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Gedanken zur heutigen Situation des technischen Klavierunter- richtes und seine natürlichen Grundlagen.

von Artur Reichow

[geschrieben etwa 1954, übertragen von JR 12/2009]


Artur Reichow: Gedanken zur heutigen Situation des technischen Klavierunterrichtes und seine natürlichen Grundlagen (Typoskript c.1954, übertragen von JR 12/2009), Faksimile der Titelseite




Die frühesten Sammel- und Schulwerke für Tasteninstrumente (so Konrad Paumanns "Fundamentum organisandi" um 1450 und Girolamo Dirutas "Il Transsilvano" um 1600) enthalten vorwiegend Kompositionsanweisungen und Bereitstellungen von geeignetem Spielmaterial. Und noch Ph.E.Bachs epochemachender "Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen" (1753) muss nicht als eine Anleitung zur klavieristischen Technik, sondern vielmehr als Einführung in das musikalische Wissen und Denken der Zeit, eine Art Aufführungspraxis und Musiklehre der Vorklassik angesprochen werden. Erst die erhöhten technischen Anforderungen der klassischen Klaviermusik und in weiterem Umfange die sich stetig steigernden Ansprüche an das pianistische Können im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter des Virtuosen, zwingen zu eingehender Beschäftigung mit den Fragen der Entwicklung der Technik. Denn die Leistungen bedeutender Virtuosen, wie Lißt (sic), Rubinstein u.a. werden nun das Ideal der folgenden Generationen, die ihnen mit Erfolg nacheifern. Das Violinkonzert von Brahms etwa, von manchen bedeutenden Spielern anfänglich als unausführbar, als Konzert "gegen die Violine" bezeichnet, wird in der folgenden Zeit des durchschnittlich wachsenden technischen Könnens von einer ganzen Anzahl der Nachwuchsgeiger vollendet interpretiert. (Eine weitere Steigerung der technischen Anforderungen lässt sich leicht in der Gegenwart auf allen Gebieten des Instrumentalen nachweisen.)
Die Frage der manuellen Schulung des Instrumentalisten tritt Ende des 19. Jahrhunderts daher in der Vordergrund und ruft vor allem auf dem Gebiet der Klaviertechnik Pädagogen und Physiologen auf den Plan, die durch grundlegende, in einem reichhaltigen Schrifttum zugängliche Forschungen Aufschluss geben über das Funktionieren des Spielapparates. Es sei nur hingewiesen auf die Untersuchungen von Steinhausen, Tetzel, Deppe-Caland und Breithaupt, sowie auf viele kleinere Abhandlungen und (heute vergriffene) methodische Einführungen in das Gebiet der Klaviertechnik, deren Titel leicht im Musiklexikon zu ergründen sind.
Nach dem zweiten Weltkrieg ist verständlicherweise dies Schrifttum ins Stocken geraten, und so mag ein Hinweis auf einige Hauptfragen der Klavierpädagogik wohl weitere Resonanz finden. Auch scheint es, da das Gebiet des Technischen nach den Erfahrungen bei mehreren internationalen Wettbewerben vermutlich nicht eine Domäne des Deutschen ist, als bedürften sie deshalb besonderer Beachtung und Pflege. Wenn auch die anschliessenden Gedankengänge zu einem grossen Teil zugeschnitten sind auf die Situation bei lernenden jugendlichen Spielern, so liegt doch der Zusammenhang nahe mit den reifen Leistungen der Absolventen unserer Hochschulen.

Was mich zur Beschäftigung mit den folgenden Fragen anregte, waren vor allem Beobachtungen klavierspielender Jugendlicher, bei denen sich häufig Gelegenheit zu mancherlei negativen Feststellungen ergab. Der Grundfehler aber schien mir die technische Beziehungslosigkeit vieler Spieler zu sein, gegen die in erster Linie wirksam eingeschritten werden sollte. Die technische Arbeit schon beim elementaren Unterricht muss mehr in den Vordergrund gerückt werden und den Schüler zur Bewusstheit seiner Spielfunktionen bringen. Die Fortschrittlichkeit mancher neuer Klavierschulen sei durchaus anerkannt, aber entscheidend für den Erfolg des Unterrichtes sind nicht sie, sondern die Solidität des handwerklichen Arbeitens und damit in engstem Zusammenhang die Lehrerpersönlichkeit, die eine wirklich gründliche technische Fundierung zu vermitteln vermag. Die Musikalität des Kindes entwickelt sich im allgemeinen beim eigenen Spiel und den mancherlei Einflüssen bei Konzerten, Funk, Schallplatte und anderem in freiem Wachstum ohne die Problematik, die gerade bei der handwerklichen Arbeit sooft zu Hemmungen, Stillstand und Mutlosigkeit führt. Aber erst, wenn jemand technisch über der Sache steht, kann er sich bekanntlich ohne leistungmindernde Einflüsse der musikalischen Gestaltung annehmen. Deshalb müssen Selbstbeobachtung und Erkenntnis der Bewegungsvorgänge unablässig entwickelt werden. Solange ein 15- oder 17Jähriger, ja sogar ein Musikhochschüler nicht weiss, wie er zu arbeiten hat, bleibt stundenlanges geistloses Üben unergiebig und führt nur zu Kraftvergeudung und Mutlosigkeit. Fragt man einen solchen Jungen, wie er spielen, wie eine Taste niederdrücken oder einen Akkord anschlagen wolle, versteht er oft nicht einmal den Sinn der Frage. Er spielt jahrelang seine Aufgaben gewissenhaft, aber technisch unbewusst, und wundert sich, wenn die Fortschritte ausbleiben. Der Lehrer aber lässt vielfach aus Bequemlichkeit oder auch aus Unvermögen den Dingen ihren Lauf. Gelegentlich kommen infolge manueller Geschicklichkeit des Schülers dabei instinkthaft trotzdem passable Leistungen zustande, wenn man Glück hat. Unter weniger günstigen Voraussetzungen aber verkümmert manche gute Begabung.
Gerade bei 14- bis 17Jährigen ist es Zeit, das technisch bewusste Spiel zu begründen, das sie bei etwaigem Studium an der Hochschule befähigt zum selbständigen Arbeiten. Denn nicht alle Hochschullehrer sind willens, sich allzuviel mit diesen Dingen, die vorausgesetzt werden, zu befassen. Das Hauptgewicht der Hochschulausbildung liegt ja auch bereits auf einer anderen Ebene. Auch ergibt sich der ideale Fall, die Vereinigung der Fähigkeiten des ausübenden Künstlers mit denen des Pädagogen, also technischer Analyse und Lehrbegabung, nicht allzu oft. Dieser Umstand wird kaum aus der Welt zu schaffen sein und braucht [sich] nicht unbedingt als schwerwiegender Nachteil auszuwirken. Um so wichtiger aber ist deshalb die Erziehung des jungen Spielers zu ständiger Selbstbeobachtung und gleichzeitiger Nutzanwendung seiner technischen Erkenntnisse. Ein Arbeiten in solchem Sinne wird für den Schüler anfänglich ebenso ungewohnt und schwierig sein, wie es unbequem für den Lehrer ist, in jeder Stunde statt des für ihn einfachen Vorspielenlassens der aufgegebenen Stücke sich eine gewisse Zeit mit technischen Dingen zu plagen. Wenn aber erst erwachsendes Interesse die auf mangelndem Einblick beruhende Abneigung diesen für viele geheimnisvollen Dingen gegenüber ablöst, wird ihr Studium zu einer Quelle der Befriedigung an gelöster, schöner Bewegung. Denn schön auch für das Auge des Betrachters muss jeder physiologisch richtige, gelockerte technischer Vorgang sein. Dabei entspricht im übrigen alles Tätige und auf Geschicklichkeit beruhende Bewegte der Mentalität des Jugendlichen weitgehend und lässt sich in diesem Sinne ausnutzen. Nochmals sei betont: Es muss erreicht werden, den Lernenden technisch einsichtig und selbständig zu machen. Dann wird seinem strebenden Bemühen der Erfolg nicht immer wieder aus unerfindlichen Ursachen versagt bleiben. Umfang und Art dieser Schulung müssen natürlich weitgehend der Altersstufe angepasst werden. Das zu entscheiden ist Sache eines sensibel reagierenden Pädagogen, der die Grundlegung der Technik in jedem Falle der Individualität des Schülers anzupassen hat. Er muss aus überlegener Erkenntnis heraus entscheiden, wie die verschiedenen Hemmungen zu beseitigen sind und wie eine einmal erreichte Entspannung zu erhalten bzw. wieder herzustellen ist. Es reicht nicht aus, von Zeit zu Zeit einmal "lockerer" in den Unterrichtsgang einzuwerfen und dann alles beim Alten zu lassen. Zwar steht nämlich hinter dieser Ermahnung das Wissen um die Unzulänglichkeit der Leistung, ebenso aber auch oft die Ratlosigkeit, wie der Schaden zu reparieren sei. Am wenigsten weiss da meist der Lehrer zu helfen, dem selber einmal alles Technische intuitiv zugefallen ist. Das bessere Rüstzeug zum Lehren bringt zweifellos mit, wer sich selbst in bewusster Arbeit mit den Ursachen eigener Hemmungen während seiner Entwicklung oft und gründlich auseinanderzusetzen hatte. Dieser Lehrertyp wird nicht nur den Hochbegabten, sondern auch das mittlere Talent bis zum Erreichbaren fördern.

Im folgenden soll nun versucht werden, einige Hinweise für das natürliche technische Spiel vom rein physiologischen Blickpunkt her zu geben. Was man in der Klaviertechnik der letzten fünfzig Jahre als neu ansah, war vor allem die Rolle des Armes im Spielmechanismus, dessen Funktion gegenüber der "Fingertechnik" in den Vordergrund trat und diese zeitweise völlig auch schalten wollte. Es lag in dieser Auffassung eine Reaktion gegen die Ära des fast ausschliesslichen Fingerdrills, der in der Rückschau für Ältere durchaus keine erfreuliche Erinnerung darstellt. Denn er führte oft zu einem steifen Handgelenk und zum Verlust aller Natürlichkeit des Spieles. Heute hat sich allgemein mit Recht die Auffassung durchgesetzt, dass in einer Kombination von Arm- und zumeist aktivem Fingerspiel die technische Synthese zu erblicken sei, die allein zu gleichermassen plastischer wie gelöster Beherrschung des Instrumentes führen kann.
Es könnte hier die Frage auftauchen, wie denn aber die bedeutenden Virtuosen des 19. Jahrhunderts, etwa Lißt (sic), Rubinstein, Bülow u.a. erstehen konnten ohne Kenntnis der Prinzipien der heutigen Technik. Wie waren, noch weiter zurückgehend, Schulen so anerkannter Lehrer wie Clementi und Czerny zu ihrer Bedeutung gekommen, um nur wenige Namen anzuführen? Die Beantwortung dieser Frage scheint mir nicht so schwierig zu sein, wie man zunächst annehmen könnte: Es gibt ja effektiv doch nur eine Art des natürlichen Spieles, nämlich die auf Entspannung und Ausnutzung des Gewichtes beruhende. Diese, differierend nur durch subjektiv körperliche und geistige Besonderheiten, wird lediglich von verschiedenen Zielpunkten aus angestrebt. Beginnt man heute damit, zunächst Arm und Handgelenk zur Lockerheit zu erziehen, und erst, nachdem das gesichert ist, die Aktivität der Finger mit einzubeziehen, so stand für die Vertreter der alten Fingertechnik lediglich die Pflege des Fingerspiels von Anbeginn im Vordergrund. Sicherlich falsch aber dürfte die Annahme sein, dass diese bedeutenden Meister des Klaviers nicht der Freiheit des Handgelenkes wie der Lockerheit des ganzen Spielapparates bewusste Aufmerksamkeit gewidmet hätten. Möglich allerdings mag es sein, dass bei wohl im allgemeinen geringerem Wissen um die Rolle der "grossen Hebel" mehr Klavierstudierende nicht zur Ausschöpfung ihrer Fähigkeiten kamen, als heute bei gründlicheren physiologischen und technischen Fähigkeiten nötig zu sein braucht. Unabhängig davon aber haben sich zu allen Zeiten Klaviergenies intuitiv die Freiheit ihrer Spielfunktionen erworben.
Diese Freiheit der aller Hemmungen ledigen Spielfunktionen, selbst über den eigentlichen Spielapparat hinaus auf den ganzen Körper bezogen, gilt unser technisches Bemühen. Lockerheit heißt das Zauberwort, nach dessen Verwirklichung jeder Instrumentalist und Sänger strebt, solange er an sich arbeitet, ohne sie oft leider zu erreichen. Lockerheit, auf den Arm bezogen, heisst Befreiung seines Gewichtes zwecks erheblicher Mitwirkung bei dem Kräftespiel des Anschlages. Umgekehrt demnach bedeutet Gewichtsspiel Befreiung und gelöste Funktion des Armes. "Gewichtsspiel" ist also nicht etwa eine Methode unter anderen, sondern das ungehemmte, frei Funktionieren des Spielapparates, ein naturgegebenes Phänomen, nicht erreichbar nur für den, der sich allzuweit vom Natürlichen entfernt hat. Die "Methoden" lediglich, die zu diesem Ziele führen, mögen bis zu einem gewissen Grade voneinander abweichen.
Es ist wohl zu unterscheiden zwischen dem intellektuellen Verstehen und dem praktischen Begreifen des Gewichtsspieles, das sich oft erst nach vielen immer wiederholten Versuchen körperlich erleben und in Besitz nehmen lässt. (?) (Erfahrungsblitz). Wem diese Funktion nach Belieben jederzeit zur Verfügung steht bis zur automatischen Einschaltung, hat den zu allen Zeiten in gleicher Weise gültigen Grund gelegt zu einer entwicklungsfähigen Spielweise. Meist ist es nicht leicht, jemand vom Werte eines für ihn Neuartigen zu überzeugen, der sich viele Jahre hindurch kaum mit technischen Gedankengängen befasst hat und dabei zu gewissen Leistungen herangewachsen ist. Es will ihm nicht einleuchten, dass sein Weg nicht auf der richtigen Basis verläuft und ihm enge Grenzen gesetzt sind, die ihn zu zeitraubenden Umwegen zwingen werden, entweder zum völligen Wiederbeginn oder zur allmählichen Verschmelzung seiner Spielweise mit der natürlichen Technik. Dieses Beharrungsvermögen beim Gewohnten zu überwinden ist das entscheidende, aber auch ein schwieriges Unterfangen, weil es zunächst den Verlust der bisherigen Plattform voraussetzt.

Im Rahmen dieser Arbeit scheidet bei der Betrachtung des natürlichen Gewichtsspiels von vornherein alles Wissenschaftlich-Anatomische aus zugunsten rein zweckhafter, praktisch-empirischer Bildhaftigkeit. Der gesamte Bewegungsablauf beim Spiel vollzieht sich ja nach teleologischem Prinzip, d.h., zufolge zielgerichteter Vorstellungskraft und ständiger korrigierender Kontrolle. Denn es ist unmöglich, die in Frage kommenden Muskelgruppen direkt und bewusst zu innervieren. So wird auch der von der Natur nicht mit einem ungewöhnlichen Bewegungsinstinkt Begabte allmählich fähig, Fehler zu spüren und zu beseitigen.
Wie schon angedeutet, kann es nur eine Art des richtigen, natürlichen Spieles geben, die nämlich bewusst die Schwer- und Schwungkraft ökonomisch in den Dienst des Bewegungsablaufes stellt. Es ist also nicht richtig, in diesem Zusammenhang von "moderner" Technik zu sprechen. Denn so hat man früher gespielt und wird es auch in alle Zukunft tun müssen. Auch das Gehen des Menschen ist nur dann richtig, wenn ohne Verkrampfung oder Künstelei ständig das Gewicht des Körpers nach vorn verlagert und von dem voranschreitenden Bein aufgenommen wird. Es ist eine völlig automatisierte Gewichtstechnik, bei der nur dann eine Kontrolle nötig ist, wenn eine etwa nervöse Entartung vorliegt oder eine besondere Bewusstheit erstrebt wird, wie beim Schauspieler oder Tänzer. Niemand wird also beim natürlichen Gang über richtig oder falsch diskutieren können, ebensowenig wie man in etwa 100 Jahren eine anderslautende These über richtiges Gehen aufstellen kann. Es ist naturgesetzlich so.
Das Klavierspiel unterliegt in einem wesentlichen Teil den gleichen physiologischen Bedingungen. Zwischen zwei "fixierten" Punkten, nämlich einerseits den Fingern der spielenden Hand, andrerseits (durchgestr.: dem Schulterblatt JR) der Wirbelsäule schwingt der entspannte Arm. Berücksichtigt man, dass auch das Schulterblatt, ja die Wirbelsäule nicht wirklich feststehen, sondern beweglich sind, ist ein wirklich statischer Punkt erst die Sitzgelegenheit. Sehen wir von dieser Konsequenz ab, so pendelt und schwingt, jede Bewegung fortpflanzend, der Arm frei zwischen Fingern und Wirbelsäule. Wie der Körper auf den Beinen, so ruhen Arm und Handgelenk auf den Fingern und verleihen durch ihr Gewicht dem Anschlag Volumen, ohne dass hierbei eine Kraftanstrengung der Finger nötig wäre. "Hand- und Armstand auf den Fingern" und "Finger gleich bewegliche Stützen des Armes" wären also die Vorstellungen, von denen her man immer wieder den Impuls für diese technische Phase empfangen sollte. Die Verlagerung des Gewichtes von einem Finger zum anderen bei einer Tonfolge entspricht bezüglich des Kräftespiels völlig dem Ablauf des Gehens oder Laufens. Dem Aufstampfen des Fußes etwa, bei dem nur das Eigengewicht den Körper vor einem Aufwärtsfedern bewahrt, gleichen ein gespielter Akzent oder ähnliche Kraftäußerungen und unterliegen denselben Schwerebedingungen.
Die Passivität des Armes muss jederzeit schlagartig innerviert werden können. Sie zu einem natürlichen, latenten Zustand werden zu lassen, soll Ziel und Ergebnis einer längere Zeit dauernden, eigentlich aber niemals aufhörenden Schulung sein. Dabei müssen wir auch des Atems als lösender und ordnender Kraft gedenken. Er spielt als hygienische Kraftquelle, oft eingeordnet in den Kultus, eine bedeutende Rolle im Leben zivilisierter, unbewusst und naturhaft dagegen bei primitiven Völkern. Bei den mannigfachen Arten künstlerischer Technik, so beim Sprechen, Singen, Dirigieren, bei Gymnastik und jeder Art von Instrumentalspiel erzeugt er jene elastisch freie, dabei konzentrierte körperlich-geistige Verfassung, aus der heraus ein ungehemmter Ablauf des Technisch-Künstlerischen erfolgen kann.

Wir beginnen im Unterricht mit der Entspannungsübung des hängenden Armes. Während wir den Arm des Schülers anheben, hat dieser die Weisung, dabei keinerlei Hilfe zu leisten, sondern ihn völlig entspannt zu lassen. Wir erleben meist, dass der Schüler immer wieder helfen möchte, dass er Muskeln innerviert und oft nicht einmal bemerkt, dass damit der Arm schon aktiv geworden ist. Es dauert mehr oder weniger lange, bevor man das völlig befreite Gewicht des Armes, immerhin zwischen 5 und 8 Pfund, in Händen hält. An der oft unerwünscht hartnäckigen Mitarbeit des Schülers kann man den Grad der Spannungen im Arm erkennen. Hat man die absolute Passivität des Armes erreicht, ist das die erste Stufe der gegenseitigen Verständigung und die grundsätzliche Bereitschaft für die Bedingungen des Gewichtsspiels. Aber nur durch unzählige Wiederholungen der Innervation des passiven Armes gelangt man in das Stadium, in dem man ihn als natürlichen Zustand und jede Abweichung von dieser Norm als Störung des physiologischen Wohlbefindens erkennt.
Eine andere Übung kann unabhängig vom Klavier auf jeder Tischplatte ausgeführt werden: Legt man, am Tische sitzend, den Arm seiner Länge nach völlig müde und faul auf die Tischplatte, und hebt dann das Handgelenk auf den Fingerkuppen als Stützen an, so wird zwangsläufig das volle Gewicht des lockeren Armes in die Finger hineingeleitet. Am Klavier erweist sich eine ähnliche Übung als nützlich: Man führt die Arme aus dem Seithang auf die Klaviatur, das Gewicht in der Kuppe des Mittelfingers konzentrierend, das Handgelenk hochgestellt, und beginnt nun mit ihm in beiden Richtungen zu kreisen. Durch diese Bewegungen bleibt das Handgelenk locker, während sein Gewicht geradezu in die Mittelfingerkuppe hineinzielt. Streckt man dabei gelegentlich einmal den Arm völlig, so verstärkt sich das Gewichtsempfinden in der Fingerspitze um so mehr. Aus dem Stand des Mittelfingers heraus (Handgelenk hoch) ist es auch leicht möglich, durch seitliches Abkippen des Handgelenkes zunächst die Nachbarfinger und schliesslich die Außenfinger bei gleichbleibender Gewichtsintensität zum Anschlag zu bringen. Hierbei wird der Vergleich mit dem Gehen besonders deutlich. Eine entsprechende Wirkung, nämlich Lockerung des Armes und Gewichtsempfindung in den Fingerkuppen, ruft auch die Fünffingerübung (c - g) hervor, bei der besonderer Wert dem ausgiebigen Auf- und Abschwingen des Handgelenkes beizumessen ist. Je schneller das Tempo, deso kleiner müssen natürlich die Schwingungen werden, die schliesslich bei Passagen in die "Rollung" übergehen. Sobald das elementare Gefühl der Gewichtsenergie dem Schüler völlig bewusst und natürlich geworden ist, bedeutet dies eine konkrete Basis für die Verständigung zwischen Lehrer und Schüler einerseits, wie auch andrerseits für die selbständige Arbeit des Schülers. In kausalem Zusammenhang mit dem Gewichtsspiel steht die Freiheit des entspannten Armes. Daraus aber resultiert folgerichtig ein lockeres, schwingendes Handgelenk, das sich kaum jemals in Ruhe befindet. Ein steifes Handgelenk ruiniert unweigerlich den Spielapparat und setzt ihn innerhalb kürzester Frist matt. Kreisende oder schwingende Bewegungen aber schaffen vom Handgelenk aus an der Lockerung des Armes mit. Gleichzeitig suchen und finden sie dabei die Handstellung, die eine ungehinderte und ökonomische Fingertätigkeit möglich macht. Diese sollen in dem Maße in die technische Arbeit einbezogen werden, wie der passive Arm zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Denn ein Grundsatz des Fortschreitens ist: Zuerst die großen Funktionen sichern, dann erst die kleinen Hebel (Finger) ohne Gefahr für das Handgelenk mit einbeziehen. Es soll auch kein Fingeranschlag erfolgen, bei dem nicht das Handgelenk irgendwie horizontal oder vertikal beteiligt wäre. Oft empfiehlt sich hierbei die Hochstellung des Handgelenkes. Dadurch wird aus Finger plus Handrücken eine tragende Säule, in die das Gewicht das Armes gleichsam hineinfließt.
Die mehr oder weniger hohe Stellung des Handgelenkes wird im übrigen überwiegend geregelt durch die unterschiedliche Länge der Finger: Beim Mittelfinger als dem längsten wird die über ihm stehende Säule am höchsten sein müssen (Hochstellung), während beim Ring- und Zeigefinger die Mittelstellung und bei den Außenfingern die Tiefstellung angebracht ist, um die günstigste Position für die Induktion des Armgewichtes zu schaffen. Bei der Mittelstellung befinden sich Unterarm und Handrücken in einer Ebene. Im Sinne der Hochstellung des Handgelenkes wird auch der Begriff der "tropfenden Hand" deutlich werden. Bei der unmittelbaren, durch keinerlei störende Innervationen beeinträchtigten Gewichtsempfindung in der Fingerkuppe erfolgt eine derart umweglose Verwandlung von Gewicht in tönenden Anschlag, wie sie etwa in der Gesangstechnik beim idealen Kopfton dem Vordersitz des Tones in der Maske, der Vibration der Luft in Stirn- und Nasenhöhle entspricht.

Im Rahmen dieser Ausführungen ist es nicht möglich, noch weitere der zur Aneignung der Gewichtstechnik zur Verfügung stehenden Übungen anzudeuten, was einer ausführlicheren Arbeit über dieses Gebiet vorbehalten bleibt. Nur einige Bemerkungen über die willkürliche graduelle Beherrschung des Gewichtseinsatzes, und weitere Bewegungsformen sollen noch folgen. Die beim Anschlag der Taste eingeschaltete Energie muss natürlich feinster Differenzierung fähig sein. Eine A???kraft gegenüber dem passiv lastenden Arm muss wirksam werden allein schon, um diesen über die Tastatur zu heben, dann aber zur ständigen Regelung der Anschlagstärke. Dieser Antagonismus zwischen Schwerkraft des Armes und der hebenden Muskelgruppe (Aktivität) muss so fein abgestimmt sein, daß nur ein unbedingt nötiges Mindestmaß von Innervierungen erfolgt und ihre sofortige Ausschaltung zugunsten der Gewichtswirkung (Passivität) augenblicklich funktioniert.
Die Energie des Gewichtes wirkt sich natürlicherweise vertikal aus, seine Bewegungsformen sind Schwingungen unterschiedlicher Grösse von der ausladenden Wellenbewegung eines Adagiomelos bis zur konstanten, zur nivellierenden Druckwirkung abgeflachten Handgelenkelastizität, bei der dann allerdings zweckmäßig die "Rollung" mit eingeschaltet wird. Schwingung, Seitenschlag und Rollung sind die drei Bewegungstypen, auf die sich im wesentlichen alle Spielvorgänge zurückführen lassen und durch deren Hilfe die Fingertätigkeit ganz außerordentlich entlastet oder unterstützt wird. Auch bei ihnen darf aber die immanente Mitwirkung des Gewichts nicht fehlen.
Der "Seitenschlag" ermöglicht bei Entspannung des Armes und völliger Ausschaltung der Fingertätigkeit mit geringstem Energieaufwand Oktavbrechungen, Albertibässe und ähnliche Spielfiguren allein durch kleine, bewußt abgemessene Drehungen des Unter- und Oberarmes (Unterarmschlag). In Reinkultur läßt sich diese Funktion am leichtesten bei zunächst möglichst gestrecktem Arm erreichen. Mit bloßem Fingerspiel wären die genannten Spielfiguren nicht zu bewältigen, da die Kräfte nach kurzer Zeit erschöpft sein würden. Wesentlich ist dabei, dass der Arm gleichzeitig durch seine Gewichtseinwirkung die Tonstärke differenziert, während ein über das Mindestmaß des Erforderlichen hinausgehende Aktivierung sehr bald zum Erlahmen seiner Kraft führen würde.
Die "Rollung" ist eine Ausweitung der Schwingung in horizontaler Richtung, durch die eine Kreisung des Handgelenkes hervorgerufen wird. Der untere Halbkreis setzt mit dem Daumen an, der obere mit dem kleinen Finger. Dem Fingersatz des "Niederschlages" (unterer Halbkreis) 1-2, 1-2-3, 1-2-3-4 entspricht als Fortsetzung der "Aufschlag" (oberer Halbkreis) mit dem Fingersatz 3-2, 4-3-2, 5-4-3-2. Die kreisende Bewegung des Handgelenkes ermöglicht, ja fordert geradezu die Ausschaltung der Fingertätigkeit. So werden Akkordfigurationen, wie z.B. in Chopins Harfenetüde (ganze Kreise) und auch Tonleitern, Passagen und andere geeignete Figuren (halbe Kreise) "abgerollt". Die Funktion von Handwurzel und Fingern ist hierbei elementar vergleichbar einem Rade ohne Reifen. Die Finger entsprechen den Speichen, die Handwurzel der Achse. Dieser Vergleich ist so evident, daß er wohl manchem technisch Forschenden von sich aus kommen mag. Doch sei hier auf Kurt Schuberts Formulierung dieser verglichenen Funktion hingewiesen (Die Technik des Klavierspiels, Verlag Göschen).
Schwingungen und Rollungen üben durch die freien Bewegungen des Handgelenkes einen lösenden Einfluss auf den Armmechanismus aus. Arm und Handgelenk stehen in unmittelbarer Korrespondenz miteinander auf der gemeinsamen Ebene des Gewichtsspiels: Der passive Arm begünstigt die Freiheit des Handgelenks, während umgekehrt das schwingende oder kreisende Handgelenk den Arm vor Spannungen bewahrt und das Funktionieren des Gewichtsspiels wirksam erhält.
Langdauernde physische Leistungen, wie sie etwa Schuberts Wandererfantasie u.a. beanspruchen, sind ohne die aus der Gewichtstechnik sich ergebende Lockerheit überhaupt nicht zu bewältigen.
Daß ein besonderes Augenmerk gegenüber der Entspannung der beabsichtigten Spannung bei der Erzielung von Plastizität und Prägnanz zu gelten hat, braucht hier nur gestreift zu werden. Spannungen am rechten Ort sind wichtig und unumgänglich, aber sie müssen in Augenblicksschnelle wieder gelöst werden können. So müssen die Finger oft wie Stahlbänder fixiert und Akkordgriffe aus einem Guß mit augenblickhafter Festigkeit des Handgelenks beim Anschlag sein, damit der genau eingestellte Griff nicht zerbröckelt.
Das sind jedoch Feststellungen, die über das in dieser Arbeit gesteckte Ziel hinausgehen und einer umfassenden Behandlung der Klaviertechnik vorbehalten sein mögen. Die vorliegende Betrachtung soll ja nur Wert und Weg der natürlichen Gewichtstechnik aus rein physiologischer Schau heraus darzustellen versuchen.

Die Erreichung des Zieles, in dessen Dienst die hier niedergelegten Gedankengänge stehen, ist bedingt durch zähe, kontinuierliche, sehr aufmerksame und nie aufhörende Arbeit. Nicht jedem wird der Lohn seiner Mühe zuteil werden, schließlich wirklich "spielend" über die technische Arbeit hinauszuwachsen. Wer aber das Ziel erreicht, dem wird sein Spiel ein physiologisches Wohlgefühl bereiten, das ihn bei der musikalischen Gestaltung eine ästhetische Befriedigung gibt, wie sie von jeder gelösten Gymnastik auszugehen pflegt.




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