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Jan Reichow > Startseite > Fundstücke [Stand 19.02.2010]

Fundstücke

#43 Dieses ewige Gedudel
#42 Leben - Seelentragödien
#41 Schnickschnack - Skalen
#40 Gehirnforschung - Schnickschnack - arabische Musik
#39 Aufführungspraxis bei Stockhausen
#38 Greifzange und Ellenbogen
#37 Das Böse
#36 (eine neue Meinung zu) Klaus Theweleit
#35 Vorhersagbarkeit
#34 Wirklichkeit
#33 Menschheitsfamilie
#32 dies und das - Streichquartett
#31 Gehirn - Orchester
#30 Glück - Tag
#29 Demokratie - Kraft
#28 Lunge - Stimme
#27 Geburt - Heiliges
#26 Kultur - Kultur
#25 Humanismus - Evolution
#24 Wetter - Stimmung
#23 Plebiszit - Kultur
#22 Eisenhans - Potter
#21 Radio - Kultur
#20 Körper - Geist
#19 Wasser - Musik
#18 Natur - Bild
#17 Welt - Glauben
#16 Gewalt - Wunderhorn
#15 Postkutsche - Tempo
#14 Maschine - Welt
#13 Niedergang - Qualität
#12 Bücher - Brötchen
#11 Islam - Westen
#10 China - Italien
#9 Leben - Kunst
#8 Tierbilder - Menschenbilder
#7 Ganapati - Nazigruß
#6 Kultur - Umweg
#5 Schuld - Ehre
#4 Religion - Arbeit
#3 Kinder - Scheidung
#2 Oud - Liebe
#1 Keks - Besitz
Jan Reichow in his study - Digitalphoto 02/2008 ©  J.Marc Reichow

Fundstück #43 "Dieses ewige Gedudel" - George Sand und dem Jazz zur Ehre

Aus:
Das manische Auge
Die ehrgeizigste Feldstudie, seit es Jazz gibt:
Der Fotograf W. Eugene Smith verbrachte acht Jahre in einem Loft, in dem Jazzmusiker probten.
von Andrian Kreye / Süddeutsche Zeitung 18. Februar 2010 S. 11
blogs.sueddeutsche.de/feuilletonist

(...)
Es sind aber vor allem die Musiker, um die sich hier alles dreht. In den Lofts stehen Klaviere und Schlagzeuge. Im vierten Stock lebt der Musiker und Arrangeur Hall Overton. Weil es nur wenige Probenräume gibt, die keine Stundenmiete verlangen, und nur wenige Privatwohnungen, in denen Klavier und Schlagzeug stehen, wird das Gebäude 821 Sixth Avenue schon bald eines der wichtigsten Hangouts der Jazz-Welt. Zu den Musikern, die hier herumhängen, gehören Thelonious Monk, Charles Mingus, Miles Davis, Roland Kirk, Zoot Sims, Albert Ayler und Ornette Coleman.
1740 Tonbänder mit rund 4000 Stunden Aufnahmen fand Sam Stephenson, Dozent für Documentary Studies an der Duke University, 1998 rein zufällig im Nachlass von Eugene Smith im Archiv der University of Arizona. Zwölf Jahre lang hat er Filme und Bänder ausgewertet. Noch muss er mit seinen Mitarbeitern gut ein Drittel der Aufnahmen abhören und Tausende von Bildern sichten. Die ersten Ergebnisse wurden nun veröffentlicht - in einem Buch, einer Ausstellung, in Radiosendungen und im Internet. Eines kann man jetzt schon sagen - das "Jazz Loft Project" ist das ehrgeizigste Forschungsprojekt zum Thema Modern Jazz, das je unternommen wurde. Der wahre Wert dieses Fundus, sagt Stephenson, sei die oft schlechte Musik auf den Bändern.

(...) Für die Wissenschaft sind solche banalen Momente historische Funde, sagt Stephenson. "Bisher wurde die Geschichte des Jazz vor allem im Blick auf großartige Momente und Leistungen erzählt", sagt er. "Aber für jeden dieser genialen Momente gab es Tausende, wahrscheinlich Millionen Momente, in denen schlechte, mittelmäßige, uninspirierte Musik gemacht wurde. Nehmen Sie John Coltranes ,A Love Supreme" - das sind 33 Minuten brillanter Musik. Aber wieviel Zeit verbrachte Coltrane damit, herumzududeln, um diesen Punkt zu erreichen? Ungleich viel mehr, und doch bezieht sich die Geschichtsschreibung ausschließlich auf diese 33 Minuten. Smiths Aufnahmen und Bänder geben uns nun eine Ahnung von einer Subkultur, von der Welt abseits der Bühnen und Clubs, dem nächtlichen Leben der Musiker und Künstler, die uns bisher verschlossen blieben. Ganz authentisch, denn die meisten Musiker wussten nicht, dass sie aufgenommen wurden."
Der Jazz hatte zu diesem Zeitpunkt seine Richtung verloren. "Charlie Parker lastete wie ein Schatten über uns", sagt einer der Musiker auf den Bändern. "Parker hatte alles gesagt, was zu sagen war, so schien es uns." In den Lofts aber formiert sich ein neuer Aufbruch. Ornette Coleman verbringt ganze Tage allein am Klavier. Der Pianist Thelonious Monk probt mit seiner ersten Big Band, die Smiths Nachbar Hall Overton für ein Konzert in der Town Hall 1959 für ihn arrangiert. Was da zwischen den dissonanten Akkorden Monks und den eleganten Linien der Bläsersätze entsteht, ist eine Musik, die sich von der rebellischen Virtuosität des Be Bop befreit und ein neues Musikverständnis schafft.
(...)




Aus: Zukunftsmusik für den Salon
Vor 200 Jahren wurde der große Komponist Frédéric Chopin geboren
Von Wolfram Goertz
DIE ZEIT 18. Februar 2010 S.53

(...)
Dabei schuf sich Chopin diese Organismen selbst, nur selten spürt man die Nähe formaler Matrizen. Dass seine Kompositionen oft improvisatorisch wirken, nimmt nicht wunder: Chopin liebte es, ganze Tage am Klavier zu sitzen und vor sich hin zu spielen - George Sand wird das später, bereits etwas lieblos, dieses 'ewige Gedudel' nennen -, und oft gelang es ihm, Spontaneität derart in den Schaffensprozess zu integrieren, dass sie im fertigen Werk wie der Ausdruck drängend geborener Gedanken wirkte.
(...)



Aus: Ernst Burger: Frédéric Chopin.
Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten. München 1990

George Sand (Histoire de ma vie. Paris 1855), "die annähernd acht Jahre lang sozusagen Tür an Tür mit Chopin lebte":

Sein Schaffen war spontan, bewundernswert. Seine Einfälle kamen, ohne daß er danach suchte, unvorhergesehen. Manchmal ganz plötzlich am Klavier, vollkommen und in ihrer ganzen Erhabenheit, oder sie erklangen während eines Spaziergangs in ihm, und dann beeilte er sich, sie sich selbst auf dem Instrument vorzuspielen. Dann aber begann die entsetzlichste Arbeit, die ich je erlebt habe. Es war eine Reihenfolge von Anstrengungen, Unschlüssigkeit und Ungeduld, um gewisse Einzelheiten des Themas, das er im Kopf hatte, festzuhalten: was er als Ganzes ersonnen hatte, analysierte er nun beim Niederschreiben peinlich genau, und seine Sorge, das, was ihm vorschwebte, nicht vollständig wiederzufinden, stürzte ihn förmlich in eine Art Verzweiflung. Er schloß sich tagelang in sein Zimmer ein, weinte, lief auf und ab, zerbrach seine Schreibfedern, wiederholte und änderte einen Takt hundertmal, schrieb ihn nieder und strich ihn ebensooft wieder aus, um am nächsten Tag seine Arbeit mit der gleichen minutiösen, verzweifelten Beharrlichkeit fortzusetzen. So verbrachte er oft sechs Wochen lang an einer Seite, um sie schließlich wieder so aufzuschreiben, wie sie beim ersten Entwurf gewesen war.

[ eingegeben am 19.02.10 ]
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Fundstück #42 Das Leben oder: die wahren Seelentragödien im beengten kleinbürgerlichen Herzen

Sich kaputtphantasieren
Martin Walser entdeckt in seiner großartigen Novelle "Mein Jenseits" die Glaubensbereitschaft
von Iris Radisch

Es gibt drei Sätze in diesem großartigen Büchlein, die einem in drei Sekunden den ganzen Martin Walser erklären. Sie gehen so: "Ich ging immer an einer Wand entlang, die würde aufhören, dann begänne das Leben, die volle Berührung. Das war ein Irrtum. Diese Wand war das Leben." Darum ging es schon immer. Durch die Wand zu kommen, notfalls nur mit dem Kopf. Die volle Berührung zu haben, maximalen Kontakt mit dem Leben.
Und dann die Resignation, die man, nachgewürzt mit einer Prise kleinbürgerlichen Stolzes, zu Protokoll gibt. Alle waren sie so. Franz Horn, Helmut Halm, Gottlieb Zürn waren so. Selbst der alte Goethe in Walsers Goethe-und-Ulrike-Roman Ein liebender Mann war so.
Alle Walser-Helden sind Männer, die mehr vom Leben wollen, als es zu geben bereit ist. Und die am Ende zu einer irgendwo lebbaren Verzichtsmilde finden, die aber nur bis zum nächsten Roman anhält. Dann beginnt alles wieder von vorne. Dann sind sie wieder gebeutelt von Neid, von Gier und Angst. Dann grämen sie sich wieder, dass jeder andere ein besseres Stück vom Leben haben könnte. "Er hat praktisch nicht gelebt", heißt die typische Walser-Klage, "hinter ihm war so ziemlich nichts", und in ihm "herrschte eine Leblosigkeit wie nach einer Katastrophe" (über Helmut Halm in Ein fliehendes Pferd). Und jeder hört die Klage gerne, weil sie unterstellt, dass die wahren Seelentragödien nicht auf der großen Bühne, sondern im beengten kleinbürgerlichen Herzen stattfinden. Mitten unter uns.

Aus:
DIE ZEIT Nr. 7 11. Februar 2010 S. 45




"Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit verbracht hatte, wodurch mein Spezifisches bis ins Innerste vermittelt war. Spüren mochte ich, dass, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit einzuholen."
Theodor W. Adorno: Auf die Frage: Was ist deutsch (Sendung DLF 9. Mai 1965)
Stichworte / Kritische Modelle 2 (Frankfurt/M 1969) S. 107


"...die Erfahrung, dass in der Jugend unendlich Vieles als Versprechen des Lebens, als antizipiertes Glück wahrgenommen wird, wovon dann der Alternde, durch die Erinnerung hindurch, erkennt, dass in Wahrheit die Augenblicke solchen Versprechens das Leben selber gewesen sind. Die versäumte und verlorene Möglichkeit errettet der letzte Mahler, indem er durchs umgekehrte Opernglas die Kindheit betrachtet, in der es noch möglich gewesen wäre."
Theodor W. Adorno: Mahler (Frankfurt/M 1960) S.196 (zielt auf 3., 4., 5. Satz Lied von der Erde)

[ eingegeben am 14.02.10 ]
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Fundstück #41 Weiterer Schnickschnack zu musikethnologischen Fragen

Betr.: Musik: Die Sprache des Gefühls
Die Biologie der Musik
Von Helmut Martin-Jung Sueddeutsche Zeitung vom 23.1.2010
[ www.sueddeutsche.de/wissen/776/501037/text ]

Der Denkfehler besteht schon darin, von Tonleitern auszugehen, als seien sie primäres Material. Tonleitern sind ein ziemlich spätes, "künstliches" Produkt.
Und dann ausgerechnet den Unterschied zwischen kleiner und großer Terz zum Maßstab der Gefühle zu machen, das ist - in der Orientierung an Dur und Moll - lächerlich eurozentristisch.
Dazu passt, dass der Autor bei Tonleitern, die nicht zum westlichen System gehören, sofort ins Schwimmen gerät.

Indische Ragas leiten sich zwar meist von Tonleitern her, die auch im Westen verwendet werden, operieren dann aber mit viel kleineren Intervallen.
Wenn man als Tonleitern des Westens tatsächlich nur die Dur- und die Moll-Tonleiter betrachtet (was für die Zeit vor 1720 und nach 1855 ohnehin zu eng gefasst wäre), so handelt es sich dabei um Skalen, die auch in Indien vorkommen, - ohne jedoch eine Sonderstellung unter den hundert anderen Möglichkeiten zu genießen, die durchaus nicht mit kleineren Intervallen operieren: sie kommen sogar im Wesentlichen mit den gleichen Intervallen wie der Westen aus (die tatsächlich praktizierten Abweichungen kann man in diesem Zusammenhang ignorieren), ordnen lediglich die Abfolge von Halb-, Ganz- (und, zugegeben, auch Anderthalb-) Tonschritten unentwegt anders ( systematisiert in der südindischen "Melakarta"-Skalentafel ) und folgen zudem noch strikten Regeln der melodischen Gestaltung und der emotionalen Zuordnung.
Die Schwierigkeit mit den indonesischen Skalen wird zwar benannt, aber offenbar als irrelevant gesehen. Im Fall der Jazz-Skalen tritt die Ahnungslosigkeit zutage:
Das gleiche gilt für Skalen, wie sie den modernen Jazz prägen. Tonleitern beispielsweise, die mit einem Halbtonschritt beginnen, sagte das mathematisch gewonnene Ähnlichkeitsmodell der Forscher nicht vorher. Auch viele im arabischen Raum verwendete Skalen haben mit westlichen Tonleitern wenig zu tun.
Tonleitern, die mit einem Halbtonschritt (aufwärts) beginnen, sind allenthalben bekannt, so in Gestalt der phrygischen Kirchentonart, im Flamenco (Malagueña-Formel!), in der Skala des arabischen Maqams Kurdi (und anderer) , des indischen Ragas Bhairavi (und anderer).
Auch im arabischen Raum gibt es die Moll-Skala (Maqam Busahlik) und die Dur-Skala (Maqam Tschahargah), aber sie spielen keine herausragende Roll unter den 30 vorhandenen Skalen. Im Zentrum steht allenfalls die Skala des Maqams Rast, vergleichbar unserer Skala auf dem Ton C, allerdings ohne die charakteristische große (Dur-)Terz oberhalb der ersten und der fünften Stufe, auch ohne die kleine (Moll-) Terz, jedoch mit einer dazwischenliegenden sog. "neutralen" Terz.

An diesen Punkten könnte es interessant werden, aber da schweigt der Computer, weil die Menschen, die ihn speisen, von Musik nur einen blassen Schimmer haben.
Und was kann man wohl von ihnen im Umgang mit Emotionen erwarten, wenn der Umgang mit musikalischen Fakten schon so schludrig ist?

Die umfangreichen und facettenreichen Untersuchungen zum Ursprung der Musik sind offenbar nicht berücksichtigt, schlimmer: man weiß gar nicht, dass seit 100 Jahren eine intensive Forschungsarbeit dazu geleistet wird, in der Musikologie, Physik und Akustik, Musikethnologie und Anthropologie, Biologie, Psychologie und Neurophysiologie gleichermaßen eine Rolle spielen. Gar nicht so selten unter Beteiligung von Naturwissenschaftlern und Medizinern, die musikalisch hochgebildet waren.
(Oder sogar: sind?)
[ eingegeben am 05.02.10 ]
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Fundstück #40
Schnickschnack aus der Gehirnforschung: Was ist arabische Musik?

O-Ton Manfred Spitzer:
Nun haben die Araber aber z.B. ganz selten im Chor gesungen, und sie haben einzeln gesungen, und sie hatten eine andere Notation. Man legt dort fest: geht die Stimme rauf oder runter, d.h. man legt nicht genau die Tonhöhe fest, sondern nur die Bewegung. Deswegen konnten hier bestimmte Gewohnheiten sich einschleichen, nämlich dass man die Stimme ein bisschen höher oder ein bisschen tiefer legt als sozusagen das der Normalfall war, und der Sänger hat sich sozusagen angewöhnt, bestimmte kleine Schleifen zu machen (singt eine Tonverbindung, Sekunde), was man sofort als arabisch oder türkisch identifiziert. Was nicht der Fall ist - das liest man öfter, aber ist schlichtweg falsch - , dass man dort Drittel- oder Vierteltöne hat, die hat man nicht. Sondern man hat vielmehr, ich sach mal, so Schnörksel, die hat man in der westlichen Musik auch, man denke nur an Tremolo oder Vibrato oder bestimmte andere Dinge.
Und diese Schnörksel gibt es in der arabischen Musik in einer ganz bestimmten Weise, die eben uns auch erstmal fremd erscheint, und vielleicht auch erstmal nicht so gefallen, aber eben von anderen Menschen erstmal als ganz besonders interessant und bekannt gehört werden, und das ist nun wieder das kulturelle Aufwachsen, das ist das, was sozusagen neben Biologie und Physik noch an Freiheitsgraden für die Musik bleibt, und das ist natürlich in allen Kulturen auf unterschiedlichste Weise ausgeschöpft.

Abschrift nach Tr.5 der CD
"Mozarts Geistesblitze" Wie unser Gehirn Musik verarbeitet
von Manfred Spitzer
Galila Hörbücher ISBN 10: 3-902533-00-5 / ISBN 13: 978-3-902533-005

Wenig von dem, was der bekannte Gehirnforscher so en passant über arabische Musik erzählt, ist richtig; es ist sogar unbegreiflich falsch. (Wozu gibt es eigentlich gute Musiklexika?)
Man legt dort fest: geht die Stimme rauf oder runter, d.h. man legt nicht genau die Tonhöhe fest, sondern nur die Bewegung.
Die arabische Musik verwendet Skalen mit genauer Tonhöhendefinition, durchaus vergleichbar mit unserer Dur- oder Mollskala.
...der Sänger hat sich sozusagen angewöhnt, bestimmte kleine Schleifen zu machen
Sollte hier gemeint sein, dass der Sänger Melodien mit Ornamenten singt, die sogar Gleitverbindungen zwischen zwei Tönen enthalten können? Dann wäre es ja ganz richtig, nur dass es sich nicht um eine bloße Angewohnheit der arabischen Sänger handelt, sondern um die ganz normale Gesangspraxis in allen Kulturen der Welt, inclusive der westlichen.
Was nicht der Fall ist - das liest man öfter, aber ist schlichtweg falsch - , dass man dort Drittel- oder Vierteltöne hat, die hat man nicht.
Aber ja doch, man hat sie wohl, wenn auch keine Viertelton-Ketten: der arabische Ton Sikah z.B. läge auf unserer chromatischen Skala genau zwischen den Tönen Es und E, von beiden etwa einen Viertelton abweichend. Was den Araber nicht hindert, auch über die Töne Es ("Kurdi") und E ("Busalik") zu verfügen, je nach der Skala, die er gerade gewählt hat.

"Schnörksel" sind in der arabischen Musik unbekannt, aber man weiß natürlich, dass allenthalben in der Welt der Musik - und nicht nur dort - bisweilen Murks produziert wird.

[ eingegeben am 28.09.09 ]
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Fundstück #39
"Authentische Aufführungspraxis" in Stockhausens Frühwerk?

Im Zusammenhang mit der Neuaufnahme des Werkes "Refrain" (1959) durch das Ensemble Recherche (2008 / Wergo 2009) schreibt der Autor des CD-Booklets, Richard Toop:

Zuletzt sei noch etwas zu den von den Instrumentalisten hergestellten Vokalklängen bemerkt: In der ersten gedruckten Partitur schreibt Stockhausen vor, diese Klänge sollten erstens kurz und zweitens möglichst mit den Instrumentalklängen ausgeglichen sein; eben dies geschieht bei einer frühen Schallplatteneinspielung mit dem Pianisten David Tudor und dem Schlagzeuger Christoph Caskel, wo Stockhausen selbst die Celesta-Partie spielt. Später aber war er immer mehr der Meinung, die Vokalklänge sollten sich deutlich von den gespielten Tönen unterscheiden, und zwar im Sinne der "instrumentalen Vokalpraxis" des LICHT-Zyklus.
Bei dieser Aufführung kommen die Spieler der Urauffassung viel näher (was auch der Vorliebe des Autors entspricht). Bei Stockhausen und manch anderen zeitgenössischen Komponisten ist die Problematik einer "authentischen Aufführungspraxis" zuweilen kaum geringer als bei Josquin und Bach.

Ist das wirklich so?
Eine Frage, die sich immer wieder stellt: gelten die Bedingungen der Urfassung eines Werkes oder die der Uraufführung, gilt die (anschließend) gedruckte Fassung oder eine später vom Autor selbst hergestellte neue (also ebenfalls "autorisierte") Version?

Auch im Fall eines modernen Komponisten muss der Grundsatz gelten, dass ihm das eigene Werk nach der Fertigstellung und Veröffentlichung entzogen ist: der Autor kann sich zu ihm nur noch ähnlich wie jeder andere Musiker verhalten; selbst inhaltliche Aussagen (verbale Interpretationen) sind nunmehr seiner persönlichen Entwicklung unterworfen und können sich von seiner ursprünglichen Intention - ohne dass ihm dies bewusst sein muss - weit entfernen.
Ihm steht natürlich frei, das eigene Werk den neuen Intentionen anzupassen und es in dieser Form zu autorisieren, die Urversion zu kritisieren oder sogar aus dem Verkehr zu ziehen. Dem Publikum aber steht es frei, weiterhin an der Urversion festzuhalten und die spätere abzulehnen, so wie man "den frühen Marx" gegen den späten ausspielen kann, oder den frühen, metaphysischen Chirico gegen den späteren, epigonalen. Bekannt ist aber auch das Brucknersche Dilemma: die von außen initiierte neue Version führt nicht nur zu einer Abschwächung der ursprünglichen Intention: sie schließt auch neue Inspirationen nicht aus.

Andererseits liegt das, was in dem oben wiedergegebenen Text beschrieben wird, im Rahmen der üblichen Interpretationsentscheidungen, vergleichbar der, ob in einer frühen Violinsonate von Mozart das Klavier dominieren oder ob die Relation der Instrumente einer späteren Entwicklung angeglichen werden sollte.
Erst die Neigung, in der Neuen Musik alle möglichen Parameter als "gleichnah zu Gott" zu behandeln, verleiht bloßen Interpretationserwägungen in vorauseilendem Gehorsam den Rang essentieller Entscheidungen.
Mit "authentischer Aufführungspraxis hat dies im übrigen wenig zu tun.
Es ist ein immer wiederkehrender Irrtum, sie bestehe darin, die Bedingungen der Uraufführung zu rekonstruieren. (Was immer wieder zu den spöttischen Einwänden führt, man habe auch Kerzenlicht, Fäkalgestank und Postkutschentempo zu berücksichtigen.)
Als sei behauptet, zu jenem weit zurückliegenden historischen Zeitpunkt hätten zufällig die idealen Bedingungen der Aufführung existiert; und zugleich hätten die zeitgenössischen Ohren womöglich auch den "authentischen" Zugang zum Kunstwerk gehabt.
Beides ist nicht und niemals der Fall. Die Idee des großen musikalischen Kunstwerks übersteigt jede konkrete Realisierung, damals ebenso wie heute.
Aber soviel Höflichkeit muss sein: dass wir dem Komponisten zubilligen, dass er sein Instrumentarium kannte und auch sehr genau die real gegebenen Möglichkeiten imaginierte (nicht die wohlmeinenden oder besserwisserischen Korrekturen einer späteren Zeit). Nichts anderes kann mit "authentischer" oder "historisch informierter" Aufführungspraxis gemeint sein.
Der Abstand zum Kunstwerk verringert sich nicht.
Und wenn jemand einen anderen produktiven Weg weiß, dieses Kunstwerk zum Sprechen zu bringen, so kann es nur willkommen sein.
[ eingegeben am 17.09.09 ]
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#38 - Greifzange und Ellenbogen

[ ZEIT-Zitat: ]
(...)

Greifzange als verlängerter Arm

Das menschliche Gehirn deutet Werkzeuge als Körperteile. Dies haben französische Wissenschaftler gezeigt (Current biology, online): Berührungen am Ellenbogen empfanden Testpersonen im Vergleich zu vorher als weiter vom Oberkörper entfernt, wenn sie eine Greifzange in der Hand hielten. Auch nachdem sie die Zange weggelegt hatten, verhielten sie sich noch kurz so, als ob sie einen verlängerten Arm hätten.

DIE ZEIT 25.Juni 2009 S.36
Erforscht und erfunden

Auf diese Idee hätten die Wissenschaftler schon vor mehr als 30 Jahren kommen können, wenn nur einer von ihnen Bratsche gespielt oder rechtzeitig die Vorstellungswelt des Bratschers William Primrose entdeckt hätte:
"In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß ich, wenn ich meinen Bogen nach einem Konzert oder nach dem Üben in den Bratschenkasten lege, mir gern vorstelle, daß ich dabei gleichsam ein Drittel meines Armes loslöse und daß ich umgekehrt, wenn ich wieder zu spielen beginne, dieses Drittel wieder mit dem Unter- und Oberarm verbinde, die die anderen zwei Drittel darstellen. Diese zwei Drittel sind mit dem Ellenbogen verbunden, und kein noch so heftiges Ziehen kann das eine normalerweise vom anderen trennen. Sie sind fest miteinander verbunden, und trotzdem haben die beiden Teile völlige Bewegungsfreiheit im Verhältnis zueinander, außer wenn das Gelenk krank ist, etwa durch eine Versteifung. Diese Art von Verbindung sollte auch zwischen dem Daumen und dem zweiten Finger und dem Teil des Armes bestehen, den man abtrennen kann, den wir Bogen nennen; dabei bilden der Daumen und der zweite Finger sozusagen einen weiteren Ellenbogen mit dem Frosch."
(W.Primrose in "Yehudi Menuhins Musikführer": Violine und Viola 1976 bzw. 1982, S.172)

Und nun?

Was ein Frosch in der Hand eines Streichers bedeutet, sollte die moderne Wissenschaft beizeiten zur Kenntnis nehmen, sonst wird sie den zweiten Ellenbogen nie entdecken. Oder auch wieder nur auf dem Umweg über das Gehirn.
[ eingegeben am 28.06.09 ]
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#37 - Das Böse, der Sündenfall und die Zauberkraft der Sprache

[ ZEIT-Zitat: ]
(...)
Es ist der Schlussgedanke von Obamas Ansprache vor dem Lagertor [des KZs Buchenwald], sein letztes öffentliches Wort in Deutschland: 'Gerade so wie wir uns mit den Opfern identifizieren, müssen wir uns auch daran erinnern, dass die Täter menschlich waren. Und wir müssen uns hüten vor Grausamkeiten in uns selbst.'
Es ist einer dieser überraschenden Obama-Sätze, sofort verständlich und dabei aufgeladen mit einer Bedeutung weit über die wenigen Worte hinaus, als öffne sich für einen Moment ein Fenster ins Denken dieses Präsidenten, der trotz all seiner Reden bis heute nicht eindeutig zu lesen ist. Wir müssen uns hüten vor Grausamkeiten in uns selbst?
Hier spricht ein amerikanischer Präsident auf dem Gipfel des Triumphes über das Böse - und seine Gedanken gelten der eigenen Verführbarkeit zum Bösen. Weiter kann ein Weltbild nicht entfernt sein von dem George W. Bushs. Weil die Welt nicht zweigeteilt ist in Richtig und Falsch, weil nicht wir für immer im Recht sind und die anderen für immer im Unrecht, meint Obama, darum gibt es das Böse: weil auch wir anfällig sind für Grausamkeit. Philosophen mag die Einsicht nicht überraschen, für einen amerikanischen Präsidenten ist sie unerhört.

DIE ZEIT 10. Juni 2009 S.10
Obama und das Böse
Woran glaubt der amerikanische Präsident?
Sein Besuch in Buchenwald gibt Einblick
Von Patrik Schwarz und Evelyn Finger




A propos "Philosophen":

Immanuel Kant ist es, der in seiner Schrift "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793) davon ausgeht, dass das Böse dem menschlichen Wesen innewohnend und wesentlich sei. (JR)




[ ZEIT-Zitat: ]
(...)
Bei Jürgen Habermas liegt das Grundmotiv seines Denkens offen zutage und ist für Leser doch schwer zu finden. (...)
Das Motiv lautet, sehr vereinfacht, so:
Wer auf die Geschichte der Menschheit zurückblickt, der sieht eine Litanei des Schreckens, eine empörende Geschichte von Gewalt und immer wieder Gewalt. Und doch - es gibt einen nicht zu leugnenden Fortschritt, es gibt, bei allen Rückschlägen, eine soziale "Evolution" und damit die Möglichkeit, Macht und Gewalt zu zivilisieren oder eines Tages vielleicht ganz abzuschaffen. Das Medium der Selbstzivilisierung ist die menschliche Sprache, denn jedem Sprechen wohnt ein Ziel inne, das "Telos der Verständigung", Kommunikation unterbricht den Kriegszug der Welt.
Wer in diesem Gedanken ein mächtiges idealistisches Erbe vermutet, der vermutet erst einmal richtig. Habermas, damals ein Student von Anfang zwanzig, war bei seiner Schelling-Lektüre auf einen großartigen, aber extrem spekulativen Gedanken gestoßen, der ihn noch heute, sechzig Jahre später, fasziniert: "Gott Vater", schrieb Schelling, habe sich aus der Schöpfung zurückgezogen und den Menschen das Feld überlassen. Allerdings: Die mit Freiheit begabten Geschöpfe seien verpflichtet, den richtigen Gebrauch von ihrer Freiheit zu machen. Mithilfe ihrer Sprache müssten sie untereinander dasselbe Anerkennungsverhältnis herstellen, wie Gott es zu ihnen unterhalten habe, als er ihnen die Autonomie schenkte. Wer gegen diesen Bund mit Gott verstoße, der begehe erneut einen "Sündenfall".
Habermas, der aus der Gedankenwelt von Heidegger und Gehlen kam, schrieb seine Doktorarbeit über Schelling und gab seiner Deutung eine verblüffende Wendung. Er schlug eine Brücke zu den Frühschriften von Karl Marx, weil ihm dessen Gesellschaftskritik die Möglichkeit gab, Schellings Rede vom Sündenfall ganz handgreiflich, ganz materialistisch zu verstehen. Ein Sündenfall ist es, wenn Machtverhältnisse über Sprachverhältnisse siegen - wenn die "Freigelassenen der Schöpfung" nicht die Verständigung wählen, sondern, wie so oft in der Geschichte, die Gewalt.

DIE ZEIT 10. Juni 2009 S.51
Der Vorwärtsverteidiger. Der Philosoph Jürgen Habermas wird achtzig Jahre alt.
Von Thomas Assheuer

[ eingegeben am 21.06.09 ]
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#36 - Eine neuere Meinung zu Klaus Theweleit anlässlich der Rezension eines neuen Buches von Jonathan Littell

(...)

... Klaus Theweleit, der (...) die Diskussion um Littells Roman [Die Wohlgesinnten] nutzte, um seine inzwischen 30 Jahre alten Thesen zum faschistischen Mann mal wieder in die Debatte zu bringen und in seiner Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung total gut zu finden, dass Littells Held Max Aue einige jener Eigenschaften aufwies, die Theweleit in seinem Epos Männerphantasien dem 'Faschisten' zugeschrieben hatte.
Das wiederum konnte kaum erstaunen, war doch Littels Held Max Aue nach dem Vorbild von Léon Degrelle gebildet, eines belgischen Faschisten, der es bis zum Kommandeur einer SS-Sturmbrigade brachte und nach gelungenem Absetzen nach Norwegen die Welt mit einem Buch zum Russlandfeldzug und allerlei Aufzeichnungen mehr beglückte.
In seiner (Littells) an Theweleit geschulten Interpretation von Degrelles Buch über den Krieg (...) finden sich hermeneutische Glanzstücke wie das folgende:
"Degrelle, der die Sowjets, gar Stalin persönlich "über dem wehrlosen, zur Vergewaltigung bereiten Leib Europas" imaginiert, denke da "vielleicht an das Schicksal deutscher Frauen, tatsächlich ist es aber sein eigener After, der sich krampfhaft zusammenzieht".
Mit solcher interpretatorischer Verve ließe sich auch aus Oblong Fritz Oblong, dem kleinen dicken Ritter, ein prototypisch faschistischer Charakter herausdeuten, aber, siehe da, Theweleit, der selber seinerzeit derart grob kaum deutete, gefällt das gut.
Hocherfreut über die "unverhoffte Würdigung", die seine Männerphantasien durch Littell erfuhren, lässt er ihm solchen Blödsinn nicht nur durchgehen, sondern liest Littells Studie umstandslos
"als Bestätigung meiner Vermutung..., dass eine universelle Struktur 'des' Körpers des 'soldatischen Mannes' - also 'des' politischen Faschisten - gibt; als ein Normalfall der Gewaltausübung anzutreffen zumindest in der eurasisch-amerikanischen, in der japanischen, in der islamischen Mann-Kultur."
Ach, dass "universell" und "zumindest" für einen Sachverhalt zugleich gelten könnten, hatte man bislang ebenso wenig sich zu denken getraut wie die Annahme einer Identität des soldatischen Mannes mit dem politischen Faschisten, aber womöglich versteht man auch nur die vielen Anführungszeichen nicht in ihrer analytischen Tiefenschärfe.
Die Studie Littells jedenfalls liest sich wie die Seminararbeit eines Drittsemesters, der nicht recht einordnen kann, was er schon alles über Psychoanalyse gelesen hat, und Theweleits Nachwort dazu als glückselige Wiederbegegnung eines alten Gelehrten mit seinen Thesen, nach denen schon ein Vierteljahrhundert keiner mehr gefragt hatte. Da kommt etwas zu sich selbst, und zweifellos hilft dabei die gnadenlose Unbekümmertheit beider Autoren darum, was in derselben Zeit über Krieg, Massengewalt und Täter geforscht und publiziert worden ist. So schwadronieren sie beide an jeder Empirie vorbei, von der wir aus dem 20. Jahrhundert vor allem eines wissen: dass es zu ihrer Ausübung eben keiner persönlichen Disposition, keiner Charakterstruktur bedurfte.
Warum der Titel des Büchleins auf Claude Levy Strauss anspielt, entzieht sich wie der ganz merkwürdige Befund, zu dem Lehrer und Schüler hier voller Befriedigung hier kommen, jeder Erklärung. Man fragt sich verwundert, warum das alles gedruckt worden ist. "

Harald Welzer
über Jonathan Littell: "Das Trockene und das Feuchte"
sowie Klaus Theweleits Nachwort dazu
in DIE ZEIT 29.01.09

(Wobei wir - bei aller Wertschätzung für den Wissenschaftler Harald Welzer - doch anmerken wollen, dass der Autor von "Das Rohe und das Gekochte" nicht Levy Strauss, sondern Lévi-Strauss heißt. - J.R.)

[ eingegeben am 01.03.09 ]
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#35 - Eine Denkübung zum Problem der (Nicht-) Vorhersagbarkeit

" Eine rationale Person, nennen wir sie Anna, hat zwei Behälter vor sich: Ein Behälter ist durchsichtig und enthält offensichtlich einen Tausend-Euro-Schein, der andere Behälter ist nicht durchsichtig, aber Anna weiß, dass er entweder nichts oder eine Million Euro enthält. Anna steht vor der Alternative, entweder den Inhalt beider Behälter an sich zu nehmen oder sich auf den Inhalt des undurchsichtigen Behälters zu beschränken.
Da Anna rational ist, wird sie den Inhalt beider Behälter an sich nehmen, denn unabhängig davon, ob der undurchsichtige Behälter eine Million Euro enthält oder nicht, sichert sich Anna dadurch zusätzlich tausend Euros. Es scheint völlig unerheblich zu sein, auf welche Weise der Inhalt des undurchsichtigen Behälters bestimmt wird. Entscheidend ist nur, dass vor der Entscheidung von Anna feststeht, ob der Behälter eine Million Euro enthält oder nicht.
Man stelle sich nun vor, dass ein Beobachter, der mit der Persönlichkeit und den Handlungsweisen von Anna vertraut ist und ihr zukünftiges Verhalten in zahlreichen Fällen zutreffend vorausgesagt hat, über den Inhalt des undurchsichtigen Behälters bestimmt. Anna weiß, dass der Beobachter die eine Million in den betreffenden Behälter genau dann legt, wenn er vorausgesagt hat, dass Anna nur den Inhalt des undurchsichtigen Behälters an sich nimmt.
Wenn man nun zusätzlich annimmt, dass die Voraussagen des Beobachters über Annas Verhalten meist zutreffen, dann gibt es eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Beobachter die eine Million hinterlegt hat, wenn Anna sich dafür entscheidet, nur den Inhalt des undurchsichtigen Behälters an sich zu nehmen.

Hier geraten zwei Intuitionen in einen unauflöslichen Konflikt. Dies sogenannte Newcomb-Problem kombiniert in genialer Weise zwei scheinbar sichere Intuitionen: die Intuition, dass menschliches Handeln kausalen Determinanten unterliegt und daher prognostizierbar ist, und andererseits die Intuition, dass es Situationen gibt, in denen eine Person zwischen zwei Alternativen frei wählen kann.
Die einzig plausible Auflösung dieses Paradoxons besteht darin, dass wir Anna eine freie, eben in der hier angenommenen Weise nicht vorhersagbare Entscheidung zugestehen. Newcombs Problem ist ein Argument gegen die Vorhersagbarkeit der Handlungen einer rationalen Person: Anna sollte den Inhalt beider Behältnisse an sich nehmen."

Süddeutsche Zeitung 6. Oktober 2008 Feuilleton S.13
Was weiß die Wissenschaft vom Ich? (7) Freiheit des Geistes
Fünf Experimente
Von Julian Nida-Rümelin und David Linden

Wenn man ausreichend lang nachgedacht hat und immer noch nicht begreift, warum die rationale Anna (die ihren Beobachter vielleicht auch ein wenig kennen sollte) nicht in jedem Fall beide Behälter nimmt, - es sei denn, sie würde bei bestimmten Entscheidungen bestraft oder belohnt-, kann man vermuten, dass hier in der Darstellung des Problems ein Fehler unterlaufen ist.

Das Problem liegt in der behaupteten Gleichzeitigkeit, - die Kausalität und die zeitliche Abfolge (die auch in der Vorstellung von Lohn und Strafe inbegriffen wäre) wird in dem Versuchsarrangement "künstlich" ausgeschaltet.

Klarer wird das vielleicht in der folgenden Formulierung:

Anna darf nur eine der beiden folgenden Entscheidungen treffen:
a) sie nimmt nur die zweite Box
b) sie nimmt beide Boxen.

Der allwissende (!) Beobachter hat vorhergesagt, wie sie sich entscheiden wird. Seine Verlässlichkeit bei Voraussagen ist absolut (!). Sieht er voraus, dass sie nur die zweite Box nehmen, hat er die Million Dollar in die Box gelegt. Sieht er dagegen voraus, dass sie beide Boxen nehmen werden, blieb die zweite Box leer. (Weil sie ja offensichtlich nicht darauf baut, dass sie das Geld enthält.)

Nimmt sie also beide Boxen oder nur die zweite Box?

Da zum Zeitpunkt der Wahl die Entscheidung darüber, ob in der zweiten Box die Million liegt, bereits gefällt ist, könnte man ja beide Boxen nehmen. Entweder liegt die Million darin oder nicht - ändern kann sich jedenfalls die gewonnene Geldsumme nicht mehr.

Eben dieses könnte der Beobachter aber vorausgesehen und die zweite Box leer gelassen haben. Danach wäre es doch besser, nur die zweite Box zu nehmen, weil das höhere Wesen dann eben das vorausgesehen hätte, so dass die zweite Box gefüllt gewesen wäre.

So ähnlich findet man das Newcomb-Problem in Wikipedia dargestellt, und so wird es auch klarer in seiner Nichtklärbarkeit.
Wer dabei nicht stehenbleiben will, schaue hier nach:
de.wikipedia.org/Newcombs_Problem
und hier:
www.philosophie.uni-osnabrueck.de ... Lenzen/Newcombs Paradox.pdf [ Google cache ]
[ eingegeben am 08.10.08 ]
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#34 - Neues zur Frage "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?" (Paul Watzlawick)


(...) Mit Religion hat das allerdings nichts zu tun, es handelt sich um mythische Bilder. Denn die Heilige Familie der Stars erzählt nicht von besseren Zeiten; sie feiert vielmehr die reine Gegenwart, die ungebrochene Präsenz des Augenblicks. Der Star erlöst vom Warten auf bessere Tage und erteilt den Verhältnissen die Absolution. "Alles ist, wie es ist." Fürchte dich nicht, ich komme wieder, denn nach dem Ereignis ist vor dem Ereignis. Der Starkult ist zyklisch, und die Zukunft löst sich in die Gegenwart auf. Je dichter die Kette der Sensationen geknüpft ist, desto mehr Gegenwärtigkeit entsteht. Wenn dann noch das göttliche Auge des Stars wohlwollend auf dem Einzelnen ruht, dann weiß er: Es gibt mich noch.(...)

DIE ZEIT Nr. 31 24. Juli 2008 S.40
Siehe, ich bin Star
Lernt beten, nicht denken; Glamour, Celebrities und Prominentenkult sind Erscheinungen einer neuen Erlösungsreligion. Was verrät sie über uns?
Von Thomas Assheuer




(...) Niklas Luhmann sagt: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien." Und wenn nun eines der Wesen, die wir aus den Massenmedien kennen, zu mir herabsteigt in meinen Lebensraum, "schließt es mich an" an die höhere Medienwelt. Es ist nicht mehr so, dass der reale Prominente in mir den Gedanken auslöst: Ach, den gibt es also wirklich. Vielmehr denke ich in Anwesenheit der berühmten Gestalt: O Herr, mich gibt es ja wirklich! (...)

DIE ZEIT Nr. 31 24. Juli 2008 S.41
Im Bett mit der Kunst
Ruhm ist das wichtigste Gut des Kulturbetriebes. Ohne Kulturmanagement und PR ist er nicht zu haben. Ohne die Medien auch nicht.
Von Peter Kümmel


[ eingegeben am 05.10.08 ]
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#33 - Von christlicher Nächstenliebe, Feindesliebe (genauer: Respekt vor dem Fremden, noch genauer: Notwendigkeit, über den eigenen Clan hinauszudenken) und dem Traum einer Menschheitsfamilie...


SPIEGEL: "Wenn Gott nicht existierte, wäre alles erlaubt", meinte Dostojewski. Wo wären wir ohne die christliche Ethik?
DAWKINS: Unsere heutige Ethik haben wir doch gar nicht aus der Bibel. Unsere Werte - Gleichberechtigung zum Beispiel oder das Verbot von Sklaverei und Folter - haben der Schrift nichts zu verdanken. Sie sind entstanden in einem liberalen Konsens, den wir mit allen Menschen teilen, die wir zivilisiert nennen. Wenn wir unsere Ethik wirklich aus der heiligen Schrift bezögen, wäre die Welt ein entsetzlicher Ort. Wie das Afghanistan unter den Taliban.
SPIEGEL: Was ist mit der Bergpredigt?
DAWKINS: Auf die beziehen Sie sich doch nur, weil die Bergpredigt mit Ihrem modernen liberalen Konsens übereinstimmt, während das 5. Buch Moses dies nicht tut - es sagt uns nämlich, dass wir Fremdgängerinnen zu Tode steinigen sollen.
SPIEGEL: Jeder pickt sich also das aus der Bibel heraus, was ihm passt?
DAWKINS: Genau.

Der Spiegel Nr. 37 / 10.09.2007 / S.160 ff
Spiegelgespräch: "Ein Gott der Angst"
Der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins, 66, über die Militanz des Glaubens, den Ursprung der Spiritualität und den Missbrauch von Kindern durch die Religion




Frankfurter Allgemeine Zeitung / 12.03.2008
Eine Antwort von Alister McGrath an Dawkins

Zu den Grundelementen der Religion Jesu gehört für McGrath die Erweiterung des alttestamentlichen Gebots "Liebe deinen Nächsten" um die Feindesliebe. Von Dawkins nicht einmal erwähnt, stehe sie "genau im Zentrum der christlichen Ethik". Zwar habe sich Jesus als Jude primär um Juden gekümmert, aber daneben habe er sich an Gruppen gewandt, die McGrath als "Outlaws" bezeichnet und die den Keim der Einbeziehung der römisch-griechischen Heiden in die christliche Gemeinde bildeten. Dass die christliche Lehre ein über die Sippengemeinschaft erweitertes Ethos schuf, ist oft hervorgehoben worden. Max Weber war es, der auch den Preis dieses neuen Ethos nannte: "Den Verb&quml;nden der Sippe, der Blutsbrüder und des Stammes fügt die Gemeindereligiosität als Stätte der Nothilfepflicht den Gemeindegenossen hinzu. Oder vielmehr, sie setzt ihn an die Stelle der Sippengenossen: Wer nicht Vater und Mutter verlassen kann, kann nicht Jünger Jesus sein." Daraus erwachse dann das Gebot der Brüderlichkeit.

Es ist sofort einsichtig, dass diese Ersetzungs- und Erweiterungsvorgänge es sind, die eine heutige Plausibilisierung des Christentums tragen können. Denn nach diesem Muster, den (sic!) das Christentum besonders wirkungsvoll durchsetzte, hat sich seit dem achtzehnten Jahrhundert ein säkulares Ethos herausgebildet, das meist als humanitäres Ethos bezeichnet wird: eine philanthropische Moral, für die der Nächste der Fernste und sogar die abstrakte Menschheit sein kann.

FAZ 12.März 2008
Warum der neue Atheismus unsere Kultur verflacht
Alister McGrath antwortet auf die Religionskritik von Richard Dawkins
Von Henning Ritter




DIE ZEIT 26.04.08

In der Tat hat der Papst vor der UN-Vollversammlung ein derart unmissverständliches Plädoyer für das Völkerrecht gehalten, dass seine Rede von der US-Regierung und ihren neokonservativen spin doctors als Provokation empfunden werden musste. Das Völkerrecht, so der Papst, binde nationale Souveränität und politische Macht, weshalb niemand in der "Menschheitsfamilie" dieses Recht brechen dürfe.
In den Ohren unserer neuen Tragiker klingen solche Worte wie ein einfältiger Appell - wie der furchtsame Ruf eines Gottesdieners, dessen himmlische Illusionen ihn an der Einsicht hindern, dass die Welt bis zum Jüngsten Gericht aus Teufeln bestehen wird. Und doch - die Kritiker übersehen, dass Benedikt XVI. mit seiner Rede das betreibt, was man globale Diskurspolitik nennt. Er versucht mit seinen Reden andere Metaphern und Begriffe, andere Vorstellungen und Redeweisen in die hasserfüllte Arena der Weltöffentlichkeit einzuspeisen. Gegen die Videobotschaften religiöser Gewaltprediger setzt er den schlichten Satz: "Gott ist die Liebe."
Und den Machtpolitikern und Neotragikern, die auf der Achse des Bösen unterwegs sind, nietet er eine Art Wette an: Wer die Geschichte nur als Tragödie versteht, wer sie in "Begriffen der Intoleranz, der Diskriminierung und des Konflikts" deutet - der wird auch so handeln und dafür sorgen, dass er recht behält. Wer die Welt dagegen in Begriffen des "Respekts vor der Wahrheit, der Koexistenz, der Rechte und der Versöhnung" denkt, der wird zwar oft enttäuscht werden. Aber er wird in seiner politischen Praxis die Chancen zum Frieden nicht ausschlagen.
(...) In der aufgewühlten globalen Öffentlichkeit sind Worte bereits Taten, und wer die Realität verändern will, muss zuerst die Sprache verändern, in der er sie beschreibt. Das ist zwar eine billige Hoffnung, aber nach bald acht Jahren Bush-Regierung gibt es nur einen Maßstab für gelingende Politik: ob sie die Anzahl der Feinde verringert - oder sie ins Unermessliche erhöht.

DIE ZEIT Nr. 18 26. April 2008 S.49
Die Wette
Es gilt das Völkerrecht. Papst Benedikt XVI. spricht vor den UN
Von Thomas Assheuer


[ eingegeben am 25.04.08 ]
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#32 - ... dies und das, wie die Musik jener Streichquartette


" Im Volk ist Köhler durchaus populär. Seine bedächtigen Mahnungen in alle Richtungen kommen gut an, bewirken aber nichts. Zwar erinnert man sich auch im fünften Jahr seiner Amtszeit kaum an etwas Konkretes, weil seine Reden oft so sind wie die Musik jener Streichquartette, die bei solchen Anlässen auch auftreten. Man legt den Kopf schief, hört ein wenig zu und denkt bald an dies und das.
Horst Köhler ist ein Bundespräsident für dies und das. "

Süddeutsche Zeitung 19./20. April 2008
Ein Präsident für dies und das - Horst Köhler ist nicht so bedeutend, dass die SPD einfach auf einen Gegenkandidaten verzichten sollte
von Kurt Kister

Was sind das für Streichquartette? Keine läppische Musik, wahrscheinlich Haydn oder Mozart.

80er Jahre. Ich erinnere mich an eine Feierstunde der Handwerkskammer im gotischen Saal eines Bürgerhauses zu Aachen, auch ein Bundespräsident war anwesend; auf der kleinen Bühne neben dem bereits aufgebauten Büfett wurde in den Pausen zwischen den Reden Telemann und Bach (historische Aufführungspraxis) gespielt, - unhörbar, weil der Lärmpegel der Gäste im hohen Gewölbe immens war. Am Ende gab es jeweils freundlichen Beifall für die pantomimisch interpretierte Musik. Und die Musiker hielten durch, mit festem Blick auf das vereinbarte Honorar.

Eine Veranstaltung Anfang der 90er Jahre in Duisburg, Live-Übertragung in Radio und Fernsehen, Thema "Unser Haus Europa": Politikerreden und erstklassige Interpreten von Portugal bis Georgien. Nach der letzten Rede kam die Stimme des Fernsehgewaltigen über die Kommandoleitung: "Wir können ausblenden, es kommt nur noch Musik!" Die wundersamen georgischen Gesänge interessierten niemanden mehr im europäischen Haus.

Diese Haltung lässt sich zusammenfassen mit der Formel: Nur Musik, nichts Konkretes, nichts von Belang.

Die einzig mögliche Konsequenz aus unserer Sicht: Keine große Musik dort, wo sie nicht im Mittelpunkt des Interesses steht.
Zum Glück gibt es noch die Beerdigungen: ist da nicht Stille und Andacht, wie es die Musik braucht? Kunst der Fuge, Contrapunctus I.
Oder auch nur dies und das?
Genau!


[ eingegeben am 20.04.08 ]
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#31 - Das Gehirn - ein Orchester ohne Dirigent


ZEIT: Was war das wichtigste Ergebnis der Hirnforschung in den vergangenen Jahren?

SINGER: Die Erkenntnis, dass es sich um ein extrem distributiv organisiertes System handelt, das keine zentrale Instanz kennt und sich selbst organisiert.
Früher wurde das Gehirn als Reiz-Reaktions-Maschine gesehen, das im Wesentlichen auf das reagierte, was in der Außenwelt geschieht. Heute wissen wir, dass dies falsch ist. Das Gehirn weiß bereits sehr viel über die Welt aufgrund seiner funktionellen Architektur, die sich im Lauf der Evolution verfeinert hat. Und es wendet dieses Wissen an, um die Welt zu ordnen und zu interpretieren.

ZEIT: Wenn Sie mit Laien über Hirnforschung reden - welche falsche Vorstellung müssen Sie am häufigsten korrigieren?

SINGER: Die meisten Menschen können sich nicht vorstellen, dass unsere geistigen und mentalen Leistungen die Folge von neuronalen Prozessen sind - und nicht umgekehrt. Sie sind heimliche Dualisten und glauben, dass da ein unabhängiger Geist schaltet und waltet und irgendwie mit dem Gehirn wechselwirkt, damit es das tut, was der Geist will.

Ergänzung aus dem Gehirn-Artikel des ZEIT-Redakteurs Ulrich Schnabel:

Anders als die Dualisten meinten, gibt es im Gehirn eben keine übergeordnete Instanz, die ein "Ich" oder "Selbst" hervorbringt. Stattdessen beschreiben Neurowissenschaftler das Gehirn gerne als "Orchester ohne Dirigent": Niemand führt hier das Kommando, aber jede Einheit weiß, wie sie auf einen bestimmten Stimulus reagieren muss.
Wird zum Beispiel die Amygdala aktiviert, die für Furcht und Aggression zuständig ist, dann wird dieser Stimulus an den Hypothalamus weitergegeben, an den Hirnstamm und weiter bis zum Rest des Körpers. Man wird bleich, das Herz rast, die ganze Physiologie ändert sich. All diese Änderungen wiederum werden sehr genau vom Gehirn registriert - es entsteht ein "Gefühl". Und am Ende konstruieren Tausende solcher Kreisläufe das, was wir Realität nennen.

Der ZEIT-Bildungskanon Nr. 24 GEHIRN
3.April 2008 S.38 f


Erstaunlich, dass die Argumentation gegen den Dualismus schon lange vor dem Boom der Gehirnforschung ausgereift war:

Vgl. Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes, insbesondere die Erläuterungen zur "Logik" der traditionellen Kategorienverwechslung. Erstes Kapitel "Descartes' Mythos" (S.23):
Ist meine Beweisführung richtig, dann hat das einige interessante Folgen. Erstens wird der altehrwürdige Gegensatz zwischen Materie und Geist aufgelöst werden, aber nicht durch die ebenso altehrwürdige Absorption des Geistes durch die Materie oder der Materie durch den Geist, sondern auf eine ganz andere Art. Denn der scheinbare Gegensatz zwischen diesen beiden wird sich als ebenso ungehörig erweisen wie der zwischen "sie kam in einer Tränenflut" und "sie kam in einer Sänfte". Der Glaube an den polaren Gegensatz zwischen Geist und Materie ist der Glaube daran, daß sie Ausdrücke desselben logischen Typs sind.

Gilbert Ryle
Der Begriff des Geistes
Stuttgart 1969
(Orig. "The Concept of Mind" 1949)

Interessant, wie der Wikipedia-Artikel über Gilbert Ryle und den Niedergang seiner Philosophie ebenfalls in eine logische Sackgasse mündet:

Allerdings gibt es auch heute noch Philosophen, die der Meinung sind, dass die Identifikation von mentalen Zuständen mit neuronalen oder funktionalen Zuständen ein Kategorienfehler sei. Für diese Annahme spreche, wie einige Theoretiker beanspruchen, dass auch die heute populäre Identitätstheorie (Geist gleich Gehirnprozesse) das Leib-Seele-Problem nicht gelöst habe und nicht schlüssig erklären könne, wieso "geistige" Begriffe wie "sich erinnern" sich nicht auf Gehirnprozesse, sondern auf "geistiges Erleben" beziehen und nicht auf eine physikalische (körperliche) Ebene reduziert werden können.

Ist hier nicht ein "nicht" zuviel? Aber welches??


[ eingegeben am 07.04.08 ]
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#30 - Der glückliche Tag
Was ist eigentlich aus Adornos "richtigem Leben" geworden?



Moby (2008):

1999 probierte ich dann meine erste Ecstasy-Pille. Zehn Jahre nach allen anderen, ich war ein Spätentwickler. Dann nahm ich es für zwei Jahre allerdings oft.

ZEIT: Wie hat Sie das verändert?

Manche Nächte schienen einfach perfekt. Ich ging aus mit Freunden, wir tranken Champagner, nahmen eine Pille, trafen neue Leute, man stellte sofort eine Verbindung zu ihnen her, am Ende hatte man stundenlang Sex - und wenn ich am nächsten Tag aufwachte, fragte ich mich: Warum kann nicht jede Minute meines Lebens so sein?

ZEIT MAGAZIN LEBEN Nr.15 - 3.April 2008 S.22 f
"Gäbe es Drogen ohne Nebenwirkungen - her damit!"
Moby ist der erfolgreichste elektronische Musiker aus den USA. Seit über 20 Jahren bewegt er die Club-Kultur - und sie ihn. Ein Gespräch über Deutschland, House Music und Betäubungsmittel
Von Ulf Lippitz


Peter Handke (1991):

Ob es mit unserer speziellen Epoche zu tun hat, daß das Glücken eines einzelnen Tages zum Thema (oder Vorwurf) werden kann? Bedenk, daß vordem eher der Glaube an den richtig ergriffenen 'Augenblick' gewirkt hat, der freilich für das 'ganze große Leben' einstehen konnte. Glaube? Vorstellung? Idee? Jedenfalls galt vorzeiten, ob beim Schaftrieb auf den Pindus-Höhen, beim Umherwandeln unterhalb der Athener Akropolis oder beim Feldmauerschichten auf den steinigen Plateaus von Arkadien geradezu etwas wie ein Gott solch eines geglückten Augenblicks oder Zeit-Atoms, ein Gott allerdings, von welchem es, anders als sonst bei den griechischen Gottheiten, weder Bild noch Geschichte gab: der göttliche Moment selbst erzeugte sein, jeweils verschiedenes, Bild und erzählte, jetzt, jetzt und jetzt, zugleich sich, jenen 'kairos', als eine Geschichte, und jener Augenblicksgott war wohl, seinerzeit, mächtiger als alle anscheinend auf Dauer feststehenden Göttergestalten - immer gegenwärtig, immer da, immer in Kraft. Entmachtet wurde aber schließlich auch er - oder? wer weiß?-, euer Gott des 'Jetzt' (und der Augen, die so sich begegneten, und des Himmels, der so, eben noch formlos, eine Gestalt annahm, und des verwaschenen Steins, der so auf einmal in seinen Farben spielte, und, und), von dem nachfolgenden Glauben - in der Tat nun weder Vorstellung noch Idee mehr, sondern 'von der Liebe bewirkter' Glaube - an eine neue Schöpfung, als eine Erfüllung der Augenblicke und der Zeiten, durch das Irdischwerden, Sterben und Auferstehen des Gottessohnes, und damit an die sogenannte Ewigkeit; eine Frohbotschaft, von welcher ihre Verkünder zum einen selber sagten, daß sie nicht mehr nach dem Maß des Menschen, und zum andern, den an sie Glaubenden würden, jenseits der bloßen Augenblicke der Philosophie, die Äonen, oder eben die Ewigkeiten der Religion glücken. Folgte dann, enthoben sowohl dem Gott des Augenblicks als auch dem der Ewigkeit, wenngleich ohne den Eifer, die beiden zu entkräften, die Periode einer dritten Macht, einer rein diesseitigen, freiheraus weltlichen, und sie setzte - was soll mir euer Kairos-Kult, Hellenen, euer Himmelsglück, ihr Christen und Muslime - auf etwas dazwischen, auf das Glücken je meiner Hiesigkeit, auf die einzelne geglückte Lebenszeit. Glaube? Traum? Vision?

Peter Handke
Versuch über den geglückten Tag (S.144 f)
Frankfurt am Main 2001


Theodor W. Adorno (1951):

(...) Für den, der nicht mitmacht, besteht die Gefahr, daß er sich für besser hält als die andern und seine Kritik der Gesellschaft mißbraucht als Ideologie für sein privates Interesse. Während er danach tastet, die eigene Existenz zum hinfälligen Bilde einer richtigen zu machen, sollte er dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und wissen, wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt. Solchem Eingedenken aber widerstrebt die Schwerkraft des Bürgerlichen in ihm selber. Der Distanzierte bleibt so verstrickt wie der Betriebsame; vor diesem hat er nichts voraus als die Einsicht in seine Verstricktheit und das Glück der winzigen Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt. (...)
[Zueignung]

Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. Was einmal den Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums geworden, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird. Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen. Redet man unmittelbar vom Unmittelbaren, so verhält man kaum sich anders als jene Romanschreiber, die ihre Marionetten wie mit billigem Schmuck mit den Imitationen der Leidenschaft von ehedem behängen, und Personen, die nichts mehr sind als Bestandstücke der Maschinerie, handeln lassen, als ob sie überhaupt noch als Subjekte handeln könnten, und als ob von ihrem Handeln etwas abhinge. Der Blick aufs Leben ist übergegangen in die Ideologie, die darüber betrügt, daß es keines mehr gibt.

Theodor W.Adorno
Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Antithese.
Gesammelte Schriften, Band IV, S.1669 (vgl. GS 4, S.27) und S.1646 f (vgl. GS 4, S.13)


[ eingegeben am 07.04.08 ]
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#29 - Hat die Demokratie "von sich aus" Überzeugungskraft ?


" Das Versagen des demokratischen Verfassungsstaates ist für Margarete Mommsen vor allem ein Ergebnis russischer Traditionen: des personalisierten Herrschaftssystems und der tief verwurzelten autoritären politischen Kultur. In einem Gemeinwesen, in dem die Vorherrschaft der Exekutive über die Legislative ein Glaubenssatz ist, könne es keinen Rechtsstaat geben.
Diese Kultur, die Streit verachtet, die Harmonie und Unterwerfung belohnt, habe es Putin leichtgemacht, ein autoritäres politisches System zu errichten, in dem sich die Unterworfenen nicht als Entrechtete, sondern als Profiteure der Macht einrichten.
Richter, Beamte und Abgeordnete wollen nicht unabhängig, sie wollen in der Nähe der Macht sein. Diese Wirklichkeit haben die Transformationsforscher als Mangel beschrieben, man kann sie mit Margarete Mommsen aber auch als eine andere Wirklichkeit beschreiben. "

FAZ 16. Februar 2008 S.36
Russland aber, wie häutet es sich?
Historikerin des Wandels: Margarete Mommsen zum siebzigsten Geburtstag
von Jörg Baberowski




" Hitlers Machtergreifung hatte in dem Augenblick eine revolutionäre Stimmung ausgelöst, als man mit Schrecken, aber auch mit Bewunderung und Erleichterung bemerkte, dass die Nazis tatsächlich daran gingen, das nur von einer Minderheit unterstützte 'Weimarer System' zu zerschlagen. Es gab überwältigende Kundgebungen des neuen Gemeinschaftsgefühls, Massenschwüre unter Lichterdomen, Freudenfeuer auf den Bergen, Führerreden im Rundfunk - man versammelte sich festtäglich gekleidet auf öffentlichen Plätzen, um sie anzuhören, in der Aula der Universität und in den Wirtshäusern -, Choralgesang in den Kirchen zu Ehren der Machtergreifung. Die Stimmung jener Wochen sei schwer wiederzugeben, schreibt Sebastian Haffner, der sie selbst erlebte. Sie bildete die eigentliche Machtgrundlage für den kommenden Führerstaat. Es war - man kann es nicht anders nennen - ein sehr weit verbreitetes Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie.
Nicht nur bei den Feinden der Republik gab es dieses Gefühl der Erleichterung über das Ende der Demokratie. Auch die meisten ihrer Anhänger hatten ihr nicht mehr die Kraft zugetraut, die Krise meistern zu können. Es war, als hätte sich ein lähmender Bann gelöst."

Rüdiger Safranski
Romantik - Eine deutsche Affäre
München 2007 (S.362 f)


[ eingegeben am 19.02.08 ]
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#28 - Allmählicher Aufstieg: Die Lunge, das blöde Organ...


Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme

(...) Wie oft haben wir nicht Gesangslehrer verkünden gehört, daß die ganze Gesangskunst in der Beherrschung, der guten Führung des Atems liege! Der Atem ist das pneuma , die Seele, die anschwillt oder bricht, und jede ausschließliche Kunst des Atems läuft Gefahr, eine insgeheim mystische Kunst zu werden (eine Kunst von einem verflachten Mystizismus, der sich ganz auf der Höhe der Massenlangspielplatten befindet). Die Lunge, ein blödes Organ (Katzenfutter!), schwillt an, strafft sich jedoch nicht: im Rachen, dem Ort, wo das phonische Metall hart und zugeschnitten wird, und im Gesichtsausdruck zerspringt die Signifikanz und läßt die Seele hervortreten. Bei F.D. (= Barthes spricht von Dietrich Fischer-Dieskau, dem er Charles Panzéra entgegenstellt) glaube ich immer nur die Lunge zu hören, nie die Zunge, die Stimmritze, die Zähne, die Innenwände, die Nase. Dagegen lag die ganze Kunst Panzeras in den Buchstaben, nicht im Blasebalg (einfaches technisches Merkmal: man hörte ihn nicht atmen, sondern nur den Satz zerteilen).

Roland Barthes
Was singt mir, der ich höre in meinem Körper das Lied
darin: Die Rauheit der Stimme, Zitat auf S.26
Merve Verlag Berlin 1979




Einatmen

Mit Atembewegungen füllen wir die Lunge mit Luft und stossen diese wieder aus. Auf diese Weise wird das produzierte Kohlendioxid ausgeatmet und neuer Sauerstoff wieder eingeatmet.

Beim Einatmen ziehen sich die äusseren Zwischenrippenmuskeln zusammen und heben die Rippen. Dabei spannt sich gleichzeitig die Muskulatur des Zwerchfells. Diese beiden Bewegungen vergrössern den Brustraum. Das Rippenfell, welches die äussere Wand des doppelhäutigen Sackes bildet, macht die Rippenbewegungen mit, weil es mit den Rippen verwachsen ist. Da der Spaltraum (Pleura) zwischen Rippen- und Lungenfell luftdicht abgeschlossen ist, wird das Lungenfell nachgesogen. Dadurch wird die Lunge passiv gedehnt. Der Raum in den Lungenbläschen vergrössert sich und die Luft strömt durch Luftröhre und Bronchien ein.

Das Bemerkenswerte am gesamten Atmungsvorgang ist, dass die Lunge selbst überhaupt keine Muskulatur hat. Mit Unterstützung von "Helfern", nämlich durch fremde Muskeln erhält sie eine sogenannte molekulare Atemhilfe.

Ausatmen

Bei der Ausatmung erschlaffen äussere Zwischenrippen- und Zwerchfellmuskeln. Der Brustkorb senkt sich, und das Zwerchfell wölbt sich wieder nach oben. Wenn sich der Brustraum verkleinert, wird die Luft aus der Lunge hinausgepresst. Nach dieser ersten Stufe der Ausatmung können die inneren Zwischenrippenmuskeln und die Bauchmuskulatur die Rippen noch weiter nach unten ziehen und das Zwerchfell stärker aufwölben. Dadurch wird noch mehr Luft ausgeatmet. Im Prinzip geschieht das Ausatmen von allein, wegen der Rückstellkräfte im angespannten Gewebe.

Gasaustausch

Von der rechten Herzkammer [kommt] das sauerstoffarme und kohlensäurereiche Blut zu den Kapillaren und wird in den Lungenbläschen gegen sauerstoffreiches Blut ausgetauscht. Dieses gelangt nun über die linke Herzkammer in den Körper. Aus dem dunkelroten venösen Blut, das aus dem Körper strömt, wurde Kohlendioxid an die eingeatmete Luft abgegeben. Gleichzeitig wurde Sauerstoff aus der inhalierten Luft an das nun hellrot werdende arterielle Blut geliefert. Das strömt von den Lungen aus ins Herz und wird von ihm in den Körperkreislauf gepumpt.

Quelle:
Website der Lungenliga [CH],
s. d. Themenschwerpunkte » Lunge und Atemwege » Atmung




Ulrich Stock: Wunderheilung am Zauberberg
Der ZEIT-Bildungskanon Folge 12: Luft

Die Lunge ist die wichtigste Schnittstelle zwischen Leib und Welt. Vier Wochen ohne Essen, vier Tage ohne Wasser, aber nur vier Minuten ohne Luft - dann ist Schluss. Aus einem Atemzug alle drei Sekunden holen sich die Alveolen den Sauerstoff ins Blut. Über die Gefäße erreicht er die Zellen; in deren Kern-Kraftwerken, den Mitichondrien, kommt es zur oxydativen Phosphorylierung - der feinstregulierten Energiegewinnung aus Nahrung und Luft.

Das Kohlendioxid, das dabei abfällt, fließt mit dem Blut zurück zur Lunge und wird ausgepustet. So schwingt jeder Körper mit im Ensemble der dampfenden Pflanzen, der blubbernden Meere und rauchenden Vulkane. Nichts ist hier statisch. Das Gas der Welt dringt in uns bis in unsere letzte Faser, und wir hauchen der Welt unseren Atem ein.

DIE ZEIT 10. Januar 2008 S.31




ATMEN, du unsichtbares Gedicht!
Immerfort um das eigene
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
in dem ich mich rhythmisch ereigne.

Einzige Welle, deren
allmähliches Meer ich bin;
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, -
Raumgewinn.

Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon
innen in mir. Manche Winde
sind wie mein Sohn.

Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte.

Rainer Maria Rilke
Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, I


[ eingegeben am 20.01.08 ]
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#27 - Was ist Geburt? Was ist das Heilige?
Was wäre die gute Nachricht der Religion?
(aus einem Gespräch mit Peter Sloterdijk)

Sloterdijk: (...) Ich finde es wichtig, dass man gegenüber der individualistischen Grundstimmung unserer Tage daran erinnert, dass Adoption ein grundlegender Vorgang ist, in jedem Leben. Auch die leiblichen Mütter müssen ihre Kinder adoptieren. Man kennt ja das Phänomen der Rabenmutter, bei der sich der psychobiologische Adoptionsvorgang aus irgendwelchen Gründen nicht abspielt. Die Mutter bleibt dem eigenen Kind gegenüber kalt.

chrismon: Und das Kind?

Sloterdijk: Hat später zeitlebens mit Kompensationen zu tun. Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass die Religionen der letzten zweieinhalbtausend Jahre Verfahren gewesen sind, die entmutigten Menschen auf dem zweiten Bildungsweg mit der Nachricht auszustatten: So gleichgültig und abgeschnitten, wie du dir vorkommst, warst du nicht gemeint und bist du letztlich auch nicht. Was wir unter dem Wort Erlösung ansprechen, ist der Sache nach eine Art Bejahungstherapie, die Wiederherstellung des verlorenen Resonanzvertrauens. Eine etwas häretische Spekulation: Wenn die gute Nachricht von der Nichtgleichgültigkeit der Existenz bereits an das werdende Leben im Mutterleib gerichtet wird, wenn also die Mutter schon pränatal auf der Frequenz der Begrüßung sendet - dann müsste sich ein Strukturwandel der Religionen ergeben. Die Menschen würden einen gewissen Typus von Erlösungsbotschaft viel weniger brauchen...

chrismon: Sie meinen, wenn Mütter gute Botschaft frühzeitig übertragen würden, bräuchten die Kinder keine Religion?

Sloterdijk: Das Problem würde sich anders stellen. Sie wären von Anfang an auf die Frequenz der Bejahung gestimmt und müssten nicht nachträglich mit priesterlichen Mitteln mühsam an eine positive Einstellung herangeführt werden. Man sieht, die vorgeburtlichen Dinge sind, was die subtileren metaphysischen Fragen angeht, von unabsehbarer Tragweite.

Weiß: Eine Tagung mit Hebammen und Theologinnen hat kürzlich die Frage gestellt, was notwendig wäre, damit das Heilige, das in vielen Geburten ein fundamentaler Bestandteil ist, spürbar werden kann.

chrismon: Ereignet sich bei der Geburt etwas Heiliges?

Weiß: Das Heilige ist anwesend. (...)

chrismon: Was ist denn das Heilige?

Sloterdijk: Das Heilige ist kein philosophischer Begriff, aber man kann es philosophisch umschreiben. Es deutet auf die Momente, in denen reine Gegenwart aufscheint. Der Wundermoment ist da, wenn alle Routinen und Wahrscheinlichkeiten weggeräumt sind - man steht vor dem nackten Dass, vor der puren Tatsächlichkeit. Alle Sicherheiten fallen beiseite, man sieht nur noch die Ereignishaftigkeit des Lebens, das gelingt. Die Selbstverständlichkeiten sind weggenommen, trotzdem geschieht das Einmalige, als könne es nicht anders sein.

Quelle:
chrismon / Das evangelische Magazin 12.2007, S.22-25
"Ihr Kinderlein kommet... Die Geburt ist etwas Heiliges - jede Geburt."
Sagen der Philosoph Peter Sloterdijk und die Hebamme Magdalene Weiß


[ eingegeben am 06.01.08 ]
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#26 - Was ist Kultur ?

Auszüge aus einem Feuilleton der F.A.S.(Nils Minkmar):
(...)
Die Industrie ist weg, dafür leistet uns die Kultur Gesellschaft. Sie ist ein durch und durch tröstlicher Begriff. Er macht alles, was man will. Man kann ihn ganz weit - alle Menschen, alles was sie tun, überall - und supereng fassen: Jeder kleine Tee- und Kaffeeladen wirbt mit Teekultur, der Schreibwarenladen steht in Wahrheit für Schreibkultur, und selbst in den letzten Flecken des Landes werben die Gaststätten, sobald Stofftischdecken aufgelegt sind, in ihren Speisekarten mit der Esskultur.

Es ist ein Begriff, der keinen Widerspruch erregt und auch nicht duldet: Keine Form der Kultur wird auf die andere losgehen, er ist konfliktfrei und additiv. Wie Seifenblasen schweben die Kulturformen und Disziplinen nebeneinander, und es gibt immer bloß diese eine gültige Forderung: mehr. Mehr Straßenkultur, mehr freie Kultur, mehr Unternehmenskultur, mehr Medienkultur, und wenn es wieder Erwarten doch mal laut und deutlich wird, brauchen wir mindestens eine veränderte Streitkultur.

Kultur ist auch immer gut. Nie liest man, dass die Folter eine jahrtausendalte Kulturtechnik sei, von der alten, reichhaltigen Kultur der Sklaverei oder der Kultur der öffentlichen Hinrichtung.

Seit dem Eintritt der Postmoderne und gleichzeitig mit der fortschreitenden Deindustrialisierung ist die Kultur zu einer deutschen Ersatzreligion geworden. Im einst so vorbildlichen katholischen Köln hat das selbst die Kirche erkannt und wirbt mit einer "KulturKirche", ganz flott mit Mittelmajuskel. So sind die neuen Verhältnisse: Nicht mehr der Klerus stiftet kulturelle Güter, er kann froh sein, unter den weiten Mantel der Kultur schlüpfen zu dürfen und von dort die Leute mit Konzerten und Ausstellungen locken zu können. "Canadian Brass" spielte neulich in dieser "KulturKirche".
Eine Liste der Kulturveranstaltungen in Deutschland würde locker ein mittleres Telefonbuch füllen, selbst dann, wenn man Gottesdienste, Flohmärkte und die Brunches ausschlösse.
(...)

Heucheleikultur

Irgendwie ist die Sache suspekt. Wird mit der Kultur ein Mehr an Menschlichkeit gefördert oder bloß ein Mehr an Heuchelei? Soll die frenetische und öffentlich praktizierte Gemütlichkeit von Anderem, Unangenehmem, Brisantem ablenken?

Besonders deutlich stellt sich diese Frage in den internationalen Beziehungen: (...) Der ungemütliche Begriff des "Kampfes der Kulturen" hat in diesen hehren Bereichen für so viel Irritation gesorgt, dass es zu einer sich selber erfüllenden Prophezeiung kam. Tariq Ramadan, der islamische Gelehrte, hat es so formuliert: "Es wurde so lange geleugnet, dass es einen Kampf der Kulturen geben könne, dass wir bald wirklich einen haben werden." Er meinte: Man hat es zugunsten einer illusorischen Problemleugnungsstrategie, gemäß welcher Kulturen gar nicht kämpfen können, versäumt, die Unterschiede zwischen Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft in Europa anzusprechen und auszuverhandeln. Die kulturellen Unterschiede waren der gutgemeinte Hinweis darauf, dass man sich für die Muslime nicht besonders zu interessieren braucht.

Thiersekultur

Das Bejubeln der Kultur als die letztgültige Sphäre menschlicher Aktivität tut schließlich auch den Werken unrecht: Shakespeare ist alles Mögliche, aber nicht schön und gut, war auch nie so gemeint. Auch der nationale Vorlesetag dürfte in seiner erdrückenden Gutgemeintheit manchen Jugendlichen davon abhalten, die subversiven und weltverändernden Qualitäten von Literatur zu entdecken. Schließlich wird ein Wolfgang Thierse den lieben Kleinen eher keinen Roald Dahl vorlesen, obwohl sich der Mann ja durchaus auf die Kultur der Bösartigkeit versteht.

Der Wahnsinn der Omnikultur, all das Geld fördern, wenn man Kultur als das Höhere und, wie der Schweizer Mediävist Valentin Groebner kritisch anmerkt, als die "zeitgenössische Fassung des 'deutschen Geistes'" begreift, keine neue Gründerzeit, die uns von Angela Merkel versprochen worden war. Sie fördern bloß ein neues Biedermeier, in dem liebe Menschen den lieben Kindern kindersichere Geschichten erzählen.

Besser hätte man den Verdacht gegen die Kulturkultur nicht auf den Punkt bringen können, als der im Zeit-, Ort- und Publikumslosen schwebende, ewig schöne Kultursender Arte es am vergangenen Freitagabend getan hat, wo es einen - was wären wir ohne Arte? - Film über Lage, Funktion und Wesen der Klitoris gab, nämlich im Rahmen eines Themenabends über die Kultur der Selbstbefriedigung, was Glanz und Elend der aktuellen Begriffsbedeutung gut zusammenfasst. Man möchte nur anmerken: Mit beidem kann man es übertreiben.

Nils Minkmar
in: Mehr Kultur braucht kein Mensch
Der Minister schafft 400 Millionen heran, und heute konstituiert sich ein "Weltkulturforum": Wofür eigentlich?
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
25. November 2007, Nr. 47, Seite 25


[ eingegeben am 24.12.07 ]
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#25 - Evolutionärer Humanismus

Der Philosoph Thomas Metzinger im ZEIT-Gespräch

Metzinger: Die Frage ist: Welche Konsequenzen wird eine naturalistische Wende im Menschenbild haben? Wie groß sind die psychosozialen Folgekosten?

Zeit: Haben Sie einen Vorschlag?

Metzinger: Ein guter Ausgangspunkt könnte die Idee eines "evolutionären Humanismus" sein. Allerdings ist die Evolution nichts, was man glorifizieren könnte: ein zufallsgetriebener, zielloser Prozess, der Millionen unserer Vorfahren geopfert und unendlich viel bewusstes Leid in die Welt gebracht hat und der keine Gnade kennt. Außerdem geht es nicht nur um uns Menschen, sondern um die Gesamtheit bewusster und leidensfähiger Wesen.

Zeit: Im Moment scheint es in der Welt nicht sehr gut bestellt zu sein für solche humanistischen Werte.

Metzinger: Ich bin im Grunde stockkonservativ. Wir müssen die Werte der Aufklärung verteidigen. Ich sehe eine Gefahr der Flucht in den Fundamentalismus. Die naturalistische Wende könnte eine Welle der Desäkularisierung, der Gegenaufklärung antreiben. Amerika haben wir schon verloren, ich denke, das ist eigentlich kein westliches Land mehr.

Aus: Die Zeit 16. August 2007 S.31
"Keiner wurde gefragt, ob er existieren will"
Ein Gespräch mit dem Philosophen Thomas Metzinger über die Suche nach der menschlichen Seele und die jüngsten Ergebniss der Neuroforschung.




Zu ergänzen wäre , dass der Begriff "evolutionärer Humanismus" bereits in den 50er Jahren eingeführt wurde und zwar durch Julian Huxley, einen der der wichtigsten Vertreter der modernen Evolutionstheorien, und dass inzwischen ein "Manifest des evolutionären Humanismus" existiert, ein "Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur". Der Autor heißt Michael Schmidt-Salomon.
Und auf S.109 ist da im Zusammenhang mit der "unsichtbaren Hand des Marktes" zu lesen:

Mit dieser unbestreitbaren Stärke des Marktmodells, das Smith insofern völlig zu Recht als eine Art des "natürlichen Wirtschaftens" begriff, sind allerdings auch ernst zu nehmende Gefahren verbunden. Evolution bedeutet nämlich keineswegs notwendigerweise "Fortschritt" - und schon gar nicht in einem humanistisch-aufklärerischen Sinne!
In Wirklichkeit ist Evolution, jener seltsame "Zickzackweg auf dem schmalen Grat des Lebens" (Franz Wuketits), alles andere als ein zielgerichteter Prozess, sie kann mit dem Anstieg, aber auch mit dem Rückgang von Komplexität einhergehen, fördert den Aufstieg, aber auch den Untergang von Arten (und Kulturen!), ist ein Synonym für Selbstorganisation, aber auch für Selbstzerstörung.

Michael Schmidt-Salomon
Manifest des evolutionären Humanismus / Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur
Alibri, Aschaffenburg 2006


[ eingegeben am 21.08.07 ]
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#24 - Blauer Himmel

(Fragen an F.C.Delius)

ZEIT: In Ihrer Doktorarbeit 'Der Held und sein Wetter' ging es darum, wie Schriftsteller das Wetter missbrauchen. Wie muss man sich diesen Missbrauch vorstellen?

Delius: Vergewaltigt wird es nicht, es wird benutzt, als Kunstmittel. Die Idee kam mir, als der Germanist Eberhard Lämmert in einer Vorlesung nebenbei sagte, das gute Wetter sei der beste Stimmungsmacher für schlechte Autoren. Ich habe dann die Tricks untersucht, mit denen Schriftsteller das Wetter so einsetzen, wie sie es brauchen. Das primitivste Muster ist dies: Positive Figuren bekommen Sonnenschein, negative Regen. Wenn sich Konflikte anbahnen, gibt es Sturm oder Gewitter. Bei Wilhelm Raabe gibt es eine antisemitische Sonne, den Wind als Kuppler und so weiter.

ZEIT: Die Arbeit entsteht in der Zeit um 1968. Viele Studenten träumen von Revolution: die Kritische Theorie ist allgegenwärtig. Und der politische Schriftsteller F.C. Delius promoviert über das Wetter. Warum?

Delius: Bei den Strenggläubigen war das ein verpöntes Thema. In vielen Wohngemeinschaften hing das Plakat mit Marx, Engels und Lenin und dem von der Bundesbahn geklauten Slogan: "Alle reden vom Wetter. Wir nicht." Das sollte heißen, wir vergeuden unsere Zeit nicht mit Floskeln, wir haben Wichtigeres zu tun.

(...)

Delius: Der Mensch ist gewohnt, das Wetter als etwas zu betrachten, das von oben kommt, als Schicksal, als Gott. Seit ein paar Jahren wissen wir, dass unser Verhalten das Wetter beeinflusst. Bis vor Kurzem waren wir Objekte des Wetters, jetzt sind wir auch Subjekte, sind Wettermacher. Das ist etwas völlig Neues, eine kopernikanische Wende der Wetterbetrachtung. Wir können nicht mehr verdrängen, dass wir mitdrehen am großen Rad der Erwärmung. So wird die Wetterbetrachtung zu einer moralischen Frage, siehe Al Gore.

ZEIT: Darf man da überhaupt noch "Schönes Wetter heute" sagen, oder müsste es heißen: "Trügerisches Symptom der globalen Erwärmung"?

Delius: Manchen wird solche Hysterie gefallen. Und es stimmt schon: Blauer Himmel ist neuerdings verdächtig. Blauer Himmel stand in der Literatur immer für Harmonie, aber solche Metaphorik gerät mehr denn je ins Wanken. Seit Menschengedenken stellt man sich die Apokalypse als gewaltiges Unwetter vor. Aber heute, mit den Waldbränden und Dürren, könnte es ebenso gut anders sein. Eine italienische Freundin sagt: "Die Sonne ist mein Feind." Wenn man das weiterspönne... Weltuntergang bei schönem Wetter, das wäre mal was anderes. Das müsste jemand versuchen zu schreiben.

Zitat aus: DIE ZEIT 16. August 2007 S.55
"Wetter ist immer ungerecht"
Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Friedrich Christian Delius über karibische Alpträume, römischen Regen und seine Angst vor Jörg Kachelmann

[Weltuntergang bei schönem Wetter?
Richtig, gesehen hat man das Modell schon: am 11. September 2001.
Wahrscheinlich wegen des blauen Hintergrundes hat Stockhausen es einen schwachen Moment lang für ein Kunstwerk gehalten.]

Noch ein Wort zur Farbe BLAU, die nicht zufällig den Hintergrund dieser - auch wenn es anders scheint - zumeist musikbezogenen Internetseiten bildet.

Victor Zuckerkandl schreibt über den Raum in der "Wirklichkeit der Musik" (und er meint damit natürlich nicht den "realen" Konzertraum):
"Kommen dem Raum, den wir hören, die gleichen Merkmale zu, wie dem Raum, den wir sehen und greifen? - William James ruft einen Vergleich zu Hilfe, um die Raumempfindung des Hörens zu kennzeichnen: es sei wie wenn man auf dem Rücken liegend in den leeren blauen Himmel schaut. Er spricht von einer 'simple total vastness', einer einfachen totalen Weite, in der es keine Teile und keine Abgrenzungen von Teil gegen Teil gibt.
Die Tatsache, daß hier ein Gleichnis aus dem Raume des Sehenden benützt wird, um den Raum des Hörenden zu beschreiben, bedeutet noch nicht, daß Sehraum und Hörraum gleich oder auch nur nahe verwandt sind. Nur ausnahmsweise liegen wir ja auf dem Rücken und schauen in den blauen Himmel, normalerweise begegnen wir als Sehende und Greifende dem Raume als etwas, worin Dinge an verschiedenen Orten sich befinden. Das Auge und deutlicher noch die Hand trifft auf ein Ding, hier ist eine Grenze im Raum gezogen, ein Teil des Raumes ist gegen einen anderen Teil oder den übrigen Raum abgegrenzt, ein Da von einem Dort unterschieden. Dem Ohr dagegen, dem Töne hörenden Ohr, sind solche Erfahrungen fremd. Das Ohr trifft nicht auf ein Ding - das ist es eben, daß wir nicht ein tönendes Ding hören, sondern Ton -, trifft nirgends im Raum auf eine Grenze."

Victor Zuckerkandl
Die Wirklichkeit der Musik
Zürich 1963 S.260


[ eingegeben am 21.08.07 ]
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#23 - Ein Lehrstück zur Basisdemokratie
und zur Abstimmung ("mit den Füßen") über die Bedeutung von Kultur:
der Dresdner Brückenbau

Andreas Zielcke in der Süddeutschen Zeitung (01.08.07):

(...) Der Irrtum der jetzt so brachial den Volkswillen exekutierenden Dickköpfe liegt aber tiefer. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, dieser Satz des Grundgesetzes wird den Brückengegnern triumphierend entgegengehalten. Nur besagt dieser Satz nicht das Geringste darüber, wer in einer Demokratie entscheidet, zumal über ästhetische und kulturelle Tatbestände. Demokratie heißt ja entgegen dem ersten Anschein nicht, dass das Volk herrscht, im Gegenteil, das Volk wird, jedenfalls im Großen und Ganzen, von der Herrschaft abgehalten. Das Volk legitimiert durch die Wahlen Herrschaft, führt diese aber aus guten Gründen nicht selbst aus. Es erlegt sich im wahren Sinn des Wortes eine Selbstbeherrschung auf.

[Denkwürdige Taubheit]

Nicht der "Urschrei" des Volkes soll Gesetz und Politik werden, sondern der gefilterte, gewählten Repräsentanten übertragene und durch Entscheidungsverfahren und Gewaltenteilung mediatisierte Wille. Dessen Vorteil ist nicht nur ein - unterstellter - Gewinn an Kompetenz, Abwägung, Distanz und Ausgleich. Vielmehr kann man die Repräsentanten für ihre Entscheidungen zur Rechenschaft ziehen und austauschen - das sogenannte "Volk" bekanntlich nicht. "Die liberale Demokratie", so fasst es der Publizist Thomas Schmid zusammen,"ist ein Unternehmen zum Schutz der zivilen Gesellschaft vor dem direkten Zugriff des Volkes. "

Dass hier Ausnahmen praktikabel sind, zeigen manche Plebiszite. Was sich aber partout nicht als Ausnahme der indirekten Herrschaft eignet, sind Entscheidungen in ästhetischen Fragen. So wenig wie Opernintendanten Spielpläne, Festivals und Biennalen graswurzeldemokratisch bestimmt werden können, wenn sie denn ihren kulturellen Rang behalten sollen, so wenig kann über die ästhetische Verträglichkeit eines Bauprojekts mit einem herausragenden kulturell-historischen Ensemble durch direkten Beschluss entschieden werden.
(...)
Ästhetische Urteile sind individuelle Urteile. Sie sind, wenn sie für Dritte Geltung beanspruchen, nur durch Kompetenz, nicht als plebiszitärer Querschnitt zu rechtfertigen. (...)

Andreas Zielcke: Wir sind das Volk, Punkt.
Das demokratische Desaster der Waldschlösschen-Brücke
SZ Feuilleton 1. August 2007

(Denkstoff auch bezüglich der inhaltlichen Verpflichtung öffentlicher Einrichtungen oder z.B. des Programmauftrags der Öffentlich-Rechtlichen Sender: nicht jedes Programm sollte von vornherein auf Mehrheiten schielen; das auf kompetente Minderheiten zugeschnittene Programm sollte als Angebot auch für Mehrheiten sichtbar und zumindest in der inhaltlichen Tendenz erkennbar sein. Anreiz und Reibungsfläche statt "demokratischer" Beschwichtigung. J.R.)


[ eingegeben am 09.08.07 ]
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#22 - Harry Potter und der Eisenhans

Burkhard Müller im SZ-Feuilleton (23.07.07):

(...) In der gesamten riesenhaften Fantasy-Literatur, besonders aber in ihren drei großen, geschlossenen, gemeindebildenden Universen - "Star Wars", "Herr der Ringe", "Harry Potter" -, erkennt man unschwer die wuchernde Wiederkehr des Märchens. Woher aber die Wucherung? Nimmt man im erwachsenen Alter wieder einmal die Märchen der Gebrüder Grimm zur Hand, so wird man fast unweigerlich eine Enttäuschung erleben: Es steht dort gar nicht, woran man sich erinnert, es steht dort viel weniger. Es heißt einfach "dunkler Wald", "eine Hexe", und Schluss; alle die inständigen Bilder, die sie heraufbeschwören, waren eine Leistung der eigenen Phantasie gewesen, man selbst hatte diesem dürrsten Gerüst zu Farbe und Tiefe verholfen. Wie kreativ wir damals waren, als wir bloß zu empfangen meinten!
Doch das kann man weder von den heutigen Kindern noch von der heutigen Zeit mehr verlangen. Um annähernd gleiche Wirkungen zu erzielen, braucht man viel stärkere Reize, was sich zunächst einmal in viel dickeren Büchern niederschlägt. Man sollte sich darum auch aus lesepädagogischer Sicht nicht allzusehr über die Bereitschaft zur Lektüre starkleibiger Bände freuen. Sie bezeugt zunächst einmal die eingetretene Erschlaffung der imaginativen Kräfte, so wie ja auch ein starkes Schlafmittel keineswegs auf den guten Schlaf des Benutzers schließen lässt. (...)

(Hauptsache, die Kleinen lesen????)

(...) Jede Buchhändlerin weiß, dass Kinderliteratur ein Nullsummenspiel ist und das kindliche Gesamtlesevolumen keineswegs zunimmt. Jede Potterlektüre entspricht also der Unterlassung einer anderen (...).

Aus Burkhard Müller:
Wenn nur alles in der Familie bleibt
Das Kinderbuch für ein nachkindliches Zeitalter - und ein Sieg der Klassengesellschaft. / Der neue und letzte von sieben Bänden "Harry Potter"
SZ 23.07.07

Burkhard Müller hat recht. Andererseits gibt es Grimmsche Märchen, in denen es eben doch nicht einfach "dunkler Wald" heißt...
Es war einmal ein König, der hatte einen großen Wald bei seinem Schloss, darin lief Wild aller Art herum. Zu einer Zeit schickte er einen Jäger hinaus, der sollte ein Reh schießen, aber er kam nicht wieder. "Vielleicht ist ihm ein Unglück zugestoßen", sagte der König und schickte den folgenden Tag zwei andere Jäger hinaus, die sollten ihn aufsuchen, aber die blieben auch weg.
Da ließ er am dritten Tag alle seine Jäger kommen und sprach: "Streift durch den ganzen Wald und lasst nicht ab, bis ihr sie alle drei gefunden habt." Aber auch von diesen kam keiner wieder heim, und von der Meute Hunde, die sie mitgenommen hatten, ließ sich keiner wieder sehen.
Von der Zeit an wollte sich niemand mehr in den Wald wagen, und er lag da in tiefer Stille und Einsamkeit, und man sah zuweilen nur einen Adler oder Habicht darüber hinwegfliegen. Das dauerte viele Jahre...

Nein, das ist alles andere als eine Enttäuschung, - mir fällt nur auf, dass von der Handlung, die mich als Kind über Monate beschäftigte, wenig haften geblieben ist, nicht einmal die Episode von Krieg und Sieg, lediglich die einzelnen erregenden Bilder, der wilde Mann (der Geist des Waldes), genannt Eisenhans, mit "rostigem" Leib, der aus dem Grund eines Pfuhls gezogen wird, die Enge seines Eisenkäfigs und die goldene Kugel, das Spielwerk des achtjährigen Knaben (der war natürlich ich), später der Brunnen, der alles vergoldet, auch meine Haare, die unter dem Tuch hervorquollen und mich verrieten.
Was für eine Verheißung! Wie lange habe ich die einzige Illustration des Märchens betrachtet. Es löste sich gewissermaßen vom erzählten Inhalt und hatte mit Macht und Ohnmacht zu tun, mit Furcht und Mitleid; die Augen des wilden Mannes verfolgten mich bis in die Träume. Hätte ich es gewagt, die Gittertür zu öffnen?

Als der wilde Mann wieder in dem finstern Wald angelangt war, so setzte er den Knaben von den Schultern herab und sprach zu ihm: "Vater und Mutter siehst du nicht wieder, aber ich will dich bei mir behalten; denn du hast mich befreit, und ich habe Mitleid mit dir. (...)"

[ eingegeben am 27.07 / 07.08.07 ]
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#21 - Neues über das Kulturradio und den Gebrauch des Genitiv(s)

DIE ZEIT 12. April 2007 S.52
(Zitat:)

Das Kulturradio gibt es nicht mehr, es wurde stillschweigend zu Grabe getragen, und nur wenige Angehörige säumten seinen Weg. In die Nachrufe mischten sich Hohn und Spott, zuweilen auch Trauer. Unvorstellbar, was das Kulturradio einmal vom Publikum gefordert, welchen Denkanspruch es ihm abgenötigt hat. Es hat seine Hörer nicht durch Trivialisierung beleidigt oder ihm vorgelogen, die Welt sei einfach und Rettung in Sicht. Doch mit den Jahren schwand die Hörerschaft, und selbst jene Intendanten, die gern von "Elite" schwadronieren, empfanden das Kulturradio als elitär und öffneten den Dudelfunkern gebührenpflichtig Tür und Tor. Wie so oft landete der Geist der Vergangenheit anschließend im imaginären Museum - auf CDs. In diesem Fall sind es die Vorträge des Philosophen Theodor W. Adorno, der der Hessische Rundfunk zu seinen ruhmreichen Zeiten in seinem (längst verblichenen) Abendstudio ausgestrahlt hat.
Fast vierzig Jahre nach seinem Tod wirken diese zwischen 1955 und 1969 gehaltenen Vorträge wie ein Kulturschock. Adornos Intonation ist von abweisender Kühle, seine Rede kristallklar, geschliffen und makellos, er betont jede einzelne Silbe, als solle alles gleich nah zum Mittelpunkt stehen. Grenzenlos ist sein Misstrauen gegen die Moderne mit ihrem "unbeschreiblichem Druck", den sie auf den Einzelnen ausübe; grenzenlos wiederum seine Hoffnung, die Vernunft könne "zur Besinnung kommen". Verblüffend ist die Unerbittlichkeit, mit der Adorno kulturelle Traditionen sowohl gegen forsche "Neuerer" wie auch gegen den Existentialismus eines Karl Jasper (sic!)* verteidigte. Was er über die "Aufarbeitung der Vergangenheit" zu sagen hat, ist ebenso unverändert gültig wie seine Bemerkungen über das Verhältnis von Autorität und Mündigkeit. Nur mit seiner Kritik an der Kulturindustrie lag er falsch, denn es kam noch schlimmer. (...)

Aus Thomas Assheuer:
Die Autorität will Mündigkeit
Hörbuch: Rundfunkvorträge des Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno





*Anmerkung:

Zweifellos kennt der Philosoph Assheuer seinen Karl Jaspers und würde dessen Eigennamen niemals deklinieren (sowenig wie den Namen Jasper, etwa in Anlehnung an "der Kasper, des Kaspers"), - ein aufmerksamer Lektor muss ihm hier geholfen haben...
Folge: man grübelt länger über den Genitiv als über die bedenkenswerten Einsichten eines Adornos (?).

[ eingegeben am 15.04.07 ]
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#20 - Der Körper und die Neue Trunkenheit


DIE ZEIT 12. April 2007 S.50
(Zitat:)

Was bewegt uns jetzt in seiner Musik? Nach leicht verrutschtem Beginn der Ersten Sinfonie schien Daniel Barenboim sich das selbst zu fragen - bis es ihm, spät im ersten Satz, wie dem Komponisten ging. "Wir es aus mir wie ein Bergstrom herausfuhr!" notierte der 28-jährige [Mahler] glücklich nach Fertigstellung der Sinfonie. Seit Adornos großem Essay von 1960 sind Mahlers Bewunderer immer mit etwas Unbehagen über solche Bemerkungen hinweggegangen; sie passen schlecht zur hochbewusst installierten "zweiten Naivität". Nun fragt man sich, wie viel denn die Nachwelt installiert hat. Denn Barenboim enthüllte einen mitreißenden Mahler ohne doppelten Boden. Risse, Extreme, Konflikte brachte er in "erster Naivität" zum Vorschein, unprogrammatisch, mit präziser Emphase.

Seien es Details, wenn in der Ersten die Geigen mal liebevoll das erste von vier gebundenen Achteln verbreitern, sei es, dass der Dirigent große Gesten und Durchbrüche weniger inszeniert als da spontan verstärkt, wo sie aus dem Konzertmoment selbst kommen. Und die "triviale" Sphäre wird nicht in eine höhere hinauszitiert, Barenboim nimmt sie als Musik an sich; die klezmerartigen Motive im Scherzo kostet er bis zur Kleinteiligkeit aus. Mahler hat die Klänge seiner Provinzherkunft immer mitgenommen, die Militärmärsche im Garnisonsstandort Iglau und die Folklore der jüdischen Diaspora. Ironisiert hat er nicht sie, eher die sinfonische Tradition, die das Triviale abwehrt. Barenboim interessiert sich dabei weniger für den Konflikt der Sphären als den der Affekte.

Was Zerrissenheit bedeutet, kann man darum im Finale der Ersten fast körperlich erleben. (...)
Dem Geist darin mag man sich anvertrauen. Dem Körper auch, dem Klangsinnlichen, das seit Adorno nur als "Träger des Geistigen" akzeptiert wird. Die Staatskapelle realisierte einen mit dem Körper identischen, keinen transportierten Geist. (...)

In der Fünften (1903) fehlt es Barenboim zwischen phänomenal spannenden Passagen mitunter doch am "Dahinter", sei es Ironie oder Metaphysik, da bleiben Leerstellen, die nach Scharnier klingen. Wo umgekehrt Erstarrung naheläge, wie im Scherzo bei der Tempoanweisung "unmerklich etwas einhaltend", riskiert er sie nicht. Dafür kommt im Finale der Theatermann Mahler endlich zu seinem Recht, der Opernchef und Szeniker, der ebenfalls schlecht ins Klischee vom Intellektuellen passt. Hier inszenieren Barenboim und Mahler eine fellineske Party, auf der sich die Beteiligten zu jener zweiten Klarheit emporgetrunken haben, die nichts mehr ernst nehmen kann. In diesem Pandämonium kippt selbst der im zweiten Satz noch stabile Choral ins Schräge, auf uns zu - wahrhaft heller Wahnsinn.

Aus Volker Hagedorn:
Der Lebensliebhaber - Barenboim und Boulez dirigieren in Berlin fast alle Orchesterwerke von Gustav Mahler





DIE ZEIT 12. April 2007. Ebenfalls S.50
Zur Documenta in Kassel:
(Zitat:)

Jedenfalls beginnt im Juni eine windungsreiche Bildungsreise. Viele dialektische Haarnadelkurven warten auf den Betrachter, Panoramastrecken der Schönheit und Tunnel des Unverständlichen. "Vielleicht wird es sein wie auf einer Heimfahrt von Ferran Adrià", sagt Buergel und erzählt von dem experimentierlustigen katalanischen Koch, der auch zur Documenta 12 eingeladen wurde. "Er hat sein Restaurant hoch in den Bergen. Am Ende des Abends ist man voll der wundersamsten Speisen und schön angetrunken. Dann muss man mit dem Auto die rasend steilen Serpentinen hinunter und weiß nicht, ob man jemals heil ankommen wird."
So soll sie sein, die Documenta 12: beglückend und gefährdend, befriedigend und bedrohend - eine dialektische Sensation.

Aus Hanno Rauterberg:
Revolte in Kassel - Sieben Gründe, warum die Documenta die Gesetze des Kunstbetriebs umstürzen wird





Ad usum Delphini (nach Harald Schmidt):
Liebe Kinder, bitte nicht nachmachen!





[ eingegeben am 14.04.07 ]
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#19 - Wassermusik (I)
Warum der Gesang der Geister unbedingt über den Wassern stattfinden muss


(Zitat:)
"Die Diskussion der allgemeinen Eigenschaften der Brandung berücksichtigt die auffallendsten Erscheinungen, vernachlässigt jedoch, was in meinen Augen der faszinierendste Aspekt dieses Themas ist. Während man allgemeine Kategorien über das Brechen von Wellen definieren kann, reichen dagegen ein paar Augenblicke der Beobachtung, um festzustellen, daß sich nicht zwei Wellen genau gleichen. Es kommen sämtliche möglichen Variationen vor. Sie unterliegen zwar alle den allgemeinen Gesetzen, die wir skizziert haben, doch jede Welle geht aus den etwas unterschiedlichen Bedingungen innerhalb der Geschichte der Welle hervor. Ein rollender Brecher zum Beispiel kommt in vielen verschiedenen Formen vor; dies hängt vor allem davon ab, um welchen Wert die Geschwindigkeit des Wassers jene der Welle übertrifft. (...)
Ohne Zweifel ist es diese unendliche Verschiedenheit, die den Strand zu einem solch fesselnden Ort macht. Ich bin davon überzeugt, daß das Beobachten von Wellen mit dem Hören von Musik verwandt ist. Für einen Anfänger hört sich jede Wiedergabe einer Klaviersonate von Chopin gleich an, doch je genauer er hinhört, um so deutlicher beginnen die Unterschiede aufzuleuchten. Nach einer Weile ist er nicht nur davon überzeugt, daß jeder Künstler seine eigene Fassung darbietet, sondern daß auch die verschiedenen Darbietungen ein und desselben Künstlers nie identisch sind. So verhält es sich auch um die Wellen. Zuerst sehen sie wir Mauern aus Wasser aus, die sich bewegen - zuerst. Doch nach und nach fallen die feinen Unterschiede ins Auge, und wir erkennen in jeder einzelnen Welle ein individuelles Kunstwerk." (S.138 f)
James Trefil
Physik im Strandkorb - Von Wasser, Wind und Wellen
Reinbek bei Hamburg 1991



Nicht bloß die Musik, - das bewegte Wasser

(Zitat:)
"Übrigens hat schon Aristoteles die Wirkung der Musik ganz ähnlich aufgefaßt. Im 29. Problem fragt er: "Warum passen die Rhythmen und die Melodien, welche Schall sind, sich den Gemütsstimmungen an, die Geschmäcker aber nicht und auch nicht die Farben und die Gerüche? Etwa weil sie Bewegungen sind, so wie auch die Handlungen? Schon die darin liegende Energie beruht auf einer Stimmung und macht eine Stimmung. Die Geschmäcker aber und Farben tun es nicht in gleicher Weise." Und am Ende des 27. Problems sagt derselbe: "Diese Bewegungen (der Rhythmen und Melodien nämlich) sind tatkräftig, Taten aber sind die Zeichen der Gemütsstimmung."
Nicht bloß die Musik, sondern auch andere Arten der Bewegung können ähnliche Wirkungen hervorbringen. Namentlich bietet das bewegte Wasser, sei es in Wasserfällen, sei es im Wogen des Meeres, das Beispiel eines Eindruckes, der einem musikalischen einigermaßen ähnlich ist. Wie lange und wie oft kann man am Ufer sitzen und den anlaufenden Wogen zusehen! Ihre rhythmische Bewegung, welche doch im einzelnen fortdauernden Wechsel zeigt, bringt ein eigentümliches Gefühl von behaglicher Ruhe ohne Langeweile hervor, und den Eindruck eines mächtigen, aber geordneten und schön gegliederten LebenS.Wenn die See ruhig und glatt ist, kann man sich eine Weile an ihren Farben freuen, aber sie gewährt keine so dauernde Unterhaltung, als wenn sie wogt. Kleine Wellen dagegen auf kleineren Wasserflächen folgen sich zu hastig und beunruhigen mehr, als daß sie unterhalten.
Die Tonbewegung aber ist allen Bewegungen körperlicher Massen überlegen in der Freiheit und Leichtigkeit, mit der sie die mannigfaltigsten Arten des Ausdruckes annehmen und nachahmen kann, daher ihr die Schilderung der Stimmungen hauptsächlich zufällt, welche die übrigen Künste nur mittelbar erreichen können... (...)" (S.414 f)
Hermann von Helmholtz
Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik (1862)
Darmstadt 1968



Taktwellen

(Zitat:)
"Musik hörend schwingen wir mit ihrer Taktwelle. Jeder Ton fällt auf eine bestimmte Phase dieser Welle; jede Phase der Welle teilt dem Tone, der auf sie fällt, und durch den Ton dem Hörer den ihr eigentümlichen Richtungsimpuls mit. Nicht weil ich zu einem Ton <eins> zähle (oder weil der Ton durch einen Akzent herausgehoben wäre), weiß ich, daß ich an einem Taktanfang stehe, sondern weil ich empfinde, daß ich über diesem Tone den Wellenberg erreicht habe und zugleich über ihn hinausgetragen werde, einem neuen Wellenumlauf zu. (...)" (S.194 f)
"Das Zeugnis der Musik sagt nur, daß das Sein von Zeit völlig in ihrem Wirken aufgeht. Wir beobachten ein Schwingen, ein Akkumulieren - und dieses Schwingen, dieses Akkumulieren ist auch schon die Zeit. Daß es da außerdem noch ein Etwas gibt, das schwingt und sich akkumuliert - so selbstverständlich uns so eine Annahme scheint, sie kann sich doch auf nichts stützen als auf unsere Denk- und Sprechgewohnheit. Um es im Gleichnis des Stromes auszudrücken: wir beobachten, wie Baumstämme bewegt werden, Brückenpfeiler unter Druck stehen, Erdreich fortgetragen und abgelagert wird - und das Bett des Stromes ist wasserleer. Zeit ist nicht der Strom, Wasser, das sich bewegt, Zeit ist das Strömen, wirkende Kraft, dynamischer Vorgang." (S.198)
Victor Zuckerkandl
Die Wirklichkeit der Musik - Der musikalische Begriff der Außenwelt
Zürich 1963



Der Raga-Fluß

(Zitat:)
"Im indischen System (...) finden sich zwei deutlich unterschiedene Elemente. Zunächst besitzt der Raga eine bestimmte Richtung und dann die Komposition, angepaßt an einen Tala. Ein Raga ohne einschließende Komposititon, konstruiert zum Tala, ist etwas grenzenlos Zeitloses und hat weder Anfang nocht Mitte, noch Ende. Es ist die Komposition in ihrem Tala, die aus dem Raga etwas Zeitliches macht. In der Komposition liegt eine zweifache Bewegung. Die eine ist der in sie eingebettete Tala, Windung um Windung vertikal in das Lied eingebaut, die andere die vielfältige Bewegung des Ragas und der Komposition in horizontaler Richtung, die am Schluß des Konzertes ihr Ende findet.
Der verstorbene Gulam Ali Khan beschrieb diese zweifache Bewegung, indem er den Raga mit einem Fluß verglich, der unaufhörlich dem Ozean zuströmt, und die mit dem Tala verbundene Komposition mit einem Boot, das den Fluß von einem Ufer zum anderen überquert. Unter der Komposition strömt der tiefe, geheimnisvolle Raga-Fluß, wohl unbeeinflußt von dem Boot, das ihn überquert, dem er aber für eine kleine Weile sein Dasein als Hilfe zur Verfügung stellt. Wie das Boot aussieht, das ist die Kombination von Tala und metrischer sowie sprachlicher Eigenart der Komposition, und der Raga ist das Medium, in dem es existiert. Die Überfahrt kann langsam = vilambit oder madhy = von mittlerem Tempo oder auch druta = schnell sein. Wichtig ist dabei nur zu bedenken, daß Fluß und Boot nicht die gleiche Richtung haben. Das Ziel des Bootes ist das andere Ufer, ungeachtet der Frage, wie lange es mit dem Strom schwimmt." (S.66)
Raghava R. Menon
Abenteuer Raga - Vom Zauber der Indischen Musik
Leimen 1988



Nicht Bach, sondern Meer

(Zitat:)
"Zu den untilgbaren Beethoven-Legenden gehört auch der ihm zugeschriebene Ausspruch über den Thomaskantor: "Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen!"
Selbst wenn dieser Ausruf angedichtet wäre, so ist sein Gehalt doch durchaus zutreffend - wie alle Musikverständigen seiner Zeit war auch Beethoven ein großer Verehrer der Bachschen Kunst. Schon 1801 beglückwünschte er begeistert den Leipziger Verleger Franz Anton Hoffmeister zu dessen Projekt, Bachs Gesamtwerk im Druck herauszugeben und kündigte seine Pränumeration an. Im Juli 1809 bestellte Beethoven bei Breitkopf & Härtel u.a. "überhaupt alles von Partituren" von Johann Sebastian Bach."
Beethoven-Haus Bonn, Sammlung H. C. Bodmer, HCB Mh 43

(Kommentar zu:
Johann Sebastian Bach, Inventionen für Klavier, dreistimmige Sinfonie Nr. 3 BWV 789 und zweistimmige Invention Nr. 11 BWV 782, Abschrift Beethovens)



Die letzte Welle

(Zitat:)
"Von der Entwicklung, in der die zeitgenössische Musik begriffen war, hielt er [Brahms] nichts, er hatte sich abgewandt. Er sprach offenbar gern davon, daß er der letzte sei, der noch ein ausgeprägtes Bewußtsein für die Integrität von Musik habe, er sagte es auf einem Spaziergang in Ischl zu dem jungen Gustav Mahler. Sie gingen an der Traun entlang.
"Da faßte Mahler plötzlich seinen Arm und wie mit der anderen hand lebhaft ins Wasser hinunter: 'Sehen Sie doch, Herr Doktor, sehen Sie doch!' - 'Was denn', fragte Brahms, 'Sehen Sie doch - dort fließt die letzte Welle.' Worauf Brahms brummte: 'Das ist ja recht schön - aber vielleicht kommt es doch auch darauf an, ob sich die Welle ins Meer ergießt oder in einen Sumpf!'" (S.98, nach Richard Specht)
Hans A. Neunzig
Brahms
Reinbek bei Hamburg 1973




Johann Wolfgang von Goethe
aus: Gesang der Geister über den Wassern

(...)
(... der reine Strahl...)

Im flachen Bette
Schleicht er das Wiesental hin,
Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne.

Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler;
Wind mischt vom Grund aus
Schäumende Wogen.

Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!




"Seele w: Das altgerm. Wort sele, ahd. se[u]le, got. saiwala, niederl. ziel, engl. soul ist wahrscheinlich eine Ableitung von dem unter See behandelten Wort mit der Grundbed. "die zum See Gehörende". Nach alter germ. Vorstellung wohnten die Seelen der Ungebornen und der Toten im Wasser. Der heutige Inhalt des Wortes ist stark vom Christentum geprägt worden. (...)"
Der Große DUDEN
Herkunftswörterbuch
Mannheim 1963



[ eingegeben am 10.04.07 ]
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#18 - Wie sich das Naturbild ändert:
mehr als eine "weltanschauliche Kränkung"

Elisabeth von Thadden schreibt:

"(...) Die Fische, das Wasser, das Wetter, der Körper, all dies ist Natur. Doch die setzt man unwillkürlich in Anführungszeichen. Sie ist Natur und zugleich nicht, sie trägt auf neuartige Weise die Handschrift des Menschen. Sie tritt in hundert Vermittlungen auf, und die westliche Lebensform hat fast alles mit ihren Produktsiegeln versehen. Was ist natürlich am Trinkwasser, das aus dem Hahn kommt? Gewiss ist nur: Ohne Wasser kommt keiner aus. Während die Meldung von der Erschöpfung der Erde allgegenwärtig werden, ist Natur den Sinnen vielfältig entzogen, der westliche Mensch misstraut all seinen Wahrnehmungen, weil die nicht angeben, was sich wirklich verändert, und doch weiß jeder von einem ökologischen Kollaps, der droht.

Aus dem Kollaps aber leiten sich Ratschläge für Naturfreundlichkeit nicht umstandslos ab. In den Empfehlungen, was ein jeder zur Abwendung der Katastrophe noch tun könne, steht nicht zu lesen, man möge lernen, den Gesang des Pirols von dem der Finken zu unterscheiden, ein Kind zu bekommen oder ein Gemüsebeet zu bestellen, um den Sinn fürs Lebendige wachzuhalten. Geraten wird, das Haus zu isolieren, den Stromverbrauch durch Ausschalten des Stand-by-Modus zu reduzieren, aufs Ökoauto umzusteigen und im Übrigen politisch tätig zu werden. Kluger Konsum, klügere Technik, Politik: Sie sollen in westlichen Breiten das neue Naturverhältnis des Menschen bilden.

(...)

Der Lack ist ab. Auf vertrackte Weise zeigt sich Natur, die vielen als das bessere Gegenüber des Menschen galt, überall und nirgends zugleich. Wer sie retten will, muss erstmal darüber Auskunft geben, was er da retten will, bevor er überlegt, wie das ginge. Jeder weiß, dass die westliche Lebensform nicht ohne verheerende Folgen milliardenfach kopiert werden kann, und sucht also individuell nach ökologischen Varianten des Alltags, doch kaum einer bildet sich ein, dass sein Vorbild eine Milliarde Chinesen beeindrucken wird. Dieses Dilemma ist neu.

(...)

Der englische Pfarrer und Nationalökonom Thomas Robert Malthus hält 1803 (...) dagegen (gegen Kants Vorstellung, dass der Boden der Erde Gesamtbesitz aller Menschen sei / J.R.), die Natur habe ihre reiche Festtafel nicht für jeden gedeckt: "Ein Mensch, der in eine bereits in Besitz genommene Welt geboren wird... und dessen Arbeit die Gesellschaft nicht will, der hat kein Recht, die kleinste Menge Nahrung zu beanspruchen, und in der Tat keine Veranlassung da zu sein, wo er ist."
Das Nachdenken über Natur schließt den Streit über die Verteilung der Güter mit ein, und dies nicht erst in den heutigen Konferenzen über Bevölkerungspolitik und Menschenrechte, die abwägen, wie sich die ökologische Gefährdung von Millionen Menschen zu der Sicherheit der Privilegierten verhält.

Ein anderer Ton der Aufklärung aber ist heute kaum noch zu hören, der Klang der Gewissheit nämlich, dass die eine Natur den Menschen in sich birgt, der versucht, sich ihr gegenüberzustellen. Diese Natur als umfassende Mutter war, unvermeidlich, keinem so vertraut wie Johann Wolfgang von Goethe: "Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen - unvermögend aus ihr hinauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen."
Seitdem die Bibel den Menschen ins Zentrum der Schöpfung gestellt hat, ist dies eine der bedenkenswertesten Eindämmungen des Anthropozentrismus geblieben.

Seither sind kaum mehr als zweihundert rasende Jahre der Industrie- und Aufklärungsgeschichte vergangen, mit einer weltweiten Hochbeschleunigungsphase seit der Mitte des letzten Jahrhunderts. Jetzt sind die meisten in westlichen Breiten tatsächlich ermüdet und dem Arme von Goethes Natur entfallen, aber anders, als das Goethe in seinem Tobler-Fragment gemeint hatte: Jetzt treibt eine unentwirrbare Allianz von Mensch und Natur in eine ungemütliche Zukunft, und um diesen rasenden Tanz für naturgegeben zu halten, sind die meisten heute zu aufgeklärt. (...)"

Elisabeth von Thadden: Im Auge des Orkans
Alle reden vom ökologischen Kollaps. Niemand spricht mehr von der Natur. Das ist ein Fehler.
DIE ZEIT Nr.8, 15.Februar 2007 S.39f [ ZEIT online ]



Hier finde ich genau den Schock wieder, der mich während des Urlaubs 1987 im Wallis erfasste: passend zur herrlichen Landschaft wollte ich mich durch Goethes "Schriften zur Natur" inspirieren lassen, begann aber parallel ein Sachbuch der modernen Biologie zu studieren: "Erforschtes Leben" von Barbara Hobom. Und da stand es klipp und klar schon im Vorwort:
"Die Erkenntnisse der molekularen Biologie haben den im 19. Jahrhundert erneut und heftig entfachten Streit zwischen den Mechanisten und den Vitalisten ganz überwiegend zugunsten der Mechanisten entschieden.
Die Mechanisten sind der Meinung, daß Leben letztlich nur auf dem Zusammenwirken von naturwissenschaftlichen Vorgängen beruht. Die Vitalisten verfechten dagegen die Ansicht, daß das Phänomen Leben nicht allein durch physikalisch-chemische Vorgänge zu erklären sei, sondern daß eine besondere Vitalkraft (vis vitalis) hinzukomme. Dies ist von den Vitalisten keineswegs klar definiert; sie wird einmal als Lebenskraft, dann wieder als Entelechie, Seele und dergleichen bezeichnet. Immer aber wird mit dieser geheimnisvollen Kraft etwas bezeichnet, was außerhalb des naturwissenschaftlich Meßbaren steht."
(Hobom S.8)
An den Rand schrieb ich ein Goethe-Zitat:
"...mit völliger Befugnis legte man diesem Leben, um des Vortrags willen, eine Kraft unter, man konnte, ja man mußte sie annehmen, weil das Leben in seiner Einheit sich als Kraft äußert, die in keinem der Teile besonders enthalten ist."
(GOETHE dtv 39, S.94)

Und viel später legte ich in dieses Buch ein ergänzendes Zitat aus der ZEIT vom 20.02. 2003:

"Als abstrakte Erkenntnis war all das höchst bemerkenswert: Die Natur, die noch bei Goethe ihr Wissen um die Prinzipien in verborgenen Urformen und in Tausenden von Ausprägungen sinnlich erfahrbar vorwies, hatte nunmehr die Halbbrille auf der Nase und arbeitete sich, wenn sie das Geheimnis der Erneuerung der lebendigen Materie vollzog, durch einen drögen Buchstabensalat, eine Art überlanges Lochband von einigen Milliarden Elementen. Für Schöngeister und Naturfreunde war dieses neue Wissen keine weltanschauliche Kränkung (wie ein Jahrhundert zuvor die Theorie von Darwin), sondern eine bürokratische, die kein Federfuchser sich hätte penibler ausdenken können. (...)"
"Die neue Umwälzung greift jedoch tiefer [als die Zähmung des Feuers, Kultivierung der Pflanzen, Züchtung von Nutztieren etc.]. Alle bisherige Biotechnik war für uns Menschen äußerlich. Sie zielte auf die umgebende Natur, machte sie zum Objekt, und wo sie sich den Menschen selbst zum Objekt nahm, tat sie es ebenfalls von außen - es war Manipulation des fertigen Körpers, nicht die seines Inbegriffs, was Chirurgen und Kosmetikerinnen ersannen. Gerade dies ist jedoch die zwar bislang noch durch Unfertigkeit begrenzte, aber doch visionär absehbare Neuheit: Mit der Verschriftlichung und Inbesitznahme des innersten Grundbestandes an Information, den die lebende Natur zur Regeneration ihrer selbst einsetzt, wird auch ein entweder schöpferischer oder aber gepfuschter Entwurf des Menschen selbst möglich. Und er wird stattfinden, so sehr wir uns auch gegen die Entwicklung sträuben und sie in vertraute Bahnen lenken wollten."
Jens Reich in DIE ZEIT 20.März 2003 S.31

Aber dieser neue Mensch oder sein Entwurf interessierte mich weit weniger als die Entwertung, die nun unabweislich das "romantisch-geheimnisbezogene" Naturbild betraf, dem ich mehr oder weniger immer noch anhing.

Im Jahre 1992 hatte ich in einem Beitrag für die Heftreihe "Moments Musicaux" der Kölner Philharmonie besonders geschätzte Autoren hervorgehoben, an dieser Stelle wohl auch wegen ihrer Buchtitel, die deutlich machen, dass hier nichts auf letzte Gewissheiten hinausläuft: "Unbegreifliche Realität" (Hoimar von Dithfurt), "Unbegreifliches Geheimnis" (Erwin Chargaff), "Der unbegreifliche Garten und seine Verwüstung" (Jürgen Dahl).

Jetzt aber schien mir auch dieser Unbegreiflichkeits-Topos nicht mehr haltbar. Er schien mir - vielleicht nicht so sehr bei den genannten Autoren als bei mir selbst - als Ausflucht zu fungieren.
Es ist unumgänglich, auf neue Weise über den (plötzlich doch erschreckend neuen) Menschen nachzudenken. Da helfen keine "Urworte Orphisch". Die Geisteswissenschaft muss die Biologie ernstnehmen; so wie ein Musiker seine musikalische Imagination mit der muskulären Struktur seiner Hände in Einklang bringt.

Die bürokratische Kränkung, von der Jens Reich sprach, hätte man relativ leicht verarbeiten können. Wieso sollte der "dröge Buchstabensalat" uns nachhaltig kränken, wenn plausibel ist, dass der Hintergrund des Lebens sich zufällig am kürzesten in diesen Symbolen darstellen lässt.
Ist es etwa eine bürokratische Kränkung, wenn ein orientalischer Analphabeth, der bis dahin mit Leidenschaft und Ausdauer den Geschichtenerzählern zugehört hat, endlich ein Buch mit eben diesen Geschichten in die Hand gedrückt bekommt? Zwar erscheint ihm zunächst alles, was er darin sieht, als Buchstabensalat; aber wenn er, statt gekränkt zu sein, lesen lernt, verwandeln sich die Buchstaben in lebendige Imagination und er ist über die Abwesenheit des lebendigen Erzählers am Ende doch getröstet.

Allerdings hat uns die Hirnforschung inzwischen ein neues, naturalistisches Menschenbild entworfen, das man auch bei blühendster Phantasie nicht produktiv mit den bisher erzählten Geschichten des Menschen verbinden kann.

Der Philosoph Thomas Metzinger gebraucht ebenfalls das Wort "Kränkung", er findet das neue Bild des Menschen "mehr als ernüchternd, ja fast schon entwürdigend" und beschreibt die Situation folgendermaßen:
"Der von der Hirnforschung herbeigeführte endgültige Zusammenbruch des metaphysischen Menschenbilds mit seiner Doppelnatur als körperliches und geistiges Wesen wird ein weltanschauliches Vakuum hinterlassen. Wie immer man zur christlichen Weltanschauung steht - keiner kann ernsthaft bestreiten, dass das klassische abendländische Menschenbild und die christliche Moral in den letzten 2000 Jahren bei allen moralischen Meinungsverschiedenheiten im Alltag doch immer den minimalen Grundkonsens innerhalb unserer westlichen Kultur geliefert haben. Bis heute sind sie ein ganz wesentlicher Garant für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Und eines ist klar: Die Neuro- und Kognitionswissenschaften können die von ihnen verursachte Leere nicht füllen. Daher brauchen wir einen anderen kulturellen Kontext, der es uns erlaubt, die vielen neuen Erkenntnisse über uns selbst und die daraus ableitbaren Handlungsmöglichkeiten auf rationale Weise zu integrieren. Sollte uns das nicht gelingen, steuern wir auf eine geistesgeschichtliche Krise zu - mit unabsehbaren Folgen für die Gesellschaft."
(Metzinger/Könneker S.265 f)

Wie könnte denn ein neuer kultureller Kontext aussehen?

"Wir müssten annehmen, dass das Universum ein intrinsisches Potential für Subjektivität hat. (...) Wir sind (...) etwas ganz Beonderes, weil sich in uns ein signifikanter Phasenübergang manifestiert: Wir haben eine starke, begrifflich vermittelte Form von Subjektivität in das physikalische Universum gebracht. Wir waren die ersten bewussten Wesen, für die die pure Tatsache ihrer eigenen Existenz zu einem theoretischen Problem wurde. Wir erfanden die Philosophie und später die Naturwissenschaft und entwickelten einen offenen, nachhaltigen Vorgang der Wissensgewinnung durch Gruppen von Wissenschaftlern, die über Jahrhunderte hinweg immer bessere Theorien über die Wirklichkeit konstruierten. Jetzt treten wir in eine historisch neue Phase ein: Die moderne Bewusstseinsforschung wird die Enstehungsgeschichte des phänomenalen Selbstmodells aufklären und dadurch auch tiefere Einsichten in die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft selbst liefern."
(Metzinger a.a.O. S.272)

Mehr noch:

"Es gibt (...) noch einen zweiten positiven Aspekt am neuen Bild des Menschen. Es ist die unfassbare Tiefe unseres phänomenalen Zustandsraums: Die mathematische Theorie neuronaler Netze und die moderne Hirnforschung haben erstmals enthüllt, wie gigantisch die Anzahl der möglichen neuronalen Konfigurationen in unseren Gehirnen in Wirklichkeit ist und wie unfassbar groß der Raum möglicher subjektiver Erlebnisse. Den meisten von uns ist diese Tatsache vollständig unbewusst. Diese Tatsache lässt uns aber in einem neuen Licht erscheinen. Das Potenzial unseres Erlebnisraumes, die Anzahl der verschiedenen Bewusstseinszustände, die einem einzelnen menschlichen Wesen möglich sind, ist wesentlich größer, als wir ahnen."
(Metzinger a.a.O. S.272)

Hier breche ich ab, um - anders als Metzinger - über den Erlebnisraum der menschlichen Musik nachzudenken, während ich zugleich höre, dass der Erlebnisraum des Gartens bereits erfolgreich von den Rufen und Gesängen der Vögel ausgelotet wird.

(21.03.2007 Frühlingsanfang)



Literatur

  • Barbara Hobom
    Erforschtes Leben
    Ein Sachbuch der modernen Biologie

    Freiburg Basel Wien 1980 (!)

  • Thomas Metzinger
    Der Preis der Selbsterkenntnis
    Beschert uns die Hirnforschung mit einem neuen, naturalistischen Menschenbild auch das Ende der Religion?

    in: Carsten Könneker (Hg.)
    Wer erklärt den Menschen?
    Hirnforscher, Psychologen und Philosophen im Dialog

    Frankfurt am Main 2006

[ eingegeben am 24.03.07 ]
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#17 - SLOTERDIJK: "... eine Weltkultur, die endlich ihren Namen verdient"

Peter Sloterdijks jüngstes Buch, Zorn und Zeit, kritisiert das Christentum für seine Unterdrückung der menschlichen Aggressivität.
"Große Politik" geschehe heute ausschließlich noch "im Modus von Balanceübungen". Die geschichtliche Zeit war die "Lernzeit für Zivilisierungen". Worauf zu hoffen ist, ist "ein Set von interkulturell verbindlichen Disziplinen" - eine "Weltkultur", die endlich ihren Namen verdient.
( Marius Meller im Deutschlandradio Kultur 19.09.2006,
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/544143/ )



"Religion ist nie cool"
Glaube schien in Europa erledigt. Jetzt ist er wieder da. Warum nur?
DIE ZEIT Nr.7, 8.Februar 2007 Dossier S.7-19 [s. u.]

( Hier folgen nur Auszüge aus Sloterdijks Beiträgen im Streitgespräch mit dem Papstvertrauten Walter Kardinal Kasper sowie ein paar Assoziationen [ s. u. ] des Lesers J.R. )


Sloterdijk:
Das Christentum steht in einer Linie mit ethischen Entwicklungen, die ins erste Jahrtausend vor Christus zurückzuverfolgen sind, in denen der menschliche Hochmut, wie man das damals zu benennen beliebte, in den Vordergrund der Kritik gerückt ist. Man wollte damals, im Interesse der Imperienbildung, einen Menschen, der in einer Welt des Dienens und Gehorchens funktionieren kann. Das hat man in der orientalischen Sphäre und in Asien mit dem größten Erfolg versucht, aber auch in der westlichen Antike. Das Interesse am Menschen, der gehorchen kann, führt zur Entdeckung des Egos als der Kraft, die anders will. Das liebe Ich will nicht so, wie der Herr will. Daher ging auch die Psychopolitik des Christentums darauf aus, den Menschen so zu prägen, dass er seinen Stolz fallen lässt und das Eigene zurückstellt zugunsten des Ganzen - wobei das Ganze sich in der Gestalt des Vorgesetzten zu verkörpern pflegt.

Sloterdijk:
Ich kenne die Klangfarben [ Assoz.1 ] der christlichen Botschaft und würde mich - wenn wir schon bei Max Weber sind - im religiösen Sinn für musikalisch halten, was übrigens ein gefährlicher Satz ist, weil er das religiöse Verhältnis auf eine Begabung abbildet.
Religion als Begabung beobachtet man übrigens auch in der östlichen Welt. Eine Figur wie Ramakrishna etwa, der um 1900 gelebt hat, war ein Religionsvirtuose. Er konnte sich in beliebige Glaubenssysteme hineinmeditieren und aufgrund seiner autoplastischen Talente innerhalb von 14 Tagen einen kompletten Christen simulieren [ offenbar jenseits der Fakten formuliert, s. Assoz. 2 ], mit allem, was dazugehört - wenn er noch mal 14 Tage weitergemacht hätte, hätte er die Stigmata entwickelt.
ZEIT:
Und Sie?
Sloterdijk:
Ich fühle mich dem Standpunkt des protestantischen Religionsphilosophen William James am nächsten. Bei ihm habe ich die für mich sehr überzeugende Annahme gefunden, das schon das Interesse für Religion die Religion selbst sein kann. [ Assoz. 3 ]
Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass ich in meiner Jugend mit mystisch orientierten Lutheranern zu tun hatte, die meinten: An der Religion ist eigentlich nur eines wichtig, nämlich die Offenheit, die Erfahrungsbereitschaft. Wenn einer eine Rose richtig anschauen kann [ Assoz. 4 ], sagte unser Religionslehrer, dann hat er möglicherweise vom Wesentlichen mehr verstanden, als wenn er sich verbal zum Christentum bekennt. In dieser Gefahrenzone bin ich seit jeher zu Hause, und so etwas wird naturgemäß mit den Jahren nicht besser.



Sloterdijk:

In meinen Augen reicht das Phänomen der Mehrsprachigkeit [ Assoz. 5 ] weiter als die Fähigkeit, sich für ein Credo zu entscheiden. Ich kann mich nicht gegen die Tatsache entscheiden, dass mir die Griechen etwas zu sagen haben. Ich kann mich auch nicht rückwirkend dagegen entscheiden, dass mir während einer langen Periode meines Lebens die Inder etwas zu sagen hatten, die ja neben den Juden als das paradigmatische Religionsvolk der Erde eine besondere Aufmerksamkeit verdienen, weil in ihnen sozusagen das zweite Gesicht des Homo religiosus aufscheint - das nicht so sehr von der Gesetzeshaftigkeit und von der personalen Gottesbeziehung geprägt ist, sondern von einer mehr mystischen und meditativen Form. Ich habe vor kurzem einen indischen Jesuitenpater kennengelernt, der auf die natürlichste Art zwischen dem Hinduismus und dem Katholizismus hin und her geht.
ZEIT:
Ein probates Modell?
Sloterdijk:
Sich entscheiden zu können ist wohl selbst eine Gabe, die dem einen zufällt und anderen nicht. Ich werde ein bisschen nervös, wenn es heißt, in der Religion gehe es immer um alles oder nichts. Das heißt doch: Wirkliche Religion ist totalitär, und alles andere wären nur Verfallsformen. Das klingt so, als wenn jemand sagt: Es gibt nur eine Form von Sexualität, das ist Sadomasochismus. Und wenn mich Gott nicht peitscht, dann ist er nicht der richtige. Ich glaube gerade umgekehrt, dass die totalitäre Form von Religion die Verfallsform ist.

( zit.n. DIE ZEIT Nr.7, 8.Februar 2007 Dossier S.7-19 [ ZEIT online ]
"Religion ist nie cool"
Glaube schien in Europa erledigt. Jetzt ist er wieder da. Warum nur?
Der Papstvertraute Walter Kardinal Kasper und der Philosoph Peter Sloterdijk im Streitgespräch.



Assoziationen

1) Musikalität?

Eine weitere Klangfarbe in der Rezension des neuen Buches von Peter Høeg:

"...so verfügt der weltberühmte Musikclown Kasper Krone über die Gabe, Menschen, Orte und Situationen als Klänge wahrzunehmen. Er kann also nicht nur das Gras wachsen hören , sondern auch erlauschen, auf welche Tonart sein Gegenüber gestimmt ist. Das ist eine hübsche Idee, doch wird sie derart beamtenhaft durch die Handlung gezogen, dass einem dabei die Freude an akustischen Phänomenen jeglicher Art vergehen kann.
Der Feinhörer Krone ist auf der Suche nach sich selbst, nach dem Sinn des Lebens und nach einer Verbrecherbande, aber auch nach dem Ewigweiblichen, das mal als attraktive Ingenieurin, mal als orthodoxe Nonne auftritt. So kommt es zu pseudo-musikologischen Stilblüten am laufenden Band: 'das Weibliche hat keinen bestimmten Laut. Keine bestimmte Tonart. Keine bestimmte Farbe. Das Weibliche ist ein Prozeß. In dem Augenblick, in dem ein Dominantseptakkord in der subdominanten Durtonart ausklingt, in dem Augenblick hört man das Weibliche.' Oder, etwas volkstümlicher: 'Er hatte den zarten Ton ihres Nachthemdes gehört.' Dass dem spirituell geschulten, hoch sensibilisierten Autor Høeg jedes Gespür für Misstöne fehlt, ist unter den unangenehmen Eindrücken, die dieses Buch hinterlässt, der erstaunlichste."
zit.n. DIE ZEIT Nr. 9 Literatur 8.Februar 2007
Dänen lügen nicht - Peter Høegs missglückter Zwitter aus Traktat und Thriller: "Das stille Mädchen"
Von Kristina Maidt-Zinke


Assoz.1a) Die Sache mit dem Dominantseptakkord ist missraten, weil die hier versuchte Anspielung auf Dominanzverhalten und weiblich-subordinierendes Wesen den musikalischen Sachbezug als dilettantisch erweist.
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2) Ramakrishna - "... in beliebige Glaubenssysteme hineinmeditieren? ...einen kompletten Christen simulieren" ?

"Christliches Gedankengut, ja eine leidenschaftliche pneumatische Christusliebe tritt ihm [Ramakrishna] in seinem Freund KESHAB CANDRA SEN entgegen, der als Hindu die 'Kirche Christi unter Hindus' oder 'Die Kirche der neuen Offenbarung' gründet, die aber zugleich eine Synthese mit der wesenhaften hinduistischen Frömmigkeit der Jahrhunderte sucht. Als Hindu unter Hindus spricht KESHAB seine Überzeugung aus, dass in Christus ein Offenbarungsfaktum vorliege, gegen das der gesamte Hinduismus nicht aufkomme. Ihm darum, und ihm allein soll das Kleinod Indien gehören, beteuert er in eindrucksvollen Proklamationen. 'Wenn KESHAB redet, lauscht die Welt', sagt man. Er stellt die markanteste, einschlagendste Infragestellung des Hinduismus dar, die RAMAKRISHNA erlebt. Gleichwohl verbindet ihn die aufrichtigste Freundschaft mit KESHAB bis zu dessen Tode im Jahre 1884. (...)
Von einem Nachbarn in Dakshinesvar lässt er sich überdies die Bibel vorlesen, im Tempelgarten trifft er einen frommen Muslim, der ihn regelmäßig im Islam unterweist. Von Gesprächen mit christlichen Missionaren erfahren wir nichts, polemische Äußerungen sind RAMAKRISHNA fremd. Um Mitte des vorigen Jahrhunderts ist die Auseinandersetzung voll entbrannt."
Otto Wolff
Indiens Beitrag zum neuen Menschenbild / Ramakrishna - Gandhi - Sri Aurobindo
Hamburg 1957, S.45 f. "Bruderschaft aller Religionen"
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3) Religion und geahntes Glück

Adornos Konstruktion ist ähnlich: "...die Erfahrung, dass in der Jugend unendlich Vieles als Versprechen des Lebens, als antizipiertes Glück wahrgenommen wird, wovon dann der Alternde, durch die Erinnerung hindurch, erkennt, dass in Wahrheit die Augenblicke solchen Versprechens das Leben selber gewesen sind. Die versäumte und verlorene Möglichkeit errettet der letzte Mahler, indem er durchs umgekehrte Opernglas die Kindheit betrachtet, in der es noch möglich gewesen wäre."
( Adorno: Mahler S.196, zielt auf 3., 4., 5. Satz Lied von der Erde )
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4) Rosen betrachten

"Reynaldo Hahn erzählt aus der Zeit seiner ersten Bekanntschaft mit Proust folgendes.
Er ging mit Proust in einem Schloßgarten spazieren. Man kam an einem Rosenbeet vorbei. Proust verstummte plötzlich und blieb stehen. Nach einigen Schritten blieb er wieder stehen und fragte: 'Würden Sie es übelnehmen, wenn ich etwas zurückbliebe? Ich möchte die Rosensträucher noch einmal ansehen.' Proust blieb zurück, währen sein Begleiter seine Wanderung fortsetzte. Als er das Schloß umschritten hatte, sah er Proust immer noch an derselben Stelle stehen, den Blick auf die Rosen geheftet, mit geneigtem Haupt, ernstem Ausdruck, mit hochgezogenen Brauen, in der Haltung angestrengter Aufmerksamkeit. 'Ich merkte, daß er mich kommen hörte, daß er mich sah, daß er aber nicht sprechen und sich nicht rühren wollte. So ging ich denn vorbei, ohne ein Wort zu sagen. Eine Minute verfloß, dann hörte ich ihn rufen. (...)
Wie oft habe ich dann später Ähnliches mit ihm erlebt! Wie oft habe ich Marcel beobachtet in jenen geheimnisvollen Augenblicken, wo er mit der Natur, mit der Kunst, mit dem Leben ganz kommunizierte, in jenen 'tiefen Augenblicken', wo sein ganzes Wesen sich sammelte in der Anstrengung des Eindringens und, damit wechselnd, des Aufnehmens, wo er sozusagen in einen Trance-Zustand geriet...' " (R. Hahn 1923)
Ernst Robert Curtius
Französischer Geist im zwanzigsten Jahrhundert
Bern 1952 / 2, 1960
darin S.318 f. "Marcel Proust", darin: "Kontemplation"
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5) vgl. Bi-Musikalität bei Ki Mantle Hood (1918 - 2005)

"Unauslöschlich mit seinem Namen verbunden ist das aus seiner Musikerpersönlichkeit und seiner musikethnologischen Feldforschungserfahrung entwickelte Konzept der ""Bi-Musikalität". Erstmals hat er es Ende der 1950er Jahre präsentiert und dann in seiner theoretischen und methodologischen Gesamtschau des Fachs "The Ethnomusicologist" von 1971 zur umfassenden Idee einer "musical literacy" entfaltet. Dieses Konzept unterstreicht die unverzichtbare Einbeziehung aufführungspraktischer Kompetenz in den Prozeß der Erforschung fremder Musikkulturen. Diejenigen, die dieses Konzept seither persönlich realisiert haben, können bestätigen, daß praktische Kenntnisse des jeweiligen Musikstils über eine Bereicherung persönlicher Erfahrung hinaus nicht nur den Umgang mit Musikern und anderen kompetenten Gewährsleuten im Rahmen der Feldforschung erleichtern und vertiefen, sondern daß man hierdurch insbesondere einen Zugang zu jenen Bedeutungsebenen musikalischer Kultur zu erlangen vermag, die in der Regel nicht in Worte zu fassen sind."
(Aus einer Laudatio von Rüdiger Schumacher, nach Kölner Universitäts-Journal 4-2003)
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[ eingegeben am 05.03.07 ]
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#16 - Gewalt und Wunderhorn

"Die Vergeltungslogik Kains ist bis heute virulent. Girard betont den Fortschritt, den der Rechtsstaat mit seinem Gewaltmonopol bedeutet. Aber wir sehen seine Grenzen. Er ist nicht allein geografisch begrenzt, weil er von der Rachekultur der Stammesreligionen und der Fundamentalismen bedroht wird. Er ist auch von innen her begrenzt, weil er die Folgen der Gewalt beherrschen kann, nicht aber ihren Ursprung.
René Girard macht uns darauf aufmerksam, dass keine Religion dem Begreifen dieses Ursprungs so nahegekommen ist wie das Christentum. Es ist zwar, zu seinem und unserem Unglück, allzu oft hinter den eigenen Erkenntnisstand zurückgefallen. Das aber gilt für jeden Fortschritt, den die Menschheit erzielt hat. Er versteht sich nie von selbst, er muss immer von Neuem erobert werden und jede Generation muss ihn sich aneignen.
Soziale Techniken sind dabei hilfreich, aber sie greifen nicht an die Wurzel. Man wird womöglich gut daran tun, gewaltverherrlichende Spiele und Medien zu verbieten, wobei man sich vor Augen halten muss, dass jedes Verbot seine Übertretung einschließt. Wir sollten uns nicht einbilden, administrative Maßnahmen könnten jene Logik des Schreckens aufheben, vor der uns die biblischen Texte und Werke der Literatur seit Anbeginn warnen. Sie können unsere Wachsamkeit für das Unheimliche schärfen, von dem etwa das kindliche Lied aus Des Knaben Wunderhorn spricht: 'Will ich in mein Gärtlein gehn,/ Will mein Zwiebeln gießen;/ Steht ein bucklicht Männlein da...' "
( zit.n. DIE ZEIT Nr.6, 1.Februar 2007, S.43 [ ZEIT online ]
Ulrich Greiner
Am Tor des Unheils

Irrationale Mordtaten Jugendlicher erschüttern unser Weltbild. Ratlos fragen wir nach Gründen. Aber schon die Mythen und die Bibel zeigen, dass das Böse zum Menschen gehört )
Nach einem überzeugenden Ansatz ("In seinen Gesprächen mit jugendlichen Gewalttätern stieß der Soziologe Ferdinand Sutterlüty immer wieder auf die Beschreibung eines rauschhaften Offenbarungserlebnisses auf dem Gipfel der Untat.") verklärt Ulrich Greiner die christliche Opfer-Ideologie und verschleiert, dass viele Gewaltdarstellungen seit dem Alten Testament und Homer weniger die Funktion haben, uns vor der Logik des Schreckens zu warnen als die, uns durch deren Darstellung zu beeindrucken. Und auch das "bucklicht Männlein" vermag wohl am allerwenigsten unsere Wachsamkeit für das Unheimliche zu erhöhen. Seine Drolligkeit entschärft dieses vielmehr und führt uns am Ende - wie Ulrich Greiner - in den Schoß der Kirche:
"Wenn ich an mein Bänklein knie,
Will ein bißchen beten;
Steht ein bucklicht Männlein da,
Fängt als an zu reden.
Liebes Kindlein, ach ich bitt,
Bet' für's bucklicht Männlein mit."


[ eingegeben am 04.02.07 ]
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#15 - Nieder mit den Postkutschen!

Ein ausgezeichneter Artikel von Volker Hagedorn (DIE ZEIT 18. Januar 2007 S.45 "Mozart geht online") geht mit den Sätzen zuende:
"Wer Figaro aufführen will, muss sich mit den Fassungen beschäftigen. Und wer glaubt, mit dem historisch gesicherten 'presto' über der Ouvertüre sei alles klar, sollte sich fragen, was man vor 220 Jahren als 'schnell' empfand, als die Noten mit der Kutsche kamen und nicht durchs Kabel..."


Das alte Argument von der Postkutschenzeit. Musikalisches Tempo hat jedoch nichts mit Beförderungsmitteln zu tun, sondern mit dem menschlichen Körper.

"Selbst einige Wissenschaftler bemühen sich ja heute ernstlich, die musikalischen Tempi geradewegs um die Hälfte zu drosseln, als habe im Zeitalter der Postkutsche notwendigerweise eine andere Vorstellung auch von musikalischer Geschwindigkeit geherrscht. Vermag aber ein Pianist, der sich der Postkutsche anvertraut, seine Finger weniger schnell zu bewegen als ein Pianist, der den Intercity benutzt? Hat sein Puls andere Grenzwerte? Orientiert sich sein Gefühl für Virtuosität und musikalische Brillanz etwa am Tempo der vorbeirasenden Landschaft?

Johann Wolfgang von Goethe verließ am 5. September 1786 mittags 12:30 Uhr Regensburg per Postkutsche in Richtung München, wo er am nächsten Morgen um 6 Uhr eintraf. Eine lange, langweilige Zeit?
Der Reisende von heute legt die 169 Kilometer per Bahn zwischen 15:57 Uhr und 17:25 Uhr zurück. Aber spricht er auch 12mal so schnell wie Goethe, läuft, lebt , liebt, fühlt, sieht, denkt er auch 12mal so schnell?

Er kann froh sein, wenn er mit den großen Geistern um 1800 Schritt hält, die wachen Sinnes und gut zu Fuß waren, - dazu so klug, ihr Postkutschenzeitmaß bisweilen zu schnell zu finden:

'Die Postillons fuhren , daß einem Sehen und Hören verging, und so leid es mir tat, diese herrlichen Gegenden mit der entsetzlichsten Schnelle und bei Nacht wie im Fluge zu durchreisen, so freute es mich doch innerlich, daß ein günstiger Wind hinter mir herblies und mich meinen Wünschen zujagte.' (Goethe, Italienische Reise, 11. Sept. 1786) "

Zitiert nach dem Booklettext: "Exkurs vom Tempo oder: Wie die Zeit vergeht..."
Jan Reichow 1987 (veröffentlicht in TACET 76, Beethoven Klaviertrios I)

[ eingegeben am 18.01.07 ]
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#14 - Digitale Welt

Lanier:
Leider setzen viele in der Elite der Computerwelt auf die Weisheit der Massen. Einer der einflussreichsten Wirtschaftsbosse im Silicon Valley zum Beispiel erzählte mir kürzlich, dass er aufgrund des Erfolgs der Wiki-Methode nun auch nach Algorithmen suche, mit deren Hilfe sich Musik finden lasse, die viele Menschen gut fänden. In zehn Jahren, so meint er, werde es möglich sein, im Internet Musik zu generieren, die den Leuten besser gefalle als alles, was sich ein einzelner Musiker ausdenken könne. Kinder brauchten dann gar keine Instrumente mehr zu lernen.
SPIEGEL:
Vielleicht können Computer ja wirklich manches besser? Vielleicht sind sie besser geeignet, Musik herzustellen?
Lanier:
Das kann nur sagen, wer glaubt, die Realität sei eigentlich nur ein gigantischer Computer und unsere Aufgabe sei es, seine Software zu verbessern. Diese Auffassung wird wirklich von manchen vertreten. Der Mensch selbst ist für sie in keinem Sinne wichtig.
SPIEGEL:
Halten Sie das für mehr als die Spinnerei von ein paar Computerfreaks?
Lanier:
Es ist im Grunde eine neue Religion. Diese Leute glauben an etwas Ewiges, Unsterbliches. Sie haben ihre Rituale, ihre drolligen Überzeugungen, ihre Heiligen. Solange dieses Menschenbild zu einer kleinen Subkultur gehört, mag sich das niedlich anhören. Aber es ist ernst. Computer haben mit jedem Jahr mehr Einfluss darauf, wie wir miteinander in Kontakt treten und wie wir unser Leben denken. Und mit den Computern werden auch die Ideen der Freaks immer mehr Teil des kulturellen Mainstreams. Und diese Ideen als Mehrheitskultur? Das wird eine grausame Welt!

SPIEGEL-Gespräch 46/2006 "Eine grausame Welt"
Der Digitalvisionär Jaron Lanier über seine Zweifel an Wikipedia, den gefährlichen Glauben an die Weisheit der Massen und die mächtige Religion der Computerfreaks.
In dieser Woche (d.h. Mitte November 2006) wird er auf dem 2. Dresdner Zukunftsforum über die Auswirkungen der digitalen Technologie auf die Individualität sprechen, so etwa darüber, ob im Internet das Kollektiv weiser und wichtiger ist als der Einzelne. Für Lanier ist dies ein menschenverachtender Irrglaube, den er als "digitalen Maoismus" brandmarkt.




"1948 erschien ein Buch 'The mathematical basis of arts' des in Amerika verstorbenen Russen Joseph Schillinger, ein dicker Wälzer, der zu dreiviertel mit Zahlen gefüllt ist. Dort wird der Beweis versucht, dass alle Schönheit in der Kunst auf mathematische Relationen zurückzuführen ist. Von da ist aber nur ein kleiner Schritt zur Umkehrung dieses Satzes, nämlich dass Kunstwerke durch rechnerische Verfahren hervorgebracht werden können. Ich bin fest überzeugt, dass manche der allerjüngsten Kompositionsmethoden auf Schillinger zurückgehen.
(Anm.: Inzwischen hat sich H.H. Stuckenschmidt in seinem Donaueschinger Vortrag dieser auch in meinem Webernbuch vertretenen Ansicht angeschlossen.)
Er ist nämlich auch der Verfasser eines zweibändigen Werkes 'The Schillinger System of musical composition' (1.Auflage 1941, 3.Auflage schon 1946!), das im wesentlichen auf Permutation beruht und in dem erstmalig der Terminus Parameter im Zusammenhang mit Musik verwendet wird. In der durch Schillinger vertretenen Mentalität sehe ich die Ergebnisse einer überzüchteten Augenanalyse bei gleichzeitigem Verlust des Kontaktes mit dem Klangerleben."

Walter Kolneder: Visuelle und auditive Analyse S.62
in: Der Wandel des musikalischen Hörens / Berlin 1965



" Erfindung und Verbreitung eines solchen (musikalischen Würfel-) Spiels sind nur erklärbar - und darin eben charakteristisch für die musikalische Aufklärung - vor dem Hintergrund des fundamentalen Wandels der musikalischen Satzstruktur um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Forderung und Durchsetzung einer vom Tanz herrührenden, als einfach und 'natürlich' empfundenen paarigen 'Taktordnung' sowie der Aufstellung symmetrischer Achttaktperiodik als Normanlage.
Erst ein streng periodisch metrisches Stück wie ein Menuett legt die Position eines Taktes im Taktgefüge eindeutig fest, so dass bei entsprechend gleichgebauten, nur im Melodisch-Rhythmischen variiertenStücken die Austauschbarkeit der Takte im Rahmen ihrer Ordnung möglich ist.
Ausgangskompositionen des Würfelspiels sind folglich vor allem Tänze, neben der Polonaise und später dem Walzer überwiegend das Menuett, das ohnehin in der zweiten Jahrhunderthäfte zum Inbegriff kompositorischer Ordnung des neuen Oberstimmensatzes wurde. "

zitiert nach: MGG neu / Sachteil / Würfelmusik (Wolfram Steinbeck)
Hier auch der Hinweis, dass ein angeblich von Mozart stammendes
Musikalisches Würfelspiel KV Anh. 294d (K.H.Taubert, Mz. 1956)
ihm nur untergeschoben wurde.
[ eingegeben am 14.12.06 ]
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#13

ZEIT:
Teilen Sie die Gegenwartskritik in Botho Strauß' Essay Anschwellender Bocksgesang ?
Rihm:
Ich habe das gelesen und fand es verständlich, in gewisser Weise auch von mir selbst erlebbar: dass eine Sprachfeindlichkeit in die Gegenwart einzieht und dass uns alle eine Vorherrschaft des Entertainments überzieht. Als Komponist erlebt man das ja noch mehr als ein Schriftsteller. Man ist der Unterhaltungswelt ausgeliefert und bekommt aus deren Kathedralen ständig mitgeteilt, dass auf ihrer Seite die demokratische Mehrheit zu finden sei. Heute ist das Entertainment heilig gesprochen, man darf schon gar nicht mehr sagen, dass einen das gar nicht interessiert. Sonst ist man undemokratisch. Diese Verbindung aus Entertainment und Mehrheit, dieser falsche Schluss: Da wo die Mehrheit ist, kann sowieso nur die Wahrheit sein, der wird in der Musik in einer weise zementiert, dass das, was Botho Strauß geschrieben hat, eigentlich noch harmlos war. Letztlich wird aus dieser Sphäre heraus auch ein neues Menschenbild gefordert. Man wird zur Abgabe der Organe für die Wahrnehmung des anderen aufgefordert. Das hat schon Frankenstein-Qualitäten.
ZEIT:
In einem Interview mit unserer Zeitung hat Strauß gesagt: "Niedergang war immer, das ist ein ständiger Topos des Geistes, seit der Antike. Das geht gar nicht anders. Letztlich ist doch die ganze Epik aus dem Geist entstanden: Die große Zeit liegt zurück." Empfinden Sie auch so?
Rihm:
In dieser Position ist jeder Künstler. Er ist konfrontiert mit dem, was von der Vergangenheit an Qualität geblieben ist. Dagegen muss er anarbeiten. Dagegen muss er das Eigene setzen.

( zit.n. DIE ZEIT Nr.44 16.Okt.2006 S.67 [ ZEIT online ]
"Verzweiflung ist etwas Großes"
Ein Gespräch mit dem Komponisten Wolfgang Rihm über produktive Einsamkeit, die Vorherrschaft des Entertainments und sein neues Melodram "Im Gehege"
mit Claus Spahn und Thomas Assheuer )
[ eingegeben am 30.10.06 ]
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#12

"Wer soll das alles lesen?", fragte Helmut Kohl bei seinen regelmäßigen Besuchen der Frankfurter Buchmesse, und als er eines Tages diese Frage am Stand des Rowohlt-Verlags wiederholte, sagte ich ihm:
"Herr Bundeskanzler, wenn Sie eine Bäckerei betreten und sehen Hunderte von Brötchen, fragen Sie doch auch nicht, 'Wer soll das alles essen?' "
"Das", antwortete er recht freundlich, "das ist für mich kein Problem."
Da hätte ich ihn fast umarmt, aber das ging nicht mehr.

( zit.n. DIE ZEIT Nr.44 16.Okt.2006 S.68 [ im ZEIT online ]
Michael Naumann
So viele Bücher, so wenig Zeit!

Was werden wir noch lesen, was sollten wir lieber aussortieren? Melancholische Gedanken beim Durchforsten der eigenen Bibliothek
i.e. Nachdruck einer Rede anlässlich der Verleihung des "Preises der Kritik" an den Autor auf der Frankfurter Buchmesse )
[ eingegeben am 30.10.06 ]
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#11

Der Islam gegen den Westen?
Widerlegung der Thesen Huntingtons

Wissenschaftler "untersuchten die Gewaltkonflikte vor, während und nach dem Kalten Krieg und fanden ganz anderes heraus: Diese Konflikte entflammten zumeist nicht zwischen unterschiedlichen, sondern innerhalb derselben Kulturgemeinschaften, und ihr Anlass war eher die Folge politischer Veränderung als zivilisatorischer Unvereinbarkeit.
Huntingtons Replik war damals eine gönnerhafte Umkehr der Beweislast: Wer ihn widerlegen wolle, der dürfe nicht nur die Konflikte bis Anfang der neunziger Jahre berücksichtigen, sondern brauche eine längere Beobachtungszeit; seine Kritiker sollten es später doch noch einmal versuchen.
Das haben Henderson und Fox nun getan. Der eine hat Daten bis 1999 ausgewertet, der andere bis 2001. Dabei zeigt sich zweierlei: Wo es Konflikte zwischen Kulturgemeinschaften gegeben hat, haben diese entgegen der Vorhersagen Huntingtons nicht nur an Zahl abgenommen, sondern auch an Gewaltintensität. Die große Mehrzahl hat sich zudem innerhalb dieser Gruppierungen zugetragen. Also nicht Westen gegen Islam, sondern Muslime gegen Muslime im nahen Osten, Ruanda gegen Burundi in Afrika, Katholiken gegen Protestanten in Nordirland.

Schiiten gegen Sunniten statt Christen gegen Muslime
Der Kampf der Kulturen findet nicht statt. Huntington hat zwar richtig geahnt, dass in der globalisierten Welt der Wunsch nach Identität überall zunimmt und damit auch die Bindungskraft der Religionen. Aber er hat diese Identität zu Unrecht in 'Kulturgemeinschaften' angesiedelt, die es so gar nicht gibt. Kulturgemeinschaften, wie Huntington sie definiert, können schon deshalb nicht gegeneinander stehen, weil sie zu umfassend und pluralistisch sind und deshalb keine Identität stiften. Die Reibungen entstehen vielmehr zwischen engverwandten Identitäten: Je näher man sich ist, desto mehr werden kleine Unterschiede zur explosiven Trennlinie. Wie einst territorialen Nachbarn, so ergeht ergeht es heute benachbarten Identitäten. Dann sind nicht die Christen der Feind der Muslime, sondern die Schiiten und Sunniten.
Der Professor, das wird klar, hat sich in der Kategorie vergriffen."
(Allerdings, so Fox:)
" 'Wenn westliche Politiker aufgrund von Huntingtons These zu der Überzeugung kämen, die islamische Zivilisation sei der neue Feind, dann kann es in der Tat zu einem Kampf der Kulturen kommen.'
Die falsche These produziert die falsche Politik. Die würde dann am Ende Samuel Huntington doch noch bestätigen."

( zit.n. DIE ZEIT 30.März 2006 S.64 [ ZEIT online ]
Christoph Bertram
Aus politischen Zeitschriften:
Jagd auf Huntington )
[ eingegeben am 11.04.06 ]
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#10

Ein italienischer Maler um 1750 in CHINA

" ... die Neugier der angeblich allein auf China fixierten Kaiser auf westliche Kultur.
Nie zuvor sind im Westen so viele Bilder von Giuseppe Castiglione gezeigt worden, der als Jesuit an den Kaiserhof kam - diese Tradition bestand schon zur Ming-Zeit - und dort als Lang Shining zum einflußreichsten Maler unter gleich zwei Herrschern, dem Yongzheng- und dem Qianlong-Kaiser, wurde. Seinem Vorbild verdankt letzterer etwa den perspektivischen Aufbau des eigenen Rollbildes mit dem Blick auf sein Berganwesen.
Castiglione sorgte für eine Revolution in der Hofmalerei. Plötzlich kam in die einförmige Staffage von Monumentalbildern Bewegung: Die dargestellte Masse von Untertanen individualisierte sich. Soldaten etwa blickten sich nach dem Herrscher um und fielen damit aus der Rolle. Die chinesischen Künstler am Hofe wurden von dem Italiener fortgebildet, der Kaiser ließ sich ein Palais im Rokoko-Stil von ihm bauen. Castiglione genoß die Freundschaft der Himmelssöhne selbst. Der Qianlong-Kaiser schrieb nach dem Tod des Malers auf eines von dessen Porträts in konfuzianischer Bescheidenheit:
'Shining beherrscht die Porträtkunst meisterhaft, und er malte mich während meiner jüngeren Jahre; der Weißhaarige, der heute den Raum betritt, erkennt nicht, wer das ist.' "
FAZ 20.01.06, S.33
Andreas Platthaus berichtet über eine Ausstellung zur Kunst unter den drei Mandschu-Kaisern Kangxi, Yongzheng und Qianlong, Royal Academy in London (bis 17.April)
[ eingegeben am 06.03.06 ]
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#9

Lebensferne der Kunst ?

" Der allzu handlichen, (...) fragwürdigen Unterscheidung von Leben und Werk sollten wir uns zunächst verweigern, sollten versuchen, dem Musiker in den 'Tunnel' zu folgen, in dem er der biographischen Betrachtung entschwinden, sobald er zu komponieren beginnt; aus dem er später als ein Anderer ins tägliche Leben, in seine 'Biographie' zurückkehren wird - wie immer hier vernachlässigt erscheint, daß man auch nach der Differenz des dem jeweiligen Werk zugehörigen ästhetischen Subjekts und des empirischen fragen müßte.
Man macht sich nicht verdächtig, große Schaffende zu Weltfremden stilisieren zu wollen, wenn man vermutet, daß ihnen, was sie bei der Rückkehr aus jenem 'Tunnel' vorfanden, oft eher als eine Kümmerform des Lebens erschienen sein mag.
Woher sonst die oft seltsame Indifferenz gegenüber Lebenskatastrophen, die Perioden bestürzender Fühllosigkeit, ausbleibender Anteilnahme am Schicksal selbst der Nächsten, woher die jähen, nicht selten krankhaft anmutenden Wechsel von hohem Lebensanspruch und asketischer Genügsamkeit?
Wie triftig immer nachgedacht wird über Kunst als Ersatz nicht gelebten Lebens, als Sublimation früh empfangener Traumata etc. - es bleibt zumeist therapeutisch befangen und versäumt, mit gleicher Emsigkeit zu reflektieren, inwiefern der Ersatz das Ersetzte überwachsen, wie sehr der Schaffende seinen Existenzgrund verlegen kann - so daß das empirische Leben halbwegs gar aus der Position des Motivierenden in die des Motivierten hinüberwechselt, als eben hinreichende Ermöglichung der künstlerischen Arbeit, des 'richtigen Lebens' mitten im 'falschen'. Nicht unberechtigt erscheint die Frage, ob Bruckner je frömmer aufgeblickt und gebetet habe als in seinen Sinfonien, ob Mozart seine Frau je so liebevoll erkannte wie in Fiordiligi. Große Werke ganz begreifen hieße nicht nur begreifen, wie sie erahnt, entworfen, erdacht und gemacht, sondern auch, wie sie, noch in den vermeintlich absoluten, strukturellen Details, gelebt worden sind. "
Peter Gülke
Brahms Brucker, Zwei Studien
Kassel 1989
Aus: Vorbemerkung S.11 f
[ eingegeben am 06.03.06 ]
#8

Tierbilder & Menschenbilder

" Was man für die Zukunft aus dem unterschiedenen Verhältnis zum Tier lernen kann, davon handelt der australische Philosoph Raimond Gaita in seinem Buch Der Hund des Philosophen. Gaita ist auf dem Lande aufgewachsen. Und wer auf dem Lande aufwächst, bekommt eine doppelte Erfahrung in die Wiege gelegt:
Tiere werden einerseits geliebt, man fühlt mit ihnen; andererseits werden sie der Verwertung zugeführt. Gaitas Vater pflegte schwache und wärmebedürftige Zicklein in der Küche, um sie später 'für das eigene Essen, meist jedoch, um die Hunde zu versorgen', zu schlachten.

Zwischen diesen beiden Haltungen bewegt sich Gaitas auch autobiografische Erzählung, in deren Verlauf die ursprünglichen Gewaltverhälnisse nie suspendiert werden. Die Schäferhündin Gipsy tötet die Katze Tosca - und hat sich was dabei gedacht? 'Ihr geht nichts durch den Kopf. Und genau das, nehme ich an, ist ein zentraler Aspekt dessen, was es heißt, ein Tier zu sein.'

Für Gaita bedeutet dies aber nicht eine Abwertung des Tieres. Er bestreitet auch nicht, dass Tiere eventuell ein Bewusstsein haben. Nur ist es für den tatsächlichen Umgang mit einer Spinne für Gaita unerheblich, ob physiologisch feststeht, dass Spinnen Schmerz empfinden, oder ob sie es nicht tun. Seine These ist, dass unsere Ethik auf einem Verständnis von Individualität beruht, das selbst unbegründet ist und weder durch Vernunft noch Verdienst gerechtfertigt, das hervorgegangen ist aus unserer Bezogenheit auf unsere Mitmenschen und vertieft wird durch die Liebe'.

Es geht Gaita um Formen zwischenmenschlichen Umgangs. Um die zu verstehen, hilft eine reduktionistische naturwissenschaftliche oder soziologische Betrachtung nicht - im Gegenteil. Die von der populären Evolutionstheorie nahe gelegte Anschauung, Gefühle und Verhaltensweisen bei Tier und Mensch als ähnlich anzusehen und auf biologische Ursachen zurückzuführen, verstellt den Blick auf die spezifischen Probleme menschlichen Verhaltens. "

( zit.n. DIE ZEIT Nr.10, 2.März 2006, Dossier S.17f
Fleisch mit Seele
Seit der Antike fragen wir uns, ob Tiere beseelt sind - und essen sie doch.
Lasst sie uns lieben, bevor wir sie schlachten!
von Cord Riechelmann )

" Michael Maertens' Jago [in der Zürcher Othello-Inszenierung] ist die Antwort auf die 'Textflächen' und die Ich-Austreibungen des deutschen Theaters. Denn das Ich kommt im Theater kaum noch vor. Die Soziologie hat herausgefunden, dass jeder Mensch nur ein Charakterfächer, ein Stapel von dicht übereinander gestaffelten Lebensrollen ist.

Und die Hirnforschung zeigt uns, dass es unwissenschaftlich ist, die Vorspiegelungen der Gattungsmatrix noch 'Ich' zu nennen. Das Theater hat seine Schlüsse gezogen. Es sagt nicht mehr 'ich', sondern nur noch 'wir' oder 'es'. Das ist die Rückkehr des Chores aus schierer Demut, das kleine Glück in der Masse. Das Theater stellt seine Spieler auf 'Textflächen' und erlässt ihnen die offenbar platte Arbeit, einen Menschen darzustellen: als wäre das bloße Illustration von etwas Höherem. Das Theater erspart sich die Verkörperung und stürzt sich auf die nackte, reine Idee. "

( zit.n. DIE ZEIT Nr.10, 2.März 2006 S.57
Deutschland hat den Superjago
Ein Schauspieler für kalte Zeiten: Michael Maertens ist der große Bösewicht in Matthias Hartmanns Zürcher "Othello"-Inszenierung
von Peter Kümmel )
[ eingegeben am 03.03.06 ]
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#7

Salman Rushdie über Ganesha heute

[Tagesspiegel:] - Christliche Rechte in den USA, Mullahs im Iran, fanatische Hindus in Indien. Es scheint, als ob es den religiösen Eiferern immer auch darum geht, den Menschen die Freude auszutreiben.

Salman Rushdie:
" Da müssen Sie sich nur mal anschauen, was die Hindus in Bombay mit dem Fest Ganapati gemacht haben, das zu Ehren des elefantenköpfigen Gottes Ganesch gefeiert wird. Für mich als Kind war das einer der schönsten Tage des Jahres. Die ganze Stadt befand sich in freudigem Aufruhr. Alle waren dabei, egal ob Hindu, Moslem oder Christ.
Die konservativen Hindus haben aus dem Fest eine nationalistisch-faschistische Veranstaltung gemacht. Andersgläubige können nicht mehr hingehen, ohne eine Tracht Prügel zu riskieren. Radikale Hindus grüßen sich mit dem Nazigruß.
Das ist nicht mehr das Bombay meiner Kindheit."
( zit.n. Der Tagesspiegel, Interview 5.2.06 )
[ eingegeben am 09.02.06 ]
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#6

" Der Mensch ist das Umwegwesen, das in seiner Kultur vor sich selbst hintritt.
Kultur (...) will nicht geglaubt, sie will verstanden sein. Sie macht nicht nur Umwege, sie ist der Umweg. Tatsächlich ist dies die Kurzformel, die sich sowohl aus der Entäußerung in den fait culturels als auch aus dem metaphorischen Charakter und der Verweisungsfunktion kultureller Ausdruckswelten ergibt: Kultur ist ein Umwegphänomen. Die Kartographie der Umwege bleibt freilich immer neu zu leisten. "

Ralf Konersmann: Kulturphilosophie / Zur Einführung
Hamburg 2003, S.128f

[ eingegeben am 29.01.06 ]
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#5

Salman Rushdie über zentrale Begriffe in Islam und Christentum:

" Ich glaube, dass dieser Punkt im Westen bisher vernachlässigt worden ist - einfach weil es die moralische Achse von Ehre und Scham dort nicht gibt. Das abendländisch-christliche Weltbild bewegt sich zwischen den Begriffen Schuld und Erlösung, ein Konzept, das im Orient völlig unwichtig ist, schon weil es keine Erbsünde und keinen Erlöser gibt. Dafür gibt es das große Gewicht der 'Ehre'. Ich halte das für problematisch. Sicher aber wird unterschätzt, wie vielen Islamisten es bewusst oder unbewusst darum geht, verletzte Ehre herzustellen. "

- Sie beziehen das im Buch ["Shalimar, der Narr"] auch ausdrücklich auf die sexuelle Ebene...

" Ja, das hat sehr viel mit sexueller Angst vor Frauen zu tun. "
( zit.n. STERN 4/2006 S.157 )

JR : Der Begriff der Sünde... das schlechte Gewissen, das sich durchaus nicht nur auf eigene Vergehen bezieht, nicht nur auf Untaten, sondern auch auf Ungetanes, auf nicht erledigte Arbeit, Versäumnisse. Das Gefühl, versagt zu haben, einer Sache nicht gewachsen gewesen zu sein... vgl. auch Parsifal, der die Frage nicht stellt

[ eingegeben am 29.01.06 ]
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#4

Rettungsinseln in Seenot / Die Bertelsmannstiftung fragt nach dem Sinn der Religionen
von Alexander Kissler

" (...) Von dem Soziologen Armin Nassehi kam der Hinweis, dass Religion als Denkkategorie erst von den modernen Kulturwissenschaften erfunden wurde. Die Jahrhunderte zuvor gab es religiöse Praxen. Man war gläubig, weil und indem man religiöse Handlungen vollzog, betete, feierte, beichtete. Insofern wäre die Rede von der Religion ein Indikator für einen erodierenden Glauben.
In diese Richtung weisen die Forschungen Paul Zulehners. Umfragen und Studien belegen, dass Säkularität und Spiritualität parallel anwachsen. Diese sei aufgrund ihres vielfach privaten Charakters, der fehlenden Vergemeinschaftung, eine Gefahr, keine Hilfe für die netzwerkorientierten Religionen. Nur selten führt also der Weg direkt aus der Agnostik über Yoga, indianische Schwitzkuren und tibetanische Schweigezeremonien zurück in die Kirche. Was für protestantische Ohren fast wie ein Loblied auf das katholische Kirchenbild klingt - die Ecclesia als Communio -, scheint demnach empirisch belegt.
Wenn die Kirchen wider alle Wahrscheinlichkeit vom Megatrend profitieren wollen, müssten sie dringend 'unter Ausschaltung moralischer Bewertungen' mit den Sehnsüchten ins Gespräch kommen. Und, fragte Zulehner, wieso eigentlich werden Klassiker mit Nachfrageüberschuss wie Hildegard von Bingen, Meister Eckhardt, Johannes Tauler kaum im kirchlichen Raum gelesen? Kurz gefasst: Mehr Mystik wagen!
Vielleicht ist die momentane Entmächtigung des Christlichen in Mitteleuropa aber die Folge eines anderen Strategiefehlers. Die originellste These vertrat Philip Gröning, Regisseur des Kartäuser-Filmes 'Die große Stille'. Das Christentum sei jene Religion, die am stärksten der Arbeit einen positiven Wert zuschreibe. Nun, argumentierte er im Sinne Ulrich Becks, da die Arbeitsgesellschaft sich dem Ende zuneige, verliere parallel das Christentum an Attraktivität. Nach dem "Zusammenbruch der alten Ordnung" sei Religion als "wärmende Rettungsinsel" gefragt und damit tue sich dieKirche, im Gegensatz zum Islam, schwer. Das Christentum als Religion der Arbeitsplatzbesitzer, der Protestantismus als Triebfeder der Globalisierung? Die Theologen nahmen den Ball nicht auf, woraus erhellt: Er könnte Recht haben, der Filmkünstler im fachfremden Raum. "
( zit.n. SZ Mittwoch, 25. Januar 2006 S.13 )
[ eingegeben am 29.01.06 ]
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#3

Gute Scheidung, schlechte Scheidung / Auch ohne Schlammschlacht der sich trennenden Eltern sind meist die Kinder die Leidtragenden
von Christine Brinck

" (...) Die 'gute Scheidung' mag gut für die Erwachsenen sein, weil sie ihnen erlaubt, neue Lebensentwürfe ohne große Friktionen zu realisieren, aber sie als gut für Kinder zu beschreiben, ist irreführend. Diese Irreführung ist Resultat der Definitionshoheit der Erwachsenen. Was für diese gut ist, soll auch für die Kinder gut sein. Gewiss, eine freundliche Scheidung ist eindeutig besser als eine kriegerische Trennung, doch selbst die nette Version liegt den Kleinen oft schwer auf der Seele. 'Solange die Eltern verheiratet sind', erklärt Elisabeth Marquardt, 'ist es auch ihre Aufgabe, mit dem Ehekonflikt umzugehen. Sobald sie geschieden sind, ist es Aufgabe der Kinder, die zwei (neuen) Welten zu verstehen.'
So fand sie heraus, dass zwar nur 20 Prozent der Befragten angaben, dass ihre Eltern viel Krach vor der Scheidung hatten, aber zwei Drittel feststellten, dass die Eltern nach der Scheidung wie 'entgegengesetzte Pole' agierten. (...) "
( zit.n. SZ Samstag/Sonntag 28./29. Januar 2006 S.17 )
[ eingegeben am 29.01.06 ]
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#2

Adnan Joubran erzählt eine andere Geschichte:

(O-Ton 5 Adnan Joubran:)

"Das erste Mal hielt ich eine Oud in der Hand, weil ich sehr verliebt war. Es war, als wollte ich der ganzen Welt meine große Liebe zeigen. Ich liebte meine Freundin so sehr, dass ich ein Oud-Spieler werden wollte."
(zit.n.: 17.01.06 WDR 3 Soundworld "Der Stern leuchtet mit Hilfe der Dunkelheit - das palästinensische Trio Joubran"
Moderation: Cecilia Aguirre)
Dieser eine Satz könnte ein respektables Kapitel Gender-Philosophie ergeben :
"Ich liebte meine Freundin so sehr, dass ich ein Oud-Spieler werden wollte."
Zumindest auf diese logische Verbindung von 2 Satzteilen kann, glaube ich, nur ein Mann kommen.

Auch dies also ein Beispiel für den Umweg-Charakter der Kultur, jedenfalls soweit sie männlich ist (zum Umweg siehe Ralf Konersmann: "Kulturphilosophie", Hamburg 2003)

Und jenseits der Kultur ist die befreiende Wirkung des Umwegs durchaus nicht unbekannt:
vgl. Schluss des Liebesbriefes an Susanne (Kabarettprogramm Lars Reichow):
" Für Dich haue ich das ganze Palm Beach zusammen. Dein Michael "
[ eingegeben am 18.01.06 / 24.01.06 ]
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#1

Die Keksgeschichte (rekonstruiert nach einem verlorenen SZ-Notat 2004)

Wenn ich mich recht erinnere, war es ein englischer Philosoph, der diese Geschichte erzählt.
Er wollte eine Reise antreten, war aber so früh am Bahnhof, dass er Zeit hatte, noch einen Kaffee zu trinken. Er kaufte sich am Kiosk ein Päckchen Kekse und eine Zeitung, dann gesellte er sich, da alle Tische besetzt waren, zu einem einzelnen Herrn; der Ober kam, noch ehe er Zeitung und Kekse abgelegt hatte. Er setzte sich also, bestellte einen Kaffee und machte es sich gemütlich.
Als der Kaffee eintraf, bemerkte er, dass der fremde Mann, ohne ein Wort zu verlieren, nach den Keksen griff, die Packung aufbrach und einen Keks entnahm. Wie verhält man sich in einem solchen Fall? Allzuleicht führen selbst vorsichtige Entgegnungen zu Wortgefechten, die eskalieren und am Ende in handfeste Schlägereien münden.
Andererseits konnte er aus Gründen der Selbstachtung nicht tatenlos zusehen; so wählte er den Weg der stummen Korrektur und tat genau wie sein Gegenüber: er entnahm ebenfalls einen KekS.Der andere, nicht faul, tat desgleichen, und so ging es hin und her. Sie beobachteten sich verstohlen, ohne ein Wort zu wechseln. Schließlich verlangte der Fremde die Rechnung, zahlte, murmelte einen Abschiedsgruß und ging, - den andern mit dem unbehaglichen Gefühl zurücklassend, sich nicht ausreichend verdeutlicht zu haben.
Nach einer Weile zahlte der auch, stand auf, griff nach der Zeitung und bemerkte darunter ein unversehrtes Päckchen Kekse, - sein Päckchen.
Schlagartig wurde ihm klar: die kleine befremdliche Geschichte, die er erlebt hatte, war in Wahrheit die des anderen!
Bis auf einen kleinen Unterschied:
Jener würde sie in Zukunft so erzählen, wie er selbst sie bis vor einer Minute erzählt hätte, womöglich ein Leben lang, - allerdings ohne je die eigentliche Pointe der Geschichte zu erfahren.
Er wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte, also lachte er Tränen.

[ eingegeben am 18.01.06 ]
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