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JR mit BS beim WM-Vorrundenspiel Schweden-Paraguay, Berliner Olympiastadtion 15. Juni 2006 (217K)
JR dank und mit Freund Berthold
im Berliner Olympiastadion
FIFA-Ticket JR für das WM-Vorrundenspiel Schweden-Paraguay, Berliner Olympiastadion 15. Juni 2006 (201K)
Die Macht des Publikums (Gunter Gebauer S. 49 ff, Quellenangabe s.u.)

Im Fußballspiel ist die Bühne kein Raum, in den man hineinschaut wie im Theater. Das Spielfeld ist ein öffentlicher Platz, gebaut für die Leidenschaften, die hier in grellem Licht ausgelebt werden. Die Seiten des Platzes sind die Grenzen dieser Welt. An ihnen sitzen die Zuschauer. Sie bilden die Kanten der Welt, an denen das Spiel aufhört, aber auch immer wieder erneuert wird, wenn der Ball über sie hinausfliegt. Über sie hinaus geht kein Spiel; es gibt nichts jenseits des Platzes. Das Feld ist eine ganze Welt: Paradies und Hölle zugleich.
Der Blick der Zuschauer fällt von oben auf das Feld; ihre Einbildungskraft lässt sie eine unendliche Welt sehen, die das ganze Erdenrund ausfüllt. Über dem Feld der Schlacht wölbt sich der Sternenhimmel. Dem Publikum fällt die Rolle zu, die Gestirne in eine günstige Stellung zu bringen. Für sie gibt es im Himmel keine Götter, sondern nur beeinflussbare Sternkonstellationen. Auf der Tribüne werden die Zuschauer zu Beteiligten. Noch wichtiger sind jedoch die Plätze in den Kurven, wo die Zuschauer nicht sitzen, sondern auf eigenen Füßen stehen wollen. Sie sind "das Volk", das dynamische Element, das die Ereignisse hervortreibt. "Volk" ist hier eine Kraft, die geschichtliche Ereignisse aus sich hervorbringt, eine ferne Erinnerung an Wallensteins Lager.
Von allen Beteiligten, die ein Fußballspiel ausmachen, ist das Publikum in der Kurve am weitesten vom bürgerlichen Geschmack entfernt. Es bildet den Gegensatz zu den disziplinierten, unparteilich urteilenden Besuchern von Konzerten und Theatern. Nicht Kennerschaft und feierliche Stimmung unterscheidet es vom Publikum der Hochkultur - über beides verfügt es in beträchtlichem Maße -, sondern seine sich in körperlichen Akten äußernde Begeisterung und hemmungslose Bereitschaft, das Spiel zu einem Ereignis zu machen. Seine Kraft und Lebendigkeit fallen unter das Verdikt des schlechten Benehmens. Man wirft ihm vor, eine Masse zu bilden: launisch, "weibisch", unberechenbar zu sein. Wenn dies tatsächlich die Kennzeichen einer Masse sind, muss für das Fußballpublikum eine andere Kategorie gefunden werden. In seiner Parteilichkeit ist dieses zwar hemmungslos ungerecht, aber von ihm geht eine stabile, verlässliche Kraft aus, ohne die es keine Helden und großen Momente des Fußballspiels geben würde. Sein Geschrei und seine Ungerechtigkeit sind nicht Merkmale eines wankelmütigen Pöbels, sondern bilden, so sehr sie auch die feinen Vorstellungen von Kultur verletzen, einen wichtigen Beitrag zur eigentümlichen Poesie des Fußballspiels.
Wie ein Fußballspiel sein wird, steht nicht von vornherein fest - es wird im Stadion hervorgebracht. Was sich in dieser Schüssel zusammenbraut, und was am Ende herauskommt, entsteht unter wesentlicher Beteiligung der Zuschauer. Lautstärke ist eine Weise, mit der sich die Tiefe und Intensität ihrer Wünsche mitteilen. In keiner Öffentlichkeit sind diese heftiger als in der des Fußballspiels. Die Zuschauer geben den Ton an und sind Resonanzboden der Ereignisse zugleich. Ohne Zuschauer fehlte dem Spiel die Farbe, die Ereignisse blieben ohne Widerhall. Als härteste Bestrafung einer Mannschaft gilt die Austragung des Spiels ohne Zuschauer. Erst das Publikum haucht dem Spiel sein Leben ein; es ist seine Seele. Die Zuschauer sind es auch, die Spiele und ihre Protagonisten in der Erinnerung festhalten: welche Spiele denkwürdig waren, welcher Spieler Unvergessliches geleistet hat und zu den Helden zu zählen ist. Die Ereignisse brauchen Zeugen, Leser, Erzähler, Zuhörer, Weitererzähler, so dass daraus eine Überlieferung entsteht. Durch die Zuschauer erhält ein Spiel Größe und Tiefe. Durch die Kraft ihres Wunsches entsteht mehr, als eine Chronik erfassen könnte.
Als erstes wünschen die Zuschauer ein großes Spiel, unvergessliche Aktionen, Spieler mit dem Format von Helden. Große Taten im Stadion entstehen in der Begeisterung, in der körperlichen Erregung, in einer aufgeladenen Atmosphäre, wie vor einem Gewitter, wenn die elektrische Ladung der Luft direkt auf die Athletenmuskeln einwirkt. In einer solchen erhitzten Luft überträgt sich die Kraft des Wünschens vom Publikum auf die Körper der eigenen Mannschaft: Möge ihre Mannschaft gestärkt und zu großen Taten beflügelt werden und die Gegner bis zum Starrkrampf gelähmt sein. Der Sport ist einer der wenigen Orte, wo die Kraft des Wünschens noch hilft, wo sich der Wunsch große Ereignisse und Helden erschafft.
Mit ihrem hemmungslosen Lärm machen die Zuschauer unerbittlich darauf aufmerksam, dass im Fußballspiel Schlachten geschlagen werden - eine Erinnerung, die einer friedliebenden Zeit eher peinlich ist, selbst wenn es sich um symbolische Kämpfe handelt. Wie bei der alten Schlachtenmusik springt die Kraft des Publikums auf die ermatteten Körper der Spieler über, stärkt den Rücken und gibt ihnen den zweiten Atem. Dem Gegner wird eine Hölle bereitet, ihm wird die Moral gebrochen. Er wird starr vor Schreck angesichts der höhnischen und drohenden Haltung des Publikums, mit dem die Spieler plötzlich konfrontiert werden, wenn sie aus der Kabine durch den dunklen Gang in das gleißende Licht und das Geheul im Stadioninneren laufen.
Kein Handelnder wird Held aus eigener Kraft - die Qualität des Heldischen entsteht erst durch die Unterstützung ihrer Parteigänger. Auch die Helden Homers wurden durch die Begeisterung all jener groß, die von ihnen hörten und ihre Taten vor ihrem inneren Auge wieder lebendig machten. Im stillen Lesen kann man ihnen eine imaginäre Bildlichkeit verleihen. Aber in früher Zeit erhielten sie durch den Vortrag des Sängers und die Begeisterung einer Gemeinde beteiligter Zuhörer lebendige Gegenwart: Sie wurden wieder-erzeugt in einer lauten, körperlichen Parteinahme, in einer unkultivierten Kultur der Beteiligung. Die großen Mythengestalten sind selten in Theatern und Konzertsälen geschaffen worden, viel eher jenseits des bürgerlichen Geschmackskanons. Nach Nietzsches großer Intuition war der Untergrund der antiken Tragödie nicht die vollendete Form, sondern deren Gegenteil, der dionysische Rausch.
Die Erzeugung von Heroen in den Stadien kann uns heute eine Andeutung davon geben, wie die Sagenhelden der Antike entstanden sind. Nietzsche hatte das Feingefühl der Hochkultur verletzt, als er seine Vision ausdrückte, dass nicht apollinische Klarheit der Grundstoff der antiken Tragödie gewesen sei, sondern der dionysische Formverlust und der Rausch. (...)

Gunter Gebauer: Poetik des Fussballs (S. 49 - 52) Frankfurt am Main 2006
ISBN-13: 978-3-593-37946-3
ISBN-10: 3-593-37946-5

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ASSOZIATIONEN...


Daisetz T. Suzuki:
"Unbewegte Erkenntnis" am Erlebnis eines Stierkämpfers erläutert

Der Stierkampf besitzt offenbar viel Ähnlichkeit mit der japanischen Fechtkunst. Dieser Bericht ist voll von höchst beachtenswerten Andeutungen, ich führe daher hier einen Teil der Anmerkung des Übersetzers und JUAN BELMONTES eigene Erzählung über den Stierkampf an, der ihm den Ruhm des besten Kämpfers seiner Tage verschafft hat. Bei diesem Kampf erlebte er jenen Gemütszustand, von dem in TAKUANS Brief an YAGYU TAJIMA-NO-KAMI die Rede war. Hätte der spanische Held eine buddhistische Schulung genossen, so hätte er sicher einen Einblick in die Unbewegte Erkenntnis gewonnen.

Die Anmerkung des Übersetzers lautet zu einem Teil folgendermaßen:
'Der Stierkampf ist nicht ein Sport, und man kann ihn nicht mit einem solchen vergleichen. Der Stierkampf, mag man ihn lieben oder nicht, mag man ihn billigen oder nicht, ist eine Kunst wie Malerei oder Musik und lässt sich nur als Kunst beurteilen. Seine Erregung ist geistiger Art und rührt an Tiefen, die man nur mit den Tiefen vergleichen kann, wie sie in einem Symphoniekonzert unter einem großen Kapellmeister in einem Menschen aufwühlt, der die Musik kennt, versteht und liebt.'

JUAN BELMONTE beschreibt seinen Gemütszustand im entscheidenden Augenblick seines Kampfs mit folgenden Worten:
'Sowie mein Stier die Arena betrat, ging ich ihm entgegen, und beim dritten Schritt hörte ich schon das Geschrei der Menge, die von den Plätzen aufgesprungen war. Was hatte ich denn getan? Auf einmal vergaß ich die Zuschauer, die andern Stierkämpfer, mich selber und sogar den Stier. Ich begann zu kämpfen, wie ich sooft schon des Nachts in den Hürden und auf der Weide für mich allein gekämpft, und mit solcher Genauigkeit, als hätte ich eine Zeichnung auf einer Wandtafel zu entwerfen.' (S. 57)

Quelle:
Daisetz Teitaro Suzuki: ZEN und die Kultur Japans
rde 66 Hamburg 1958

'Der Verlust der Würde' - Ausriss Kölner Stadtanzeiger Nr.158 vom 11.Juli 2006 - (489K)
Aus:
"Deep play": Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf von Clifford Geertz

(....)
Bei einem gut ausgerichteten Kampf mit hohem Einsatz, jener Art Kampf, die die Balinesen als "richtigen Hahnenkampf" ansehen, entsteht leicht der Eindruck einer entfesselten Menge, das Gefühl, dass unter all diesen winkenden, schreienden, stoßenden und übereinandersteigenden Menschen in jedem Moment das reine Chaos ausbrechen könnte. Dieser Eindruck wird durch die angespannte Stille nur erhöht, die ganz plötzlich eintritt, als habe jemand den Strom abgestellt, wenn der Schlitzgong ertönt, die Hähne niedergesetzt werden und der Kampf beginnt. (S. 225)

Der Hahnenkampf erreicht es, verschiedene Erfahrungen des Alltags in einem Brennpunkt zu bündeln, von denen er sich als "nur ein Spiel" absetzt und an die er als "mehr als Spiel" wieder anschließt. So schafft er etwas, das man vielleicht nicht typisches oder allgemeines, sondern eher paradigmatisches menschliches Ereignis nennen könnte, denn es sagt nicht so sehr, was geschieht, sondern eher, was in etwa geschehen würde, wenn das Leben - was ja nicht der Fall ist - Kunst wäre und so eingeschränkt wie bei Macbeth und David Copperfield von Gefühlen bestimmt sein könnte.
So ermöglicht es der endlose, endlos neuinszenierte Hahnenkampf dem Balinesen, eine Dimension seiner Subjektivität zu entdecken - ähnlich wie bei uns die wiederholte Lektüre von Macbeth. (S. 256) (...)
Doch hier begegnen wir wieder einer jener Paradoxien, wie sie - gleich gemalten Gefühlen und folgenlos bleibenden Handlungen - in der Ästhetik immer wieder auftauchen: Da diese Subjektivität nicht eigentlich existiert, bevor sie organisiert wird, erschaffen und erhalten Kunstformen genau diese Subjektivität, die sie vermeintlich nur entfalten. Streichquartette, Stilleben und Hahnenkämpfe sind nicht einfach Widerschein einer vorweg existierenden Empfindung, die analog wiedergegeben wird; sie sind für die Hervorbringung und Erhaltung solcher Empfindungen konstitutiv. (folgt Verweis auf Dickens)

Anmerkung (Geertz):
All diese Nebeneinanderstellungen der großen Werte abendländischer Kultur mit niedrigen orientalischen Dingen werden sicher einige Ästhetiker in Verwirrung stürzen, genau wie frühere Bemühungen von seiten der Ethnologie, Christentum und Totemismus in einem Atemzug zu nennen, Verwirrung bei einigen Theologen hervorrief. (...) Jedenfalls ist der Versuch, den Kunstbegriff von seinen geographischen Beschränkungen zu befreien, nur ein Teil der allgemeinen ethnologischen Verschwörung, alle wichtigen sozialen Begriffe - Heirat, Religion, Recht, Rationalität - zu entprovinzialisieren. Auch wenn dies eine Bedrohung für ästhetische Theorien darstellt, die bestimmt Kunstwerke als einer soziologischen Untersuchung unzugänglich erachten, wird die Überzeugung, für die sich Robert Graves nach eigener Darstellung bei seiner Abschlussprüfung in Cambridge einen Tadel einholte, davon nicht bedroht: dass nämlich manche Gedichte besser als andere sind. (S. 257)

Quelle:
Clifford Geertz: Dichte Beschreibung / Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme
Frankfurt am Main 1983
ISBN 3-518-06745-1
darin S. 202 - 260 "Deep play": Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf

Gunter Gebauer, Poetik des Fussballs, Campus Verlag 2006, cover (397K)



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