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SWR 2 Musik aktuell
Buchbesprechung
Sicher bin ich nicht der einzige, der Gerd Indorfs ausgezeichnetes Buch über Mahlers Sinfonien zum Anlass nimmt, den GANZEN MAHLER revue passieren zu lassen, nach 50 Jahren Ruhm.
Das Buch ist konsequent gegliedert, es gibt keine bemühte Überschriften-Poesie. Jede Sinfonie hat ein eigenes Kapitel von 40 - 50 Seiten, auch "Das Lied von der Erde", und jedes Kapitel folgt erfreulicherweise dem gleichen Schema: Entstehungsgeschichte, 1. Satz, 2. Satz, 3. Satz usw.: nur manchmal gibt es Extra-Abschnitte, z.B. im Fall der zweiten Sinfonie den Einschub: "Mahlers ambivalentes Verhältnis zu programmatischen Erläuterungen", im Fall der Fünften Reflexionen zu dem Ausspruch: "Es bedarf nicht des Wortes, alles ist rein musikalisch gesagt", im Fall der Achten verschiedene Interpolierungen, u.a. zu Textwahl und Weltanschauung, am Ende den Überblick "Mahlers Achte im Verlauf der Rezeptionsgeschichte", im Fall der unvollendeten Zehnten ebenfalls eine bündige Darstellung der Rezeptionsgeschichte, also auch der verschiedenen Konzertfassungen, die sich Mahler durchaus nicht gewünscht hätte. (Er wollte, dass seine Skizzen vernichtet werden.) Bei aller Gleichförmigkeit in Gesamt-Aufbau und Auflistung der Formabläufe schafft es Indorf, durch präzise ausformulierte Texte und knappe Hinweise schlaglichtartig das Interesse immer wieder neu zu beleben. Im Fall der Zehnten gleich zu Beginn: "In keiner Sinfonie Gustav Mahlers finden sich so deutlich Spuren seiner Lebensverhältnisse zur Zeit ihrer Komposition wie in der zehnten."Was im übrigen für alle Entstehungsgeschichten gilt: die Verflechtung zwischen Werk und Leben wird plausibel, glücklicherweise ohne die Suggestion, dass eins aus dem andern erklärt werden könne. So endet das Kapitel zur Sechsten Sinfonie: "Das Finale ist in seiner kompositorischen Verdichtung und kompromisslos pessimistischen Weltsicht der vorläufige Endpunkt eines Weges, auf dem Mahler in seinen nächsten Kompositionen nicht weiter geschritten ist." (S. 295)Man fragt sich, was es für Mahler darüberhinaus geben könne und begegnet am Ende der Besprechung im nächsten Kapitel konsequenterweise wieder der Auseinandersetzung mit einem Finale, das inhaltlich einen ganz anderen Weg nimmt, jedoch vielen Mahler-Exegeten größtes Unbehagen bereitet hat: es scheint in seiner positiven, etwas oberflächlichen Fröhlichkeit dem Werkganzen einfach nicht gewachsen. Indorf argumentiert erstaunlich: "Mir scheint der Kopfsatz der Siebten derartig raumgreifend dominant zu sein, dass er gewissermaßen die Rolle eines Finales gleich mit übernimmt. Dadurch besitzt er eine Autarkie, die wohl 'Charakterstücke' wie die drei Mittelsätze neben sich duldet, für ein gleichgewichtiges oder gar überragendes Finale jedoch keinen Platz lässt. Vielleicht ist das Mahler erst während der Komposition des Kopfsatzes klar geworden." - man sieht, wie der Autor den Leser gewissermaßen in die schöpferischen Überlegungen mit einbezieht, man sieht das Für und Wider, und wenn man seine sorgfältigen Analysen nachvollzogen hat, versteht man ein scheinbar regressives Argument wie dieses: "Im Unterschied zum Finale der Sechsten kam für Mahler also in der Siebten nur ein Finale in Frage, das die im 1. Satz abgeschlossene Entwicklung nicht erneut problematisiert, sondern lediglich affirmativ bestätigt." (S. 345) Die Affirmation ist allerdings nur 3 Minuten kürzer als die Dialektik des fast 20minütigen Kopfsatzes. Indorf ist vorsichtig genug, hier keine allzu glorreiche Ehrenrettung zu inszenieren und appelliert an unsere Bescheidenheit: es gebe eben nicht nur analytische Tatbestände, sondern auch "Empfindungen und Wertungen", die "im jeweiligen zeitgenössischen Lebensgefühl ihre Wurzeln haben." Also im Lebensgefühl um 1910. Warum eigentlich nicht? Unser heutiges Mahler-Bild ist keinesfalls der Weisheit letzter Schluss, sondern auch "Rück-Blick" auf den "Zeitgenossen der Zukunft", wie Kurt Blaukopf ihn genannt hat. Wir haben zwar seit Adorno begriffen, dass die angeblichen Schwächen Mahlers in Wahrheit seine Stärken sind. Aber man muss diese Technik der Argumentation nicht mechanisch weitertreiben, ohne sich zugleich mit den Zweifeln zu beschäftigen, die Mahler weiterhin provoziert. Kein Zweifel an seiner Größe, vielleicht nur - "nur" - an der Grundbedingung seines metaphysischen Erlösungsdrucks. Zugleich erlebt man die unverminderte Energie dieser Musik. Und nach der Lektüre dieses neuen Buches erinnert man sich an die Summe all der ebenso genauen wie vorsichtigen Schritte, den Mahler-Horizont zu öffnen: das letzte Stück aus dem "Lied von der Erde" - "Der Abschied" - wird zu einem Glanzlicht des Exegese, und eine ähnliche Mischung aus analytischer Nähe und schmerzlicher Distanz zeigt sich in Gerd Indorfs allerletztem Satz zum Schluss Neunten: "Der letzte Ton as wird jetzt selbst zum Zielton einer Kadenz, als wenn eine Wandlung in die 'andere Wirklichkeit' stattgefunden hätte." (S.479) Und am Ende der zehnten Sinfonie, die nach Mahlers Skizzen von Deryck Cooke fünfsätzig, also weit über das bekannte Adagio hinaus, vollendet wurde, erscheint die letzte Metamorphose eines dreitönigen Motivs, das mit Alma (sie wurde von Mahler "Almschi" genannt) zu tun hat. Gerd Indorf schreibt dazu: "Hier (...) findet [das Motiv] als gelassene Abschiedgeste seinen Frieden - freilich, einen Frieden, der nicht mehr von dieser Welt ist. So etwa mag es Mahler vielleicht empfunden haben. (...) Im Particell steht an dieser Stelle: 'Almschi!'". Zitatende. Ich füge hinzu: Ausrufezeichen! handschriftlich, - es ist ein Schrei. Keine weitere Deutung, nur dieses bleibt im Sinn: "So etwa mag es Mahler vielleicht empfunden haben." "Etwa" und "vielleicht". Das ist schön! Mit dieser behutsam teilnehmenden Beobachtung einer fernen anderen Wirklichkeit und der letzten Vision menschlicher Nähe kann man dem späten Mahler wohl begegnen, - ohne das Bewusstsein der immensen Distanz zwischen seiner "Welt" und der unseren zu verlieren. Unmittelbar anschließend die letzten Takte der Zehnten: |
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