik mit Sitar und Flöte:
Shahid Parvez, der nordindische Sitarspieler,
im Dialog mit dem südindischen Flötisten Shashank

vgl. auch die Darstellung des gleichen Ragas (im gleichen Rhythmus Rupaktal) bei Shivkumar Sharma, CD 1 der World-Network-Reihe, oder hier an anderer Stelle auf dieser Website.

Chronologische Übersicht der Interpretation

Denkt man sich den Grundton (wie immer in der indischen Musik) als C, so hat man in diesem Raga mit der Entfaltung der folgenden Tonreihen zu tun:
aufsteigend  H Des E Fis A H C
(wobei  H Des  wie  H Cis  klingt, so dass die Folge  H Cis E Fis A  - vorausgesetzt man behält den Grundton C im Ohr - wie eine andere "Tonalität" klingt, es ist die Farbe "Puriya" in diesem Raga.)
Die Farbe "Kalyan" erlebt man in dem anderen Segment der Skala:
absteigend  C H A G Fis (E Des C).
Typische Wendungen:  Des Fis E und Fis E Des C.

So ist die Charakteristik des Ragas in seiner nordindischen Form; die Skala ist in Südindien bekannt als GAMANASHRAMA.

Es ist gut, wenn man sich auf die Ruhe einlässt, mit der die einzelnen Bereiche des Ragas entfaltet werden; beide Instrumente haben etwa gleichen Anteil daran. Der eigentliche "Alap" dauert rund 30 Minuten und dient allein der melodischen Darstellung des Ragas, die Rhythmusinstrumente schweigen.


0:00 - 0:37 Einstimmen und Überprüfen (die Resonanzsaiten der Sitar sind auf die Skala des Ragas eingestimmt)
ALAP in Raga Puriya Kalyan (Länge 29:50)
0:37 bis 2:58
3:01 bis 4:30
Sitar
Flöte
4:35 bis 7:18
7:20 bis 10:31
Sitar
Flöte
10:39 bis 13:46
13:47 bis 17:38
Sitar
Flöte
(Achtung, im folgenden Abschnitt erreicht - "zelebriert" - die Sitar die höhere Oktave, Flöte desgleichen!)
17:39 bis 20:55
20:57 bis 24:43
Sitar
Flöte
24:45 bis 27:15 Sitar
bereitet durch gleichmäßiges Pulsieren neuen Abschnitt (JHOR) vor
27:17 bis 29:17 Flöte desgleichen
29: 43 (bis 29:48)
0:00 bis 2:27 Sitar (beschleunigt und beginnt das JHOR, einen Formteil, in dem sich rhythmisches Gleichmaß regt, Vorstufe zum Einsatz der Perkussion)
JHOR (Länge 9:37)
2:28 bis 5:16
5:17
bis 6:41
Flöte
Sitar (heftig!)
(Beifall)
folgen allmählich verkürzte dialogische Wechsel:
6:49 bis 9:36 Flöte Sitar
Fl. Sit. Fl. Sit. Fl. Sit. Fl. Sit. Fl. Sit. Fl. Sit. ...
(Beifall)
GAT Raga Puriya Kalyan (Länge 26:07)
(beginnt mit Perkussionseinsatz)
(ab 0:00)Composition 1
(ab 12:58)Composition 2

Der besondere Reiz dieser Aufnahme liegt im rhythmischen Miteinander der Melodie- und Perkussionsinstrumente. Ich habe Schwierigkeiten gehabt, die 1 im rhythmischen Zyklus Rupaktal (7 Zählzeiten) auszumachen, da ich vergeblich eine Hauptbetonung gesucht habe, stattdessen Betonungen auf Zählzeit 4 und 6 zu hören glaubte. Als Ermutigung für Hörer mit ähnlichen Schwierigkeiten zitiere ich im folgenden aus einem Mailwechsel mit dem Berliner Tablaspieler Martin Keck, der Schüler des indischen Meisters Pandit Sankha Chatterjee ist.
[ s.a. www.sankha.net ]



Jan Reichow:
Ich möchte die Aufnahme (Raga Puriya Kalyan) analysieren, habe aber Probleme: ein Tala mit 7 Beats, also wohl Rupak oder Tivra.
ABER: in beiden Fällen müsste es lauten  3 + 2 + 2 ;
ich höre aber immer  2 + 2 + 3 .
Die Frage also an Sie: wo liegt die "Eins"?
Eigentlich eine Kinderfrage, die mir etwas peinlich ist. Oder?

Martin Keck:
Finde ich überhaupt nicht...

Jan Reichow:
Ich hatte den Eindruck, dass die Tabla - wenn man  3 + 2 + 2  denkt - merkwürdigerweise die beiden Zweier mit einem tiefen Schlag markiert, während die  1  (des Dreiers bzw. des Ganzen) fast unbetont daherläuft.

Martin Keck:
Das hängt aus meiner Sicht mit Khali zusammen.
Khali bedeutet "leer", auf Tabla bezogen ist es die gedämpfte/geschlossene Spielweise (im Gegensatz zur offenen/resonanten) der Bayan (Basstrommel der Tabla).
Die Spielweise bedeutet, dass die Basstrommel entweder gar nicht oder nur mit der flachen Hand gespielt wird ( ka, ke, ki, kat ), wogegen in der offenen Spielweise (bei  sam  und  tali ) ein Finger die Bayan klingen läßt.
So wird aus  ta  (ohne Bayan):  Dha  (mit Bayan, klingend),
aus  tin  wird  Dhin ,
aus  te  wird  Dhe  usw.

Wie bei Ebbe und Flut gehören sam bzw. tali und khali immer zusammen. Ein Schüler, der wiederholt "vergisst" in den Khali-Teil zu wechseln, wird von Sankha stark gerügt... Wenn die Tabla "nur" begleitet, sind die Solisten auch darauf angewiesen, wg. der Orientierung, da der Wechsel nach khali und zurück den Zyklus eines Durchgangs verdeutlicht (im Jazz würde man sagen: eines Chorus, statt khali dort übernimmt die "bridge" eine ähnl. Funktion innerhalb z.B. eines A-A-B-A Schemas).

Bei der Tintal (16 Beat)-Grundform (Theka) sieht das z.B. so aus:
Dha Dhin Dhin Dha    (sam)
Dha Dhin Dhin Dha   (tali)
ta tin tin ta     (khali)
Dha Dhin Dhin Dha  (tali)
Beim Rupak-Theka so:
tin tin take  |  Dhin Dhage Dhin Dhage
Das Besondere: Die Form beginnt mit Khali. Mit dem ersten  Dhin  kommen die Basstöne hinzu.
 1 2 3  |  1 2 1 2  
(entspricht  3 + 2 + 2  ( =7 )  beats, also
tin tin take | Dhin Dhage Dhin Dhage;
auf  take  bzw.  Dhage  fällt 1 beat)

So erscheint der Anfang "unbetont".
Dabei spielen wir Khali gar nicht mal unbetont oder ohne Akzente, nur eben - "leer", nicht-klingend (und auch das ist nur auf die Bayan bezogen, die Dayan (auch Tabla, die Melodietrommel) spielt quasi unbeeinflußt ihren Part.

Jan Reichow:
Danke, ich bin begeistert!

Aber die Künstler tun auch alles, um die Sache raffiniert zu verschleiern, oder?
Ich lege Ihnen mal ein Blatt mit ersten Notationsversuchen bei.


Jan Reichow - Notationsversuch der Themen des Raga Puriya Kalyan (145K)



Martin Keck:
Das rhythmische Konzept ist so (nahezu unendlich) weitreichend, dass wir Westler es kaum verstehen können, obwohl es nachvollziehbar wird, wenn man die Lern- und Trainingsjahre (Jahrzehnte) berücksichtigt, und zwar innerhalb der traditionellen Guru-Shishya-Parampara, also Lehrer-Schüler-Beziehung, die mit einem Musikunterricht in unserem Sinne gar nicht vergleichbar ist, wie Sie sicher wissen.
Aufteilungen wie  3 + 2 + 2  spielen irgendwann keine Rolle mehr. Inder zählen nicht wie wir, sie haben die 7 Beats "im Blut", letztlich wie eine zeitliche Einheit von Beat 1 bis zum nächsten Beat 1 des zweiten "Taktes". Dazwischen kann es so viele Unterteilungen geben, wie Fantasie und Könnerschaft hergeben. Meister sind sogar in der Lage, den Zeitraum von 7 Beats z.B. in 9 oder 15 Einheiten zu unterteilen.
Ich lerne z.B. gerade, 8- Beat (=16 Strokes) in 9-Beat übergehen zu lassen, 18 halbe Beats (Strokes) sind dann z.B. in Patterns von 3-2-4-3-2-4 unterteilt. Natürlich gilt, zeitlich gesehen, 8-Beat = 9-Beat (d.h. die 9 Beats müssen etwas schneller ablaufen, um der Periode von 8 Beats zu gleichen).
Ein 9-Beat-Tal kann verstanden werden als  4 + 5 , als  5 + 4 ,
als  4 1/2 + 4 1/2 , als  3 + 1 1/2 + 1 1/2 + 1 + 2  etc.
In der Praxis ist das nicht so schwer, wie es als Zahlenspiel aussieht, da man mit allem mitwächst.

Ist Ihnen aufgefallen, dass irgendwann während der Mrdangam-Phase das Pattern  3-2-2  (  1 2 3 - 1 2 - 1 2  ) doppelt so schnell gespielt wird? Es ist alles möglich, so können Sie den Takt - die 7 beats - in 2 Hälften -  3 1/2 + 3 1/2  - spalten, wobei das nur der Anfang einer neuen Serie von möglichen Variationen ist Das Ganze kann auch über 2 und mehr Takte erweitert werden, wobei es dann innerhalb des Ganzen zu Aufteilungen kommen kann, die den Taktstrich in der Mitte völlig ignorieren. Spätestens hier fliegen Sie (und ich) als Mitzähler gnadenlos raus...!
Dann müssen Sie in jedem Fall noch berücksichtigen, dass das Tempo zwischendrin mal beschleunigt wird (ich meine nicht mal die größeren Tempowechsel, die auf eine stille Absprache mit dem Solisten vom Tablaspieler initiert werden), da muss man sich ganz schnell anpassen, beim Mitzählen. Und glauben Sie ja nicht, dass es keine Fehler gibt, von den Musikern: auch da kann es zu "Verzählungen" kommen, wie mir Sankha versicherte. Wenn es Ihnen, Herr Reichow, also nicht gelingt (mir passiert das oft), mitzuzählen und "drin" zu bleiben, dann könnte es hier und da auch ein Fehler der Musiker sein...
Indische Musiker sind sehr geschickt im Überspielen - ohne ein "Gesicht" zu machen!
Manchmal, wenn das Raga (Rupak) Thema - oder die ersten Anfangstöne - sehr klar zitiert wird, könnte der Grund sein, die allgemeine Orientierung unter den Mitmusikern wieder herzustellen.

Was sich in den 26 Minuten dieses Teils abspielt, dafür ist die klassische Notation eigentlich nicht adäquat. Nicht dass es nicht möglich wäre - für eine Doktorarbeit etwa - aber was sich wirklich abspielt, ist für jemanden, der vielleicht dieses Notenmaterial oder Transkript studieren möchte, nicht wirklich erfaßbar.. - so komisch es klingt: die Noten sind wie die Bäume, die einen nicht das Ganze, also den Wald, erkennen lassen. Die indischen Musiker denken zwar rhythmisch (selbst wenn sie Melodien spielen), aber in der Praxis/Performance kann nicht mehr gedacht werden. Das Gedächtnis sitzt nicht im Kopf, sondern in den Händen (in Form von antrainierten Gewohnheiten) - buchstäblich! auch Sankha ist dieser Ansicht! - und die Hände spielen quasi automatisch, geführt von einem einfachen "Denken-in-großen-Bögen".



(Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Martin Keck)



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