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...in den Wäldern von Lichtental entstanden...
Worum geht es in der Musik? Um Strukturen, um Eduard Hanslicks "tönend bewegte Form"? Um das Leben, die Liebe, Selbstfindung, Fremdfühlung? Oder um all dies gleichzeitig und vieles mehr? Im Sommer 1858 war Brahms ein junger Mann von 25 Jahren, und es gab keinen Zweifel: er liebte ein Mädchen namens Agathe, ein Name fast aus Tonbuchstaben, A-G-A-H-E, ein Name wie Musik, und sie sang bezaubernd seine Lieder. Sie liebte ihn, welch ein Glück, es wurde sein "Agathen-Sommer". Anfang Januar verlobten sie sich, er übte wie besessen für die Uraufführung seines ersten Klavierkonzertes in Hannover, die restlichen Stunden gehörten ihr! Aber nach der Abreise, Mitte Januar, schrieb er seiner Verlobten einen seltsamen Brief: "Ich liebe Dich! ich muß Dich wiedersehen! aber Fesseln tragen kann ich nicht! Schreibe mir, ob ich wiederkommen soll, Dich in meine Arme zu schließen, Dich zu küssen, Dir zu sagen, daß ich Dich liebe!" Ein zweifacher Schlag, - was verlangte er da? Die Lösung der Fesseln und zugleich die Fortsetzung der Liebe? Liebe und Abschied
Und gehst du über den Kirchhof, da findest du ein frisches Grab; So auch im zweiten Streichsextett op.36, dessen erste drei Sätze im Sommer 1864 entstanden. Zu seinem Freund Gänsbacher sagte Brahms: "Da habe ich mich von meiner letzten Liebe losgemacht." Wie das? Eine pendelnde Achtelbewegung zwischen Grundton und Leiteton, im Klavier der Triofassung von irisierender Wirkung, 32 Takte lang, als Balanceakt besonders sinnfällig in der originalen Sextettfassung, wenn Brahms diese Sekundfolge, wo immer es geht, auf zwei Saiten verteilt (Bariolage). Und darüber entfaltet sich die Polarität des Hauptthemas: G-Dur, Es-Dur, G-Dur (zweimal!). Anschließend über H-Dur, E-Dur, a-Moll zurück nach G-Dur, und wieder das Changieren zwischen G und Es, während sich zugleich die Achtelbewegung, hier und da nach dem Modell des ersten Taktes verweilend, in den Tonraum ausbreitet. Dann ein Überleitungsgedanke, der die Pendelbewegung obstinat zusammenschnürt, von Sforzati und Akzenten durchsetzt, - eine Lösung bereitet sich vor: Doch das zweite Thema, das mit verhaltenem Jubel beginnt, zunächst im Cello, dann unisono mit der Geige, wendet sich nach Moll. Im Bass strebt ein chromatischer Gang nach oben, während die Geige auf dem höchsten Ton des ganzen Satzes insistiert und dann dreimal hintereinander das A-G-A-H-E-Motiv intoniert. Dabei ist über dem Ton H noch ein hohes D als Vorhalt zu hören; dieses D könnte man als T-laut lesen (Aga-T-he), könnte ihn als eingeworfenen ADE-Ruf oder auch "einfach" als Klageton verstehen. Abwegig sind diese Deutungen, die auf Kalbeck zurückgehen, durchaus nicht; denn dieser Ruf und die Original-Töne kehren auch in der Reprise wieder, obwohl hier das zweite Thema traditionsgemäß in die Grundtonart versetzt ist, was Konsequenzen für die Wiederkehr dieser Stelle hat: trotzdem restituiert Brahms absichtsvoll auch hier das A-G-A-H-E-Motiv. Und welches Resümee zieht die Coda? Das Es-Dur im Thema verschwindet, aus dem Es wird ein Dis, ein Leiteton, eine neue Perspektive, und doch mündet es schließlich in einen traurigen Abstieg der Violine über 9 Takte, der Ton Es taucht ganz sanft wieder auf, und vor der G-Dur-Schlusskadenz gibt es noch einen kurzen furiosen Aufstieg - im Es-Dur-Akkord. Damit ist die Geschichte noch nicht zuende, ein wundersam wehmütiges Tänzchen folgt, merkwürdigerweise Scherzo genannt, vielleicht dank seines verwegenen Mittelteils; und ein langsamer Satz, der das Quintenthema des ersten Satzes zu einem Quartenthema kontrahiert, in der Begleitung einen feinen rhythmischen Widerstreit inszeniert (zwischen Achteln und Triolen) und schließlich in einem Schluss-Adagio aufgeht, das mit seinem Sechzehntelgewebe von fern an das Lied "Rückblick" aus Schuberts Winterreise erinnert: "Die runden Lindenbäume blühten, die klaren Rinnen rauschten hell, und ach, zwei Mädchenaugen glühten, - da war's gescheh'n um dich, Gesell!" Peter Gülke hat - in anderem Zusammenhang - bemerkenswerte Sätze über Brahms geschrieben: Schauen wir nun in das größte deutsche Musiklexikon, so sehen wir im Artikel "Brahms" mit Verwunderung, dass die Historie seiner kompositorischen Strukturen 26 Doppelspalten, die Agathen-Geschichte aber nur einen Nebensatz wert ist, und der beruht auf der Fehldeutung einer Brahms-Äußerung: der Misserfolg des D-Moll-Klavierkonzertes, insbesondere in Leipzig, sei schuld gewesen, "dass Brahms sogar Konsequenzen im persönlichen Bereich zog und sein Verlöbnis mit der Göttinger Professorentochter Agathe von Siebold (1835-1909), die er im Sommer zuvor kennengelernt hatte, löste." So spricht die Wissenschaft. Man braucht wohl kein Psychologe zu sein, um die entsprechende Brahms-Äußerung lediglich als Selbstschutz und vorsichtige Rationalisierung des Loslösungsprozesses zu verstehen. Nur wenn man das Thema so schnell wie möglich beiseitelegen will, mag die Devise gelten: Kein Wort von der Liebe oder Problemen der Bindung. "Konsequenzen im persönlichen Bereich"! Wer aber kein Wort verliert über diesen einen Punkt, der wird vielleicht auch bei bloßen Strukturen unglaubwürdig: Sie könnten nämlich mit lauter Liebe gefügt sein. Der Wald und die Mutter
Am 1. Februar 1865 hatte er die Depesche aus Hamburg bekommen: "Gänsbacher, der zufällig am nächsten Morgen den Freund in seiner Wiener Wohnung (...) besuchte, fand ihn am Klavier sitzen. Brahms spielte Bachs Goldberg-Variationen, teilte dem Freunde die traurige Nachricht mit, ohne das Spiel zu unterbrechen, und sagte, während ihm ein Strom von Tränen über die Wangen lief: 'Das ist wie Öl.' Er fuhr noch an demselben Abend nach Hamburg und eilte sofort an das Sterbebett der Mutter, wo er sich fassungslos seinem Schmerz überließ." (K2/174) Max Kalbeck, der dies berichtet, bezieht das Horntrio mit gefühlvollen Worten auf diese psychische Situation: "Wie hätte er seine stille, über den Wipfeln der friedenatmenden Wälder gelegene Lichtentaler Wohnung würdiger einweihen können als mit dem schwermutvollen Waldliede der Romantik, das in mächtigergreifenden und doch so gelinden Tönen von den Gefühlen des Sohnes redet, der um seine Mutter trauert? Die eigentliche Totenklage tönt uns aus dem Adagio entgegen, das besonders mit 'mesto' bezeichnet ist." (K2/186) Er verweist auf dieselbe Bezeichnung im letzten Intermezzo op.118, ebenfalls in es-Moll, geschrieben fast 30 Jahre später, als Brahms begann, sein eigenes Ende ins Auge zu fassen. ("Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt" ).
Doch zurück in den Lichtentaler Wald bei Baden-Baden: seinem Freund Dietrich hat Brahms dort sogar die Stelle gezeigt, wo ihm das Anfangsthema des ersten Satzes in den Sinn gekommen war, eine unergründliche Melodie, die man beim ersten Hören leicht unterschätzt, zumal nicht das Horn beginnt: der Geiger tut recht daran, die Loslösung vom Grundton im allerersten Quintschritt mit einem wunderbar sanften Glissando zu intensivieren. "Jenes, wie ein im Walde verlaufenes Kind ängstlich hin und her irrende, klagende und rufende Hauptthema des ersten Satzes" (K2/188), - lässt es nicht auch die sanfte Wärme der schützenden Mutter spüren, und sei es - Mutter Natur? "Das Horn, und zwar das besonders als 'Waldhorn' (...) vorgeschriebene Naturhorn war neben Violoncell und Klavier das Hauptinstrument des Knaben Johannes, und er mag seiner Mutter oft ihre in dem Werk angeschlagenen oder angedeuteten Lieblingsmelodien vorgeblasen haben." (K2/186) Übrigens war es die Liebe zur Natur, die den jungen Brahms fast die Stimme gekostet hätte: "Während der helle Sopran des Knaben in den Tenor mutierte, zog er sich auf einem seiner nächtlichen Ausflüge, bei dem er - was er bis in sein Mannesalter hinein öfters tat - unter freiem Himmel im Walde schlief, einen heftigen Kehlkopfkatarrh zu, der die Entwicklung seiner Stimme hemmte und vereitelte." (K1/41)
Ein Volkslied, das ihm zeitlebens immer wieder durch den Kopf geht, und das ihn wohl mit seiner Mutter verbindet, lautet: Dort in den Weiden steht ein Haus, da schaut die Magd zum Fenster 'naus! Die Töne der ersten Zeile bilden einen Kreis der Geborgenheit, ein Nest oder auch das Urbild eines Hauses; früher schon erblühte daraus der herrliche Gesang des Trios op. 8, dann - in demselben Trio - das huschende Elfenthema des Scherzos. Im langsamen Satz des Horntrios verwandelt es sich in die Choralreminiszenz "Wer nur den lieben Gott lässt walten", im letzten Satz verbündet es sich mit dem Jagdkanon "Trara, das tönt wie Jagdgesang", aus allen Winkeln schmettert dieses Trara. Im Lichtentaler Giebelzimmer, genannt "die blaue Stube", konnte Brahms ausarbeiten, was er sich im Wald erdacht hatte; schon an seinem Geburtstag, dem 7. Mai, hatte er an Freund Levi geschrieben: "Ich kam, sah und nahm gleich das erste beste Logis." An Wiener Freunde: "Das Haus Lichtental Nr. 136 liegt auf einer Anhöhe, und von meinem Zimmer aus sehe ich nach drei Seiten auf die dunkel bewaldeten Berge, die schlängelnden Wege hinauf und hinab und die freundlichen Häuser." (K2/176) Was das Horn anging, wird gerade ihm, der sich einst nach der Romanfigur von E.T.A. Hoffmann "Kreisler jun." genannt hatte, ein schöner Gedanke in dessen "Betrachtungen über Musik" (1812) nicht entgangen sein, - man werde nämlich "bei gewissen Melodien der Hörner augenblicklich in Wald und Hain versetzt, welches wohl tiefer als darin liegt, daß das Horn das Instrument der im Walde hausenden Jäger ist." (Hoffmann S.140) Das Horn und der Markt
Und doch berichtete ihm Clara Schumann von ihrer Leipziger Aufführung des Stückes am 22. Dezember 1866: "...der Hornist war vortrefflich! Ich glaube er hat nicht einmal gekickst, und das will doch viel sagen; freilich hatte er Ventilhorn, zum Waldhorn war er nicht zu bringen." Die praktischen Vorteile des Ventilhorns gegenüber dem Naturhorn sind mit Händen (mit Fingern) zu greifen, aber selbst Wagner, der sich im Blick auf das Orchester für das Ventilhorn entschied, befürchtete, dass die "Erhaltung des echten Charakters des Hornes" in Gefahr sei. Theodor W. Adorno bemerkt dazu: "Wer je ein Naturhorn neben einem Ventilhorn hörte, dem kann es nicht fraglich sein, worin der von ihm beklagte 'echte Charakter' des Horns zu suchen sei. Es ist die Spur, den die Hervorbringung des Tons in diesem hinterlässt; ein Ton 'klingt wie ein Horn', solange man ihm anhört, dass er auf dem Horn gespielt ist: die Genesis samt der Gefahr des Kicksens, wandert in die Qualität des Phänomens ein. Diese Spur ist es, die dem Ventilhorn verloren geht." (Adorno S.97) Es ist mehr als eine Spur, man höre nur die abgründig dunklen Töne im Mittelteil des langsamen Satzes und die Schmettertöne des letzten Satzes: dieses Horn hat Unschuld und Wildheit, darin liegt die ganze Tiefe des Waldes; und die behende Violine, das allmächtige Klavier, - sprühen sie nicht vor Leben in dieser würzigen Luft? Nikolaus Harnoncourt sagte in einem Interview: "Es war früher in amerikanischen Orchestern so: Wenn da ein Hornist dreimal gekiekst hat, wurde er entlassen. Als die amerikanischen Orchester ihre ersten Europa-Tourneen machten, haben wir uns alle gewundert: Die Bläser kieksen ja gar nicht. Warum kieksen die nicht? Dafür gibt es klare technische Erklärungen: Man hat Sicherheitsinstrumente gebaut, die Rohrlängen verkürzt und Spielhilfen eingefügt. (...) Dabei gleichen sich die Instrumente auch klangfarblich einander immer mehr an. (...) Die Struktur des Klanges, sein Aufbau verändert sich. Der Geräuschanteil im Ton wird geringer. Das, was man Schmutz nennt. Und der Schmutz gehört doch zu dem Schönsten, was es in der Kunst gibt! Ein Klang, der vollkommen schmutzfrei wäre, ist doch hässlich!" (Berliner Zeitung 30.01.05) Das Wort Schmutz ist natürlich provokativ gemeint (im Wald gibt es keinen Schmutz!), Harnoncourt will die wahre Schönheit gegen eine Ästhetik der Sicherheit und Sauberkeit abgrenzen. Andererseits gab es auch für Brahms den Markt, der gesichert werden muss, und mit Rücksicht auf Käufer und Musiker steht nun doch auf der Partitur: "für Horn (oder Violoncello oder Viola); tatsächlich fordert der Komponist 20 Jahre nach der Vollendung des Trios das Wort "Waldhorn" nicht mehr ausdrücklich für das Titelblatt, sondern: "Mein Horn-Trio sollte eigentlich eine Bratschenstimme statt der Violoncellstimme mitkriegen! Mit Cello nämlich klingt es abscheulich, mit Bratsche ausgezeichnet! Das könnte ausdrücklich auf dem Titel stehen: Horn oder Bratsche!" (22. März 1884) Der Herausgeber der Eulenburg-Taschenpartitur muss Hobbycellist gewesen sein, - was in aller Welt konnte ihm sonst die Bemerkung eingeben haben: "Dieser Ansicht von Brahms muß aber durchaus widersprochen werden." Brahms wusste also nicht, was er sagte?
Wie angemessen also, für eine Kammermusik-Aufnahme wie die vorliegende gerade dieses lebendige Klangideal zu revitalisieren, freilich - ohne damit aufzutrumpfen.
Agathe - ein letzter Blick zurück
Immerhin waren die Agathe gewidmeten Sätze doch in den Wäldern von Lichtental entstanden, bei Baden-Baden, ganz in Claras Nähe.
Der Weg ist frei zu einem Finale, das mit Elfenzauber beginnt und unvermittelt ein hochgemutes Tranquillo-Thema folgen lässt. Seine Essenz liegt offenbar in der expressiv gedehnten Modulation von G-dur nach D-dur, - der Leiteton Cis als Entscheidungsträger. Unmittelbar anschließend ein graziles Hin und Her modaler Akkorde, im böhmischen Ton, einen Moment auf der Stelle tanzend; dann ein kreiselndes, taumelndes neues Thema, von exaltierten Sechzehntelläufen eskortiert, zweimaliger energischer Einspruch (unisono Cis! C!) und Erstaunen: leere Saiten, A-E, - ein letzter Blick auf Agathe? Nein, alles noch einmal, und noch einmal und auf ein Ende zu: Animato, mit den Motiven des hochgemuten Themas, unter fortwährendem Geleitschutz der Elfen... Alles miteinander vermittelt. Lichterspiel auf dem Waldboden. Transformation Abgesehen vom Geschäft, - er fand offensichtlich die Substanz des Werkes gut verstanden und adäquat transformiert. Die Substanz und die bloßgelegten Strukturen. Und was bedeuten sie für uns, nachdem wir ausgiebig genug über Agathe, die Liebe, über die Mutter, das Horn und den Tod nachgedacht haben?
Die Musik lässt am Ende jedes Einzelschicksal vergessen, selbst das des Komponisten und unser eigenes, - alles aufgehoben im doppelten Sinne des Wortes. Eingegangen in die Strukturen, aufgelöst, transformiert, kondensiert. Etwa so wie der Wald im Klang des Waldhornes. Eingedenk der ungeduldigen Worte Paul Valérys: "Die Natur gibt es nicht!", Worte, die heute leicht interpretierbar sind vor dem Hintergrund der philosophischen Einsichten des Konstruktivismus: Demnach ist die Welt insgesamt unleugbar eine mentale Konstruktion des Menschen. Wir aber leben nach wie vor in den als real erfahrenen Lebenssituationen - ebenso wie Brahms -, auch kleinlichen und überflüssigen, und daran mag es liegen, dass ihre Transformation in einzigartige Strukturen uns so glücklich macht, glücklicher als jede Selbsterfahrung. "Und jener Mensch, der ich gewesen, |
Literatur
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Dieser Text wurde 2005 für das Booklet folgender CD-Aufnahme geschrieben: TACET CD 147 Brahms / Klaviertrios Vol.3 Abegg Trio: Ulrich Beetz, Violine; Birgit Erichson, Violoncello; Gerrit Zitterbart, Hammerflügel und Stefan Katte, Waldhorn. Trio für Klavier, Violine und Waldhorn Es-Dur op. 40 Trio nach dem Sextett G-Dur op. 36, für Klavier, Violine und Violoncello bearbeitet von Theodor Kirchner Details Aus den Rezensionen:
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