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Die Nähe des fremden Tons
mit Musik von Bach bis Baktrien
Ein Vortrag von Jan Reichow
als Einleitung eines Festivals im Forum der Bundeskunsthalle
Sonntag, 5. September 2010

Klang - Wege / 
Musikalische Impressionen entlang der Alexanderroute / 
Rahmenprogramm zur Ausstellung Afghanistan. Gerettete Schätze / 
Die Sammlung des Nationalmuseums in Kabul / 
Forum der Bundeskunsthalle Bonn /  Sonntag, 5. September 2010

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"Die Nähe des fremden Tons" -

die meisten, die heute den Konzerttag hier erleben, werden bereits eine ungefähre Vorstellung haben von dem, was sie erwartet. Irakische Musik, iranische, afghanische Musik und mittelalterliche Musik, die mit der Alexander-Route zu tun hat, allerdings in umgekehrter Richtung von Osten nach Westen führend, und schließlich: südindische Musik kombiniert mit Jazzklavieristik. Es ist ein ständiges Spiel mit Nähe und Ferne, Fremdheit und Vertrautheit, manches ist Ihnen bekannt und wird Ihnen unvermittelt wieder fremd, manches ist Ihnen von vornherein fremder als es sein müsste.
Mir ist es so ergangen mit der folgenden Melodie, die allerdings nicht direkt mit der heutigen Thematik zu tun hat: aber sie ist mir in einer norwegischen Version beinah fremder geworden als - sagen wir - in irgendeiner arabischen Version, die es leider nicht gibt. Wahrscheinlich werden Sie die Melodie sofort identifizieren, trotzdem werde ich, damit Sie ganz sicher sind, einfach das Original hineinsingen. Keine ideale Methode, aber - es ist ja für einen guten Zweck.

1) Norwegischer Choral Violin-Version 0:48
hinein: "Von Gott will ich nicht lassen"
Choral 'Von Gott will ich nicht lassen', scan Jan Reichow

Also: eine Abwandlung des protestantischen Chorals; solche gleichmäßigen Melodien waren ja eigens für den Gemeindegesang geschaffen worden. Aber was ist in Norwegen aus der klaren Tonalität geworden, ist es Dur, ist es Moll? Oder hat sich hier ein etwas schwacher Geiger absichtlich jedem Schema verweigert?

2) Norwegischer Choral, gesungene Version 1:11

Ein schönes Zeugnis dafür, dass in der Volksmusik niemandem daran lag, ein Original zu konservieren, eine eindeutige, von wohlmeinenden Theologen künstlich hergestellte Choralversion nachzubeten, die zweifellos für den leiernden Gemeindegesang bestens geeignet war. Man berichtet, dass es in Skandinavien bei der Einführung der protestantischen Liturgie musikalische Differenzen gab; es soll sogar vorgekommen sein, dass man in die Dorfkirche einstieg, um die Orgel zu zerstören, diese Repräsentantin einer offiziell regulierten Musik und einer reglementierten Choralmelodie.
Etwas ganz anderes war es allerdings, was dem jungen Johann Sebastian Bach in Arnstadt vorgehalten wurde: offenbar ist ihm an der Orgel bisweilen die Phantasie durchgegangen, natürlich auf der Basis der allgemeingültigen Harmonielehre. Man kann ja sogar sagen, dass der Choral mit seinen harmonischen Kadenzen, Zeile für Zeile, die absolute Norm der damaligen Kunstmusik war; sie steckte hinter der Konstruktion der größten Kunstwerke, wie die Säulenkonstruktion in der Architektur einer Kirche.
Im Ratsprotokoll vom 21. Februar 1706 aber ist nachzulesen, was man dem 20jährigen Organisten vorwirft: er hat so viele "frembde Thone eingemischet, daß die Gemeinde darüber confundiret worden" sei. Er habe in Zukunft, "wann er ja einen tonum peregrinum" - also einen fremden Ton - "mit einbringen wolte, selbigen auch außzuhalthen, und nicht zu geschwinde auf etwas anderes zu fallen." ...einen Tonum peregrinum: d.h. der junge Mann ist manchmal in eine fremde Tonart gegangen, ohne sie genügend abzusichern, stattdessen hat er noch einmal weitermoduliert, oder sogar eine völlig unpassende Tonart eingestreut.
20 Jahre später macht er folgendes: innerhalb einer großangelegten musikalischen Komposition für Chor und Orchester, seinem "Magnificat", schreibt er einen mustergültigen Satz, ein polyphones dreistimmiges Gewebe, und darüber hinaus gibt er den lauschenden Gemeindegliedern ein Zeichen, das sie alle verstehen. Für heutige Menschen ist es allerdings ein völlig fremdartiges Menetekel. Hören Sie die Aufnahme des Chorsatzes "Suscepit Israel puerum suum" (Er hilft seinem Knecht Israel), und achten Sie darin ganz besonders auf die kahle, monotone Bläserstimme, die sich darüber erhebt, als bedeute sie etwas. - Ich frage Sie: haben diese Töne etwas zu bedeuten?

3) Bach "Suscepit Israel" aus dem Magnificat (Tonus peregrinus) 1:58

Natürlich bedeutete das wirklich etwas, dieses melodische Signal: und es war vielleicht bei der Uraufführung in Leipzig das einzige Detail des Magnificats, das die Leipziger sofort verstanden: sie sangen es jeden Samstag selbst in der Kirche.
Es ist die Melodie eines gregorianischen Chorals, das Magnificat wurde darauf gesungen, und der Protestant Luther hat es auch für die evangelische Kirche abgesegnet. Und im Ernst, diese Melodie kannte jeder, man nannte sie "Tonus peregrinus". Dieser 9. Ton tanzte aus der Reihe, wenn man so sagen darf, neben den 8 offiziellen Kirchentonarten des Gegorianischen Gesanges: denn die zweite Zeile verlässt den Ton der ersten und wechselt in einen anderen, fremden, daher hieß das ganze Gebilde schon seit alters: Tonus peregrinus, "der fremde Ton" (man nannte ihn auch "Wanderton", "Pilgerton", gewandert wird von einem Bezugston zu einem anderen).
Aber das Verblüffendste war wohl niemandem bewusst, erst recht nicht den wackeren Leipziger Kirchgängern: wenn man den Wanderweg dieses Tonus peregrinus in seine historischen Tiefen nachvollzieht, gelangt man tatsächlich bis ins vorchristliche Palästina und findet notengetreue Entsprechungen in einigen jüdischen Psalmformeln: die Herkunft des Tonus Peregrinus aus der synagogalen Musik liegt "fast zwingend nahe". (Rhabanus Erbacher S.62). Das kann sogar Bach nicht gewusst haben, als er ihn beim Stichwort "Israel" in sein Magnificat einbezog.
Der jüdische Hintergrund ist also bei Bach völlig eliminiert, und selbst die mittelalterlich-gregorianische Ausstrahlung ist verschwunden: sie beruhte auf einstimmigen Melodiegängen mit einem bestimmten Grundton und eingelagerten Rezitationstönen. Bei Bach aber ist sie in das jetzt allgemeingültige harmonisch-polyphone Gewebe eingetaucht, damals erkannte man sie, heute kommt sie im Vespergottesdienst nicht mehr vor, jedenfalls kennt man sie nicht mehr, und ein beliebiger Grundtonwechsel ist dermaßen selbstverständlich, dass wir nur noch die merkwürdige Starrheit der Oboenstimme bemerken, sie wirkt erratisch und fremd, falls wir sie überhaupt wahrnehmen. Ein Tonus peregrinus zweiten Grades. Alles andere erscheint uns vertraut und selbstverständlich.
Man müsste sich noch 500 Jahre vor Bach oder in die Volksmusik seiner Zeit begeben, um eine völlig andere Selbstverständlichkeit vorzufinden: eine gültige Melodie, die zu ihrer vollen Entfaltung nichts anderes braucht als einen einzigen klaren Bezugspunkt, den invariablen Grundton. Was Sie hier hören, ist nicht nur der EINE Ton und die miteinander verbundenen anderen Töne, Sie hören absolut genau die Beziehung und den Spannungsgrad zwischen diesen wechselnden Tönen und dem ewigen Grundton. In der Tat: Der Grundton hat mit Ewigkeit zu tun!

4) Cantigas des Santa Maria (Bordun-Grundton) 1:35

Das ist die feierliche Form eines geistlichen Gesanges aus den Cantigas de Santa Maria im spanisch-maurischen Spanien, aber im Prinzip beherrscht dieser Bezugspunkt im 13. Jahrhundert die gesamte Musik, nicht nur des Mittelmeerraumes und des Orients. Und bis heute kann man gerade dort studieren, wie dieser Ton keineswegs nur den ruhenden Pol bezeichnet, sondern auch für das gerade Gegenteil sorgt, für Unruhe und Dynamik: der Aufschub der melodischen Rückkehr zum Grundton kann von außerordentlicher Wirkung sein, auch wenn er als Bordun gar nicht deutlich durchgehalten wird, wie hier in der historischen Aufnahme eines libanesischen Volkssängers.

5) Youssef Dahertage: 'Ataba (Quintrahmen) 1:04

Dieser spezielle Weg zum Grundton entspricht natürlich keiner Kirchentonart, aber es ist auch ein tonaler Modus, im arabischen Raum nennt man das Maqam, hier Maqam Bayati. Ein improvisatorischer Ausschnitt aus der sogenannten Ataba & Mijana-Melodie.
Ich habe den Sänger Youssef Dahertage, der Ende der 30er Jahre berühmt war, 1968 als alten, vergessenen Mann in einem Dorf des Libanongebirges wiedergefunden, er war mit seinen "fremden Tönen" und seinem intensiven, erregenden Gesangsstil für mich der Ausgangspunkt meiner Arbeit über arabische Musik.
Der schlechthin fremde Ton der arabischen Musik hat mit dem "Tonus peregrinus" überhaupt nichts zu tun: für das oberflächliche westliche Ohr klingt er unsauber, er liegt zwischen den bei uns gebräuchlichen Tönen, zwischen zwei Klaviertasten, etwa einen Viertelton entfernt von dem Ton, den wir an seiner Stelle erwarten würden. Wobei wohlgemerkt auch der von uns erwartete Ton in der arabischen Musik vorkommt, man verwendet aber dort einfach weit mehr "Ton-Arten" als unser Dur und Moll, und die um einen Viertelton von unseren Vorstellungen abweichenden Töne sind in der arabischen und auch in der iranischen Musik sozusagen das Salz in der Suppe.
In manchen Fällen ist ein solcher Ton, der uns verunsichert oder zu Fehlschlüssen verleitet, sogar der Grundton, der wiederum umgeben sein kann von "problematischen" Tönen. An eindrucksvollsten habe ich das erlebt, als ich in den 70er Jahren in Bonn - gar nicht weit von hier, im "Bonn-Center" -, zum erstenmal einem irakischen Ensemble begegnete, dem wunderbaren Djalghi Bagdadi, insbesondere einem Solo des Streichinstrumentes Djoze (das Sie ja gleich auch erleben werden), begleitet vom Hackbrett Santur, und zwar mit einem einzigen Ton, dem Grundton, der in unseren Ohren aber durchaus keinen "Grund" bieten will, sondern eher einen Raum mystischer Ungewissheit. Ich bedauere, dass wir hier nur für einen Augenblick eintauchen können in die Atmosphäre dieses wunderbaren Maqams.

6) Maqam Awj ("irrationales" Umfeld) 1:07
Es ist nur der Beginn einer Reise auf ein ganz fremdartiges Terrain, und man spürt, dass auch den Musikern daran liegt, mit Hilfe dieser außergewöhnlichen Tonfolgen eine ganz außergewöhnliche Atmosphäre zu schaffen. Es stehen jedoch nicht nur diese, sondern alle Nuancen zur Verfügung! Und es wäre falsch zu vermuten, dass man sich im Orient auf alles gefasst machen muss, nur nicht auf etwas, was uns musikalische Nähe suggeriert. Trotzdem wäre es auch übertrieben, sobald ein klarer Dur-Charakter auftaucht, gleich zu vermuten, dass dies ein europäischer Einschlag sein müsse oder womöglich mit Alexander dem Großen zu tun hat. Man ist heute vorsichtiger als in den 60er Jahren, als Alain Daniélou die erste Afghanistan-Schallplatte innerhalb der Unesco Collection herausbrachte: Sobald er einem Stück mit Dur-Charakter begegnete, tendierte er im Kommentar nach Europa: in Badakhshan, hoch in den Bergen des Pamir habe sich die älteste Musik Zentralasiens rein erhalten. Man könne dort einer Kunst begegnen, "die nichts mit der arabischen, der indischen oder der mongolischen Welt" zu tun habe, "sondern ein direkter Vorfahre der Musik der italienischen Renaissance zu sein" scheine. "Die Tonfolgen haben tatsächlich nichts Indo-Iranisches an sich." Sagt er; und an anderer Stelle: "Ihrem Geist und ihrer Tonart nach gehört diese Melodie aus der Gegend von Mazar-i-Sharif zur antiken griechischen Musik, deren Spur wir in ähnlicher Weise in den alten Flötenstücken Siziliens wiederbegegnen." Würden Sie sagen, dass der folgende kurze Ausschnitt, abgesehen vom Rhythmus, etwas typisch Indo-Iranisches an sich hat? Ist es nicht lupenreines F-dur?
7) Sharam Nazeri ("F-dur") 0:25

Es ist aber iranisch, und spätestens dort, wo der Sänger beginnt und mit der Verfremdung eines einzigen Tones arbeitet, würde man aufhören, von Dur oder Moll zu reden. Es ist halt - anders.

8) Sharam Nazeri (Terz-Bebung) 0:34

Und vollkommen klar wird es, sobald der Sänger aus dem uns geläufigen Tonvorrat der Dur-Tonleiter ausschert, wenn er die hohe Oktave ansteuert.

9) Sharam Nazeri (hohes Tetrachord) 0:43

Natürlich ist das keine Volksmusik, und die würde wahrscheinlich mit einem kleineren Tonvorrat und -umfang haushalten, der die Sache klarer oder allzuklar erscheinen lassen würde, aber Sie sehen, wie problematisch es ist, einfach nach dem Ohrenschein zu urteilen.
Trotzdem muss ich Ihnen noch ein paar Melodiebeispiele liefern, die Daniélous Eindruck unterstützen, zumindest was Nordafghanistan angeht: die folgenden Titel stammen von unserer Afghanistan-Expedition aus dem Jahr 1974. Ein kleiner Teil ist dokumentiert auf der World Network-CD. Alle Fotos von damals werden Sie übrigens neuerdings auf meiner Webseite finden.
Hören Sie nur dieses Lied aus dem Umkreis von Mazar-i-Sharif, aus Balkh, dem Kerngebiet des alten Baktriens:
Wenn Sie die Melodie unabhängig vom Timbre des Sängers und vom typischen Rhythmus betrachten, - mit einem anderen Text könnte man sie leicht in ein deutsches Volksliederbuch setzen. (Singen)

10) Afghanistan 1974 Tr. 7 Nur Mohammad 0:42

Vielleicht haben Sie noch etwas Befremdliches entdeckt: Wenn Sie sehr genau in die Begleitung hören, erkennen Sie die eigenartige melodische Parallelführung im Viertonabstand, also im Intervall der Quarte. So auch in der folgenden Ballade, die aus Usbekistan stammen soll; sie ist dem berühmten Liebespaar Laili und Madjnun gewidmet, das im gesamten iranischen Kulturkreis bekannt ist.

11) Afghanistan 1974 Tr. 6 Laili und Madjnun 0:37

Ich möchte Ihnen auch noch zwei Beispiele aus dem indischen Kulturraum vorspielen, die wir wohl unmittelbar in unsere Nähe rücken würden - obwohl sie eben nur den Dur-Aspekt innerhalb eines weiten Spektrums verschiedenster Skalen repräsentieren. Die Ali-Brothers aus Pakistan mit dem Raga Pahadi.

12) Raga Pahadi (Ali Brothers) 0:51

Und hier noch die Melodie eines berühmten südindischen Liedes auf den elefantenköpfigen Gott Ganesha, allerdings vom nordindischen Sitarspieler Imrat Khan interpretiert:

13) Imrat Khan singt "Vatapi ganapatim" 1:17

Wenn uns etwas nah oder fern erscheint, bedeutet dies zunächst einmal fast gar nichts über Verwandtschaft oder unmittelbaren Ausstausch. Einerseits befindet sich die westliche Musik seit der Durchsetzung der Mehrstimmigkeit auf einem anderen musikalischen Kontinent mit anderen atmosphärischen Verhältnissen. Und nicht die anderen sind fremd, sondern wir. Was aber durchaus nicht ausschließt, dass wir uns mit den anderen verständigen.
Vor ein paar Jahren machte mich der Indienkenner Peter Pannke darauf aufmerksam, dass die indische Lehre von den 8 Rasas (!) - den 8 verschiedenen Grund-Emotionen - bis in alle Einzelheiten übereinstimmt mit der Darstellung des barocken Musikgelehrten Athanasius Kircher, mit der sogenannten Affektenlehre. Er hat sie 1650 in seiner "Musurgia Universalis" detailliert beschrieben, die "acht emotionalen Grunderfahrungen, die sich beim Hören von Musik einstellen" - das sind etwa: Liebe, Freude, Mitgefühl, Schrecken, Kühnheit, Furcht, Abscheu, Erstaunen -, offenbar ohne zu wissen, dass sie bereits zu Beginn unserer Zeitrechnung im "Natya Shastra" des Bharata definiert wurden (man weiß nicht genau wann: zwischen 200 vor und 200 nach Christus). Und sowohl bei Bharata als auch bei Kircher finde sich dann noch als zusätzlicher 9. Affekt oder Rasa die remissio, so das lateinische Wort, im Indischen "Shanta" genannt, das ist der "innere Frieden".
Was ich damals noch nicht wusste, ist folgendes: die Sache ist damit noch lange nicht zuende gedacht und geforscht. Denn wenn man diese Auflistung in Europa zurückverfolgt, landet man letztlich in der Antike, bei Aristoteles, dem Großmeister der griechischen Philosophie, der auch für das gesamte europäische Mittelalter eine überragende Rolle spielte, und wäre damit um 350 vor Christus, etwa 150 Jahre vor der möglichen Ära des Bharata gelandet; die Frage entsteht, was wusste man in Indien von Griechenland, was wusste Griechenland von Indien? Sie wissen, dass Aristoteles ein Schüler des Platon und dieser ein Schüler des Sokrates war, und dass Aristoteles zeitweise der Lehrer des jungen Alexander war, später Alexander der Große genannt. Das heißt allerdings nicht, dass dieser ein großer Philosoph[iekenne]r war, er war ein Macher, aber man weiß, dass er sich vehement für die Verbindung der griechischen Kultur mit dem Orient eingesetzt hat; die Ergebnisse kann man gerade hier im Haus, in der wunderbaren Ausstellung "Gerettete Schätze", studieren.
Wir wissen natürlich auch, dass die Wiege der frühen griechischen Philosophie nicht in Athen, sondern in Kleinasien gestanden hat, etwa zu der Zeit, als Buddha in Indien über grundlegende Fragen des Seins nachdachte, ebenso Laotse in China. Man spricht von der Achsenzeit, einer Menschheitswende.

Der Buddhismus spielt heute in Indien keine Rolle mehr, aber die entscheidende Ausprägung in Gestalt des Mahayana, des "Großen Fahrzeugs", hat er dort um 200 nach Beginn unserer Zeitrechnung bekommen, und zwar durch Nagarjuna.
Es war eine Blütezeit der indischen Philosophie, und mit Sicherheit gab es auch hier unzählige Wechselbeziehungen zwischen indischer und griechischer Kultur: von Nagarjuna selbst weiß man, dass er - wenn auch beheimatet in Mittelindien, heute Maharashtra - "sich zeitweise auch im nordwestlichen, seit Alexanders Feldzug gräzisierten Teil Indiens aufhielt", Stichwort "Gandhara", (im heutigen Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan): Und Nagarjuna bezieht sich nicht nur auf den zeitgenössischen Philosophen Sextus Empiricus, sondern auch direkt und kritisch auf Lehrsätze des Aristoteles. (Geldsetzer S. 97) Ich folge hier den Forschungen von Lutz Geldsetzer, dessen neue Übersetzung des für den Buddhismus grundlegenden Buches "Die Lehre von der Mitte" in diesem Jahr erschienen ist.
Damit ist dem indischen Denken keineswegs die Originalität abgesprochen, aber eine bloße Parallelität ist auch nicht sehr wahrscheinlich, es ist nur ein weiterer Hinweis, dass die philosophischen und religiösen Wege, ebenso wie die Klang-Wege, und ebenso wie das Konglomerat aller Wege, die Seiden-Straße, nicht den Verlauf von Einbahnstraßen hatten. Ein interessanter Fall ist die Legende von Baarlam und Josaphat, eine späte christliche Assimilierung des Phänomens Buddha, und davon werden wir dann ja im Laufe des Tages ausführlicher hören.
Wir wissen nicht, wie die Musik der griechischen Antike wirklich geklungen hat, ebensowenig wie die Musik in der großen Zeit Baktriens oder Gandharas. Ganz sicher hat es kein Akkordeon gegeben wie das, was Sie gleich hören werden, aber sicher ist auch, dass diese Musik der altgriechischen näher ist als alles was bei uns an Rekonstruktionen versucht worden ist.
Und die Nähe des fremden Tons kann uns vielleicht nirgendwo so suggestiv aufgehen wie in dieser Aufnahme. Sie stammt aus einem Gebiet Afghanistans, wo die Luft bereits dünn wird. Ich spreche von der Provinz Badakhshan im Pamirgebirge. Dort gibt es einen ungeheuren Klagegesang, genannt "Dargilik", dessen Charakteristik zunächst der Umgang mit dem Grundton ist: der Grundton ist eben der Ton, von dem alle Gedanken ausgehen und um den sie letztlich kreisen: wie um einen geliebten Menschen, um die Heimat, um einen religiösen Inhalt, um Gott. Beim Dargilik-Gesang spürt man vom ersten Moment an, dass eine Spannung besteht, indem die beiden Töne unmittelbar unter und über dem Grundton intoniert werden. Der Grundton bleibt nicht aus, aber der Charakter der Klage, des Entbehrens ist zunächst vorgegeben, der Ton seiner Gefährdung ist angeschlagen.

14) Anfang Dargilik 1:17

Wenn sich dann durch den Einsatz der Rhythmusinstrumente eine emotionale Stabilisierung ergibt und alles in eine Bahn gelenkt ist, dann geschieht etwas Unglaubliches: in nächster Nähe des Grundtons wird der "fremde Ton" inszeniert, man könnte ihn fast als eine Bedrohung deuten, eine Verunsicherung jedenfalls, oder auch als Andeutung einer anderen, seelisch erschütternden Sphäre.

15) Dargilik ("fremder Ton") 1:50

Meine Damen und Herren, was ich Ihnen hier nahelegen möchte, ist nicht ein "musikwissenschaftliches" Hören, sondern ein sinnliches Wahrnehmen tonaler Ereignisse. In diesem Sinne hier noch zum Abschluss ein indischer Raga, den ich unglaublich finde: der Grundton, der Mittelpunkt des Universums und des musikalischen Denkens, wird gewissermaßen selbst zum "fremden" Ton. Aber in einer Stimmung des Friedens und der Meditation.

16) Dhruba Ghosh Tr. 3 Raga Marwa 2:00

(Über die Musik gesprochen: In der sanften Tanpura-Begleitung wird die Grundtonebene angegeben, fast unauffällig: h-c-c-C, h-c-c-C etc. Das Streichinstrument Sarangi aber scheint von dieser Ebene nichts zu wissen: es spielt eine andere, in sich stimmige Tonreihe, die zu dem Grundton in einer dissonanten Beziehung steht (wie "A-dur" zu C), und es entsteht eine Spannung, die zugleich eine fast zärtlicher Stimmung zelebriert - Raga Marwa.)

Natürlich hat das etwas zu bedeuten: die Diskrepanz zwischen den tonalen Ebenen gleicht der des Zwielichts am Abend und soll zu Momenten völligen Gleichgewichts führen.
Das wäre doch auch eine schöne Ausgangssituation für diesen ganzen Tag, nicht wahr? Ich hoffe, Sie nehmen etwas davon mit in die Veranstaltungen des heutigen Tages und vielleicht sogar bis nach Haus.

© Dr.Jan Reichow 2010

MUSIK



  • 1) Norwegischer Choral, Fragment der Violin-Version 0:48
    "Nu er en dag fremliden" Abendgesang aus Nordmøre
    (nach Gudlaug und Malmfrid Leirdal) instrumental
    CD des Ensembles Chateau Neuf Spelemannslag, Oslo
    FUEC 718 (Feuer & Eis) 1996 Fuldastr. 10 D-47443 Moers

  • 2) Norwegischer Choral, Vokal-Version 1:11
    "Nu er en dag fremliden" Abendgesang aus Nordmøre
    (nach Gudlaug und Malmfrid Leirdal)
    Gesang: Eline Monrad Vistven
    CD s. 1)

  • 3) Bach "Suscepit Israel" 1:58
    Johann Sebastian Bach: Magnificat in D, BWV 243 Satz 10
    English Baroque Soloists & Monteverdi Choir
    John Eliot Gardiner
    CD Philips 411 458-2

  • 4) Cantigas (Bordun-Grundton) 1:35
    "Quen bõa dona querrá" (CSM 160) Sequentia, Ensemble für Musik des Mittelalters Leitung.: Barbara Thornton & Benjamin Bagby
    CD VOX IBERICA III El Sabio Gesänge für König Afonso X. (den Gelehrten) von Kastilien und León (1221-1284)
    Deutsche Harmonia Mundi 05472-77173 WDR BMG Music 1992

  • 5) Youssef Dahertage: 'Ataba (Quintrahmen) 1:04
    Sänger = Yûsuf al-Tâj: Tr.19 CD II "Chouf" Liban "'atâba wa-mîjânâ"
    LES VOIX DU MONDE Une Anthologie des Expressions Vocales
    Le Chant du Monde CMX 374 1010.12

  • 6) Maqam Awj, Djoze-Solo mit Santurbegleitung 1:07
    Aus einer WDR-Aufnahme mit dem Sänger
    Salah Abdul Ghafur und dem Ensemble Djalghi Bagdadi, Bonn 12. Juli 1977

  • 7) Sharam Nazeri 0:25
    "Del miravar ze dastam" (I have lost my heart)
    Sharam Nazeri & Ensemble Dastan
    CD Hommage à Nusrat Fateh Ali Khan (CD 1 Tr. 5)
    Network 29.921 Frankfurt /Main 1998

  • 8) Sharam Nazeri CD s. 7) 0:34

  • 9) Sharam Nazeri CD s. 7) 0:43

  • 10) Afghanistan Tr. 7 Nur Mohammad 0:42
    "My beloved walks in the garden" (Song Mazar Region) Ausführende:
    Nur Mohammad, Gesang & Ghichak, und Ensemble Baba Queran aus Khulm
    WDR Aufnahme 1974
    CD Afghanistan Traditional Musicians Network 56.986

  • 11) Afghanistan Tr. 6 Laili und Madjnun 0:37
    "Laili und Madjnun", usbekische Ballade, Ausführender: Sadullah Kunduzi und Begleitung.
    WDR Aufnahme 1974
    CD World Network 28 Afghanistan Traditional Musicians Network 56.986

  • 12) Raga Pahadi (Ali Brothers) 0:44
    "Thumri in Raga Pahadi" Ausführende: Nazakat & Salamat Ali Khan und Ensemble
    WDR Aufnahme 1970
    CD World Network 20 Pakistan Raga Darbari Kanarra Nazakat & Salamat Ali Khan Network 55.837

  • 13) Vatapi-Sendung Imrat Khan 1:17
    "Raga Hamsadhwani" Konzert 1974 München Musikhochschule
    LP Deutsche Harmonia Mundi 151-99 805/06

  • 14) Anfang Dargilik 1:17
    "Dargilik" (und "Lala'ik") aus Badakhshan
    Ausführende: Zaragul Iskandarova, Gesang, und Ensemble.
    CD Badakhshan
    Mystical poetry and songs from the Isma'ilis of the Pamir Mountains
    (Gabrielle van den Berg, Jan van Belle 1992)
    PAN 2024CD

  • 15) Dargilik CD s. 14) 1:50

  • 16) Dhruba Ghosh Tr. 3 Raga Marwa 2:00
    "Raga Marwa" mit Dhruba Ghosh, Sarangi
    CD Bowing Sounds from Dawn to Moonlight
    fonti musicali (1994) Traditions du Monde fmd 202



LITERATUR



  • Rhabanus Erbacher: Tonus Peregrinus
    Aus der Geschichte eines Psalmtons
    Münsterschwarzach 1971

  • Jan Reichow: Die Entfaltung eines Melodiemodells im Genus Sikah
    Regensburg 1971

  • (Herausgeber:) Lutz Geldsetzer
    Nagarjuna: Die Lehre von der Mitte
    Aus dem chinesischen Text des Kumarajiva
    übersetzt und mit einem Kommentar herausgegeben von L.G.
    Hamburg 2010

© Dr.Jan Reichow 2010



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